Jan-Heiner Tück: Sie haben ab 1967 in Paris an der École normale supérieure de Paris studiert. Wie haben Sie das universitäre Milieu und die Studentenunruhen in Paris erlebt?
Jean-Robert Armogathe: Aus einer bescheidenen Familie im Süden Frankreichs stammend, war meine Zulassung zur École normale supérieure in Paris der entscheidendste Moment meines ganzen Lebens. Nachdem ich am Lycée Englisch und Russisch studiert hatte, entschied ich mich, Deutsch (und auch Arabisch) zu lernen.
Tück: Der Dichter Paul Celan war seit 1959 "Lecteur d’allemand" an der École normale supérieure an der Rue d’Ulm in Paris. Sie haben seinen Unterricht besucht. Wie haben Sie ihn als Dozenten für Deutsch erlebt? Welche Erinnerung verbinden Sie mit ihm?
Armogathe: Natürlich wandte ich mich an den Dozenten für Deutsch, Monsieur Paul Celan. Er empfahl mir ein Grammatikhandbuch und, zur Verbesserung der Aussprache, das Sprachlabor. Tatsächlich bestand sein Unterricht allerdings darin, von Rilke Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zu lesen. So arbeitete ich unermüdlich an der Verbesserung der Sprache bis Mai 1968. Ich habe die Studentenunruhen dann mitbekommen und war gezwungen, mit dem Personal über einen Hintereingang die Bibliothek der Sorbonne zu verlassen … und vor allem sehnte ich mich danach, in die Provinz zurückzukehren …
Tück: Wie war es dann, als Sie nach einem Intermezzo in der Provinz in die Hauptstadt zurückkehrten?
Armogathe: Im Herbst 1968 kehrte ich nach Paris zurück, um Monsieur Celans Kurs – weiterhin mit den Aufzeichnungen – zu besuchen. Wir waren nur sehr wenige; manchmal war ich sogar der einzige Zuhörer! Es gab einen Deutschprofessor, Bernard Lortholary, doch seine Kurse waren ausschließlich für die (seltenen) Studierenden reserviert, die sich auf die Agrégation im Fach Deutsch vorbereiteten. Schnell erkannte ich, dass Paul Celan wenig daran interessiert war, wie üblich den Wortschatz, die Grammatik und die korrekte Aussprache des Deutschen an seine Studenten zu vermitteln, und so warf ich einen Blick in den Katalog der Nationalbibliothek – dort fand ich zwar keine französischen Übersetzungen, aber immerhin ein paar wenige Ausgaben seiner Gedichte. Vor allem lernte ich den Übersetzer von Jean Cocteau und René Char kennen. Er sprach in seinen Kursen weder über seine Gedichte noch über sein Leben.
"Ich behielt das Bild eines tiefen, inneren Blicks von ihm in meinem Gedächtnis – ich wusste zunächst nichts von seiner Biografie, doch als er mir sagte, er sei ein rumänischer Jude, verstand ich ohne weitere Nachfragen sofort die Last der tragischen Jahre."
Tück: War unter den französischen Studenten damals ganz unbekannt, dass Paul Celan ein bedeutender Lyriker jüdischer Herkunft ist?
Armogathe: Zunächst, ja! Der Deutschkurs verwandelte sich dann im Studienjahr 1968-1969 in informelle Treffen in einer nahegelegenen Bar, in denen wir jeweils am Mittwochnachmittag über Fragen der Übersetzung – nämlich wie man Poesie überträgt – diskutierten. Da entdeckte ich, dass mein Deutschlehrer zugleich ein sprachsensibler Dichter war; er rezitierte langsam und versuchte mir zu vermitteln, was es zu verstehen galt … Ich behielt das Bild eines tiefen, inneren Blicks von ihm in meinem Gedächtnis – ich wusste zunächst nichts von seiner Biografie, doch als er mir sagte, er sei ein rumänischer Jude, verstand ich ohne weitere Nachfragen sofort die Last der tragischen Jahre.
Tück: Im Tagebuch Celans, aber auch in seinem Briefwechsel mit dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi, der 2005 posthum ediert wurde, kommen Sie namentlich vor. Am 23. April 1969 empfiehlt Celan Sie als Stipendiaten nach Berlin: "Wie ich jetzt dem … Lebenslauf ersehe, ist die Vielseitigkeit dieses Studenten noch erstaunlicher als ich es mir dachte, sie überschreitet in mehreren Punkten meine Kompetenz, aber ich zögere nicht, Ihnen Jean-Robert Armogathe auf das nachdrücklichste als Stipendiaten zu empfehlen." (Paul Celan – Peter Szondi, Briefwechsel, hg. von Christoph König, Frankfurt/M. 2005, 73) Ist aus diesem Projekt etwas geworden?
Armogathe: Die Stellen in Deutschland waren den Germanisten vorbehalten, und als Philosoph konnte ich mir eine solche Position nicht erhoffen. Da erzählte mir Paul Celan von seinem Freund Peter Szondi im Zusammenhang mit Übersetzungen von Paul Valéry. Szondi war damals in Frankreich völlig unbekannt (ich glaube, man begann erst in den Jahren 1975–1980, ihn zu übersetzen). Doch was Celan mir erzählte, weckte in mir den Wunsch, nach Berlin zu gehen. Das Vorhaben scheiterte – vermutlich hatte Pierre Bourdieu bereits einen seiner Studenten vorgeschlagen. Yvon Belaval, der meine Masterarbeit betreute, brachte mich daraufhin mit Werner Krauss in Kontakt, der mich sofort in die DDR einlud und mir eine bezahlte Stelle für Studenten anbot. Die Entsendung eines Normalien, also eines Anwärters auf den Staatsdienst, in ein Land, das keine diplomatischen Beziehungen zu Frankreich unterhielt, stellte ein administratives Problem dar, das der Direktor der École normale supérieure, Professor Robert Flacelière, aus dem Weg räumte, indem er mich "nach Berlin, in Deutschland", entsandte! So verbrachte ich das Jahr 1969–1970 als Lektor für Französisch an der Humboldt-Universität.
Tück: Haben Sie damals mitbekommen, dass Celan mit Heidegger in Kontakt stand und von ihm ein klärendes Wort über seine Verstrickung in die NS-Ideologie erhoffte?
Armogathe: Paul Celan sprach nie mit mir über Martin Heidegger, von dem ich – in Übersetzung – lediglich einen Essay über Hölderlin gelesen hatte (ich erwähnte es, doch Celan schwieg!). Ich hatte auch den Debatten um Heidegger als Rektor der Freiburger Universität und dessen Nazi-Engagement seinerzeit keine Beachtung geschenkt.
Tück: Mutmaßlich am 20. April 1970 hat sich Celan von der Pont Mirabeau in die Seine gestürzt. Sein Leichnam wurde am 1. Mai gefunden. Erinnern Sie sich noch, als Sie die Nachricht vom Tod Celans erreicht hat?
Armogathe: Es waren französische Freunde, die mir vom tragischen Ende Paul Celans berichteten. Als ich mich 24 Stunden in West-Berlin aufhalten durfte, besuchte ich Szondi, der damals an der Freien Universität lehrte. Er war fassungslos über den Tod seines Freundes. Nach meiner Rückkehr nach Frankreich, um die Agrégation (in klassischen Literaturfächern) abzulegen, kehrte ich als Gastdozent in der DDR an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zurück – ein wundervoller Aufenthalt in der kostbaren Bibliothek der Francke'schen Stiftungen. Im November 1971 erfuhr ich dann auch vom Tod Peter Szondis.
"Der Dichter der Todesfuge, von Tenebrae und Psalm ist in Frankreich für viele noch zu entdecken."
Tück: Sie haben sich später mit Studien über das 17. Jahrhundert einen Namen gemacht und über Descartes, Arnauld und Pascal gearbeitet. In der intellektuellen Welt Frankreichs hat das Werk Celans Spuren hinterlassen. Der Philosoph Jean-F. Lyotard hat in seinem Buch "Heidegger und die Juden" das Gedicht "Todtnauberg" herangezogen, um das hartnäckige Schweigen Heideggers über die Shoah als den eigentlichen "Fehl" seines Denkens aufzuweisen. Auch Jacques Derrida hat in seinem Buch "Schibboleth" der Dichtung Celans ein Denkmal gesetzt. Haben Sie diese Debatten verfolgt? Und welche Rolle spielt das Werk Celans, das den verstummten jüdischen Opfern eine Stimme geben will, in Frankreich heute?
Armogathe: Übersetzungen seiner Gedichtbände und diverse Veranstaltungen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Franzosen Paul Celan und sein Werk besser kennenlernen konnten – doch ist trotz des Einsatzes seines Freundes Jean Bollack und der von Ihnen erwähnten Spuren im Denken der postmodernen Philosophie die Vertrautheit mit seinem Werk eher gering und nur einem kleinen Kreis von Interessierten vorbehalten. Der Dichter der Todesfuge, von Tenebrae und Psalm ist in Frankreich für viele noch zu entdecken.