Die Überschrift verbindet den Psalm mit Davids Flucht vor Saul entweder in die Höhle bei Adullam (1 Sam 22,1-5) oder – eher noch – in der Oase En Gedi (1 Sam 24). "Vernichte nicht" ruft die Parallelszene 1 Sam 26 in Erinnerung, wo David zu Abischai, der den schlafenden Saul töten will, sagt: "Vernichte ihn nicht" (1 Sam 26,9). In 1 Sam 24 und 1 Sam 26 verzichtet David auf Gewalt. Das Element "Vernichte nicht" findet sich in Ps 57, 58, 59 und 75 und verbindet diese. "Inschrifts"-Psalmen sind Ps 16 und 56-60. Mit dem Vorgängerpsalm 56 teilt Ps 57 das nun verdoppelte "Gnade mir" (Ps 57,2; 58,2) und das dort verdoppelte "nachstellen" (56,2.3; 57,4)
1 Für den Musikmeister: Vernichte nicht! Von David eine Inschrift.
Als er auf der Flucht war vor Saul in der Höhle.
2 Gnade mir, Gott, gnade mir, denn bei dir hat sich geborgen meine Seele,
und im Schatten deiner Flügel will ich mich bergen bis vorübergeht das Verderben.
3 Ich muss rufen zu Gott, dem Höchsten, zu Gott (El),
der (die Sache) für mich zu Ende bringt:
4 Er sende vom Himmel und er rette mich – es höhnte, der mir nachstellt. Sela.
Es sende Gott seine Loyalität und seine Wahrheit.
5 Meine Seele ist inmitten von Löwen, hinlegen muss ich mich bei Raubtieren.
Menschenkinder! Ihre Zähne sind Speer und Pfeile, ihre Zunge ein scharfes Schwert.
6 Zeig erhaben dich über die Himmel, Gott, über der ganzen Erde sei deine Herrlichkeit!
"Gib Acht, David will dein Verderben"
Der Hilferuf in Ps 57,2 ist gegenüber Ps 56,2 dramatisch gesteigert: Zweimal ruft der Beter "gnade mir!" Die Gefahr ist gegenüber Ps 56 gewachsen. Der Beter drängt Gott zum Handeln, denn nur bei Gott kann er jetzt noch Zuflucht finden. Wie ein Küken unter den Flügeln der Henne sucht er Schutz bei Gott (Mt 23,37; Lk 13,34). Das mit "Seele" übersetzte Wort nefesch meint eigentlich den Hals, die Kehle, dann das Leben (als bedrohtes), das Selbst: Ich habe mich bei dir geborgen vor denen, die mir an den Hals wollen. In V 3 geht der Beter über in die Rede über Gott. Er muss zu Gott, dem Höchsten rufen, weil keine andere Instanz noch helfen kann. Nur Gott kann für den bedrohten Beter die Konfliktsituation zu Ende bringen. Der Beter erbittet sich Hilfe vom Himmel her. Derweil höhnte der, der ihm auflauert. So sagte Saul einst, als David in die Stadt Keïla geflüchtet war:
Gott hat ihn mir ausgeliefert. Er hat sich selbst gefangen, indem er in eine Stadt mit Tor und Riegel gegangen ist (1 Sam 23,7).
Im folgenden Kapitel 24 ist dann aber das genaue Gegenteil der Fall: Gott gibt Saul in Davids Hand. Die Hilfe, die Gott schicken soll, sind seine Loyalität und Wahrheit. Gott soll zum Beter stehen, der immer zu ihm stand. Er soll ihm die Treue wahren und der Wahrheit zum Sieg verhelfen. In 1 Sam 24,10-12 weist David vor Saul eine Unwahrheit zurück:
Warum hörst du auf die Worte von Leuten, die sagen: Gib Acht, David will dein Verderben. Doch heute kannst du mit eigenen Augen sehen, dass der Herr dich heute in der Höhle in meine Gewalt gegeben hat. Man hat mir gesagt, ich solle dich töten; aber ich habe dich geschont. Ich sagte: Ich will nicht die Hand an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des Herrn. Sieh her, mein Vater! Hier, der Zipfel deines Mantels ist in meiner Hand. Wenn ich einen Zipfel deines Mantels abgeschnitten und dich nicht getötet habe, dann kannst du erkennen und einsehen, dass ich weder Bosheit noch Aufruhr im Sinn habe und dass ich mich nicht gegen dich versündigt habe.
Der Beter schildert die Bedrohung, die ihn umgibt, mit einem Tierbild: Er kommt sich vor wie mitten unter Löwen. Ja, schlafen muss er sich legen wie unter Raubtieren (wörtlich: Verschlingenden). Er kann es aber auch vertrauensvoll, wenn Gott ihm seine Loyalität wahrt und ihn unter seine "Flügel" nimmt (V. 2). Die Löwen und Raubtiere sind niemand anders als die Menschen! Ihre Zähne und Zunge (die Redewerkzeuge) sind Mordwerkzeuge.
Ps 64,4: Sie schärfen ihre Zunge wie ein Schwert, schießen giftige Worte wie Pfeile.
Sir 28,18: Viele sind gefallen durch ein scharfes Schwert, noch mehr sind gefallen durch die Zunge.
"Zeig erhaben dich"
Angesichts der Bedrohung durch das rufmörderische Gerede der Mitmenschen wendet sich der Beter in V. 6 wieder im Du an Gott, er solle sich "über die Himmel" hin allen feindlichen Mächten überlegen zeigen, "Auf der ganzen Erde", die voller Raubtiere ist, soll Gott seine gewaltige Herrlichkeit zeigen und demonstrieren (Grundbedeutung des hebr. Wortes: Wucht).
V. 6 fungiert als Refrain, der in V. 12 wiederkehrt. Der Refrain in V. 6 und 12 ist fast ohne Variation. Mit V. 7 beginnt damit eine zweite Strophe. Die erste hatte aus Hilferuf (V. 2) und Bitte (V. 3-4) bestanden mit einer ersten Notschilderung (V. 5), die zweite setzt die Notschilderung fort (V. 7) und fügt ein Dankversprechen an (V. 8-11).
7 Ein Netz/Gitter haben sie bereitet für meine Schritte, man hat gebeugt meine Seele,
sie haben gegraben vor mir eine Grube, fielen mitten in sie hinein. Sela
8 Bereit ist mein Herz, Gott, bereit ist mein Herz, ich will singen und will spielen!
9 Wach auf, meine Herrlichkeit, wach auf, Standleier und Tragleier,
ich will wach machen das Morgenrot!
10 Ich will dich loben unter den Völkern, mein Herr, ich will dir spielen unter den Nationen.
11 Denn groß bis zu den Himmeln ist deine Loyalität und bis zu den Wolken deine Wahrheit.
12 Zeig erhaben dich über (die) Himmel, Gott, über der ganzen Erde sei deine Herrlichkeit!
V. 5 hatte die Gefahr in Tierbildern dargestellt, V. 7 wählt Bilder aus der Jagd auf Tiere: das Fangnetz oder die gitterartige Tretfalle (Böhler, Psalmen 1–50, HThKAT, 627) und die Fallgrube. Der Beter ist bereits gebeugt, sein Hals gekrümmt, aber bisher ist er nicht in die Grube gefallen, vielmehr sind offenbar die Angreifer zu Schaden gekommen, wie die altisraelitische Weisheit sagt:
Spr 26,27: Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Sir 27,26: Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, wer eine Schlinge legt, verfängt sich in ihr.
Angesichts des sich schon abzeichnenden Niedergangs der Feinde und weil der Beter sich unter Gottes Flügeln sicher geborgen weiß, verspricht er Gott in den V. 8-10 öffentlichen Dank für die erfahrene Rettung, sobald sie endgültig ist (vgl. V. 3). Die Feinde haben eine Falle "bereitet", um Schaden anzurichten (V. 7). Der Beter hat ein "bereites" Herz, Gott zu danken, sein Herz ist "fest" entschlossen (hebr. "bereit" = "festgestellt").
"Wach auf, meine Herrlichkeit!"
Das Herz ist im Hebräischen der Sitz des Verstandes und Willens. Der Beter erklärt seine Bereitschaft doppelt, wie er eingangs auch doppelt um Gnade gefleht hatte. Überhaupt liebt der Dichter die Wiederholung desselben Worts auf engstem Raum: "Gnade mir!" (V. 2), "bergen" (V. 2), "senden" (V. 4), "mein Herz ist bereit" (V. 8), "aufwachen" (V. 9), dazu "spielen" in V. 8 und 10 und "inmitten" in V. 5 und 7. Er will von Gottes Großtaten öffentlich einen rühmenden Text "singen", und sich dazu auf einem Saiteninstrument begleiten ("spielen"). Die Instrumente nennt V. 9. Zuerst aber spornt er sich selber an: "Wach auf, meine Herrlichkeit!" Das hebr. Wort kabod, hier wie meistens übersetzt mit "Herrlichkeit", heißt wörtlich: Gewicht, Wucht. In V. 6 und 12 meint der Dichter Gottes Herrlichkeit und Wucht. Hier in V. 9 meint er seine eigene Substanz, sein Wesen (Weinfeld, ThWAT IV 24f.). Er fordert sich mit seinem ganzen Wesen auf, wach zu sein. Sodann ruft er die Musikinstrumente, die seinen Gesang begleiten sollen, dazu auf. Das Morgenrot steht für das Erscheinen der Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20; vgl. Weish 5,6), für Gottes rettendes Eingreifen zum Gericht am Morgen (Ps 5,4).
In Israel wurde morgens Gericht gehalten (Jer 21,12). Schon im alten Babylon war der Sonnengott Schamasch der für die Gerechtigkeit zuständige Gott. V. 10 unterstreicht, dass der Beter für seinen Lobpreis nicht an eine kleine Öffentlichkeit gedacht hat: Völker und Nationen sollen es hören. Nur hier spricht er Gott an als Adonai, "mein Herr", den also, der als Weltenherr alles in der Hand hat (Mi 1,2), und der sich als des Beters Herr, als sein Schutzgott zeigen soll. V. 11 fasst knapp die Begründung für das versprochene Lob an: Wie schon V. 4 spricht auch V. 11 von "Himmeln", "Loyalität" und "Wahrheit". Gottes Treue und Wahrheitsliebe reichen bis zu den Himmeln, sind also unermesslich. Wie schon die erste Strophe mündet auch die zweite in V. 12 in den Appell an Gott, sich zu zeigen als Triumphator über die feindlichen Mächte.
Diese zweite Strophe (Ps 57,8-12) wird in Ps 108,2-6 wiederholt. Bei der Zusammenfügung von Psalmensammlungen zum jetzigen Psalter sollten so die Teile miteinander verschränkt werden.