"Lebenssinn ist wie Gemüse"Ein Gespräch über Odo Marquard mit seinem Meisterschüler Franz Josef Wetz

Er kritisierte philosophische Absolutheitsansprüche und politische Erlösungstheorien – und empfahl, sich an bewährte Konventionen und Institutionen zu halten. Odo Marquard war einer der populärsten Denker der Nachkriegsjahrzehnte. Christian Schuler hat mit seinem einzigen Schüler gesprochen.

Gemüse
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Vor gut 10 Jahren starb der Philosoph Odo Marquard. Geboren wurde er 1928 in Stolp in Hinterpommern. Von den verschiedenen nationalsozialistischen Schulen und Internaten "solide ausgebildet einzig in Weltfremdheit", gehörte er nach 1945 zur "skeptischen Generation" (Helmut Schelsky). Zur Philosophie kam er nach dem Krieg durch verschiedene Zufälle ("wie die Wespe in die Colaflasche"), aber auch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit: "Man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist." Seine Skepsis ließ ihn äußerst kritisch auf alle philosophischen Absolutheitsansprüche und politischen Erlösungstheorien schauen. Er warnte vor einer "Absolutmachung des Menschen" und plädierte stattdessen für eine vorsichtige Bejahung des Gewordenen, des Zufälligen, der Routinen und Konventionen.

Seine Theorien skizzierte er in einer oft sehr zugänglichen, witzigen und espritreichen Sprache, oft in Aufsätzen und Reden, die sich an ein bunt zusammengesetztes Nicht-Fachpublikum wenden und die Titel tragen wie: "Abschied vom Prinzipiellen", "Lob des Polytheismus", "Zukunft braucht Herkunft". Nach anfänglicher Sympathie gehörte er ab 1968 zu den schärfsten Kritikern der marxistischen Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (und der späteren Diskurstheorie von Jürgen Habermas) sowie der Studentenbewegung, der er vorwarf, die Demokratie "zum nachträglichen Empörungsziel eines gegen die totalitäre Diktatur versäumten Aufstandes" gemacht zu haben. Da die Revolte gegen den Nationalsozialismus weitgehend ausgeblieben war, versuche nun (1968) eine neue Generation diese Revolte nachzuholen, indem sie die Demokratie zum neuen Faschismus erkläre.

Marquard lehrte von 1965 bis 1993 als Professor für Philosophie in Gießen, wo Franz Josef Wetz in den Achtzigerjahren sein Schüler wurde. Wetz, der auch als Herausgeber von Marquards Werken fungiert, ist überzeugt, dass Marquards politisches Denken letztlich in seiner Existenzphilosophie wurzelt, die in der Öffentlichkeit bisher viel zu wenig beachtet worden sei: der Mensch ist "zum Tode" – oder in Marquards Worten: "In der menschlichen Gesamtpopulation beträgt die Mortalität hundert Prozent." Diese Tatsache durchkreuze alle Bemühungen, die Geschichte zu einem paradiesischen Ort zu machen. Ein gutes Leben ist für Marquard dennoch möglich: in der Anerkennung des Provisorischen, in der Aussöhnung mit den "Üblichkeiten", im Aushalten der Widersprüche und in der (begrenzten) Freiheit, die daraus resultiert.

Christian Schuler: Herr Professor Wetz, sind sie sowas wie der Meisterschüler?

Franz Josef Wetz: Meisterschüler ist ein großes Wort, aber ja das ist wohl so. Ich bin wohl auch der einzige, den er als seinen Schüler bezeichnet hat. Es gibt natürlich viele, die bei ihm studiert haben. Aber er hat keine Schule gebildet. Eine Schule zu gründen, heißt ja, Schüler aufzubauen. Und Schüler aufzubauen, heißt, man muss sich auch kümmern. Schon als ich als Hilfskraft bei ihm anfing, sagte er: Hilfskräfte sind Kräfte, denen der Professor hilft, indem er ihnen dann Gutachten schreibt und sie fördert. Und das war ihm lästig. Er hatte auch zu der Zeit, als ich bei ihm studierte, keinen Assistenten, nur Hiwis. Seine beiden Assistenzstellen hatte er verschenkt. Später hat er dann für mich dem Ministerium in Wiesbaden tatsächlich noch eine zusätzliche Assistentenstelle abgerungen. Offenbar hatte er an mir einen Narren gefressen.

Der Existenzialist

Schuler: Es ist ja mit der Zeit anscheinend ein sehr vertrautes Verhältnis geworden. Wenn man das Interview liest, das Sie am Ende seines Lebens mit ihm geführt haben (abgedruckt in dem Buch "Endlichkeitsphilosophisches"), muss man sagen: er vertraut Ihnen sehr viele Zweifel, Selbstzweifel und persönlichen Kummer an.

Wetz: Ja, wir hatten bis zuletzt ein gutes Verhältnis. Er war ja am Ende sehr angeschlagen, konnte durch den Schlaganfall kaum noch reden, er sah schlecht, hörte schlecht und konnte sich nur noch sehr eingeschränkt bewegen. Er fühlte sich in seinen Körper eingesperrt, hat das aber mit sehr großer Ergebenheit und Geduld ertragen. Der Reclam-Verlag war damals an mich herangetreten. Es ging um die Herausgabe von Vorlesungen. Die meisten waren von ihm bereits in seinen Aufsätzen verarbeitet worden. Aber es gab eine Vorlesung, die noch nicht veröffentlicht worden war, das war die Vorlesung über die Existenzphilosophie. Unter dem Titel "Der Einzelne" ist sie dann herausgegeben worden. Das habe ich damals noch in die Wege geleitet. Und in diesen Vorlesungen wird klar, dass Marquard gar nicht so sehr ein politischer Philosoph war wie etwa Hermann Lübbe. Wenn er über Bürgerlichkeit, Traditionen und Herkunft spricht, dann auf dem Hintergrund weniger politischer als vielmehr existenzieller Ideen. Als diese Vorlesung über Existenzphilosophie herauskam, war das eine kleine Sensation, weil Marquard hier sehr systematisch über Sartre, Heidegger und Kierkegaard nachdenkt. Aber eigentlich war das kein neues Gesicht von Marquard, es war vielmehr sein verstecktes, sein wahres Gesicht.

"Die Menschen, so Marquard, sind weniger Zielstreber als Defektflüchter. Denn die Antriebskräfte, die uns im Leben nach vorn treiben, sind gar nicht so sehr die großen Ziele, sondern die Mängel, mit denen wir irgendwie umgehen und die wir ausgleichen müssen. Da hat sein Anti-Utopismus seinen Ursprung."

Schuler: Das Existenzialistische grundiert sozusagen alles, was er auch über Politik gesagt hat?

Wetz: Der Mensch als Defektflüchter, das war ja seine Definition. Da steckt nicht nur Arnold Gehlen drin, der Mensch als "Mängelwesen", sondern auch viel Heidegger, Heideggers Begriff der "Sorge" oder der "Geworfenheit" zum Beispiel. Die Menschen, so Marquard, sind weniger Zielstreber als Defektflüchter. Denn die Antriebskräfte, die uns im Leben nach vorn treiben, sind gar nicht so sehr die großen Ziele, sondern die Mängel, mit denen wir irgendwie umgehen und die wir ausgleichen müssen. Da hat sein Anti-Utopismus seinen Ursprung. Gegenüber großen Zielen war er immer skeptisch.

Der Bürgerliche

Schuler: Marquard gilt als leidenschaftlicher Befürworter der bürgerlichen Gesellschaft. Er beklagte und kritisierte seit den Siebzigerjahren die – wie er es nannte – "Bürgerlichkeitsverweigerung" der deutschen Intellektuellen. Was hieß "bürgerlich" für ihn?

Wetz: Das war erst einmal ganz klassisch gemeint. Im Politischen bedeutete es: freiheitliche Demokratie, rechtsstaatliche Ordnung, Gewaltenteilung, soziale Marktwirtschaft, breiter Mittelstand. Und im Gesellschaftlichen: Familie, Berufspflichten, Höflichkeit, mehrheitlich geteilte Überzeugungen, also so was wie bewährte Traditionen, Konventionen und Institutionen. Das entscheidende Wort, das hier zu gebrauchen wäre, ist die Mitte. Bürgerlichkeit hieß für Marquard immer: Extreme vermeiden.

Der Skeptiker

Schuler: Gleichzeitig gilt er als Skeptiker. Die Skepsis ist bei ihm ein zentraler Begriff. Unter einem Skeptiker stellt man sich vielleicht landläufig einen unbarmherzigen Kritiker vor, einen, der wenig gelten lässt und alles relativiert.

Wetz: Da wird oft der Hintersinn seines Skeptizismus verkannt. Er knüpft ja, wenn er den Begriff der Skepsis gebraucht, an die antike Skepsis an. Und die antike Skepsis geht davon aus, dass es gegensätzliche Theorien über die Welt gibt, die alle mehr oder weniger gleichwertig sind, so dass eine begründete Entscheidung, welche Theorie die wahre ist, nicht getroffen werden kann. Deswegen empfiehlt der klassische Skeptizismus, man solle im Theoretischen die Wahrheitssuche einstellen, weil sie ohnehin zu keinem befriedigenden Ziel führt. Aber im Praktischen klappt das nicht. Im konkreten Leben müssen wir Entscheidungen treffen. Und jetzt kommt die Pointe der antiken Skeptiker, an die Marquard anknüpft. In dem Falle, weil wir nicht entscheiden können, was das Richtige ist, empfehlen die antiken Skeptiker, Pyrrhon von Elis etwa, auf dem bisherigen Weg des Bewährten zu bleiben. Und in dem Sinne versteht auch Marquard die Skepsis. Sie bedeutet für ihn – ganz klassisch – Bewahrung des Bewährten.

Der Konservative

Schuler: Es gibt ja auch den Marquard-Satz "Die Beweislast hat stets der Veränderer". Das heißt, er war skeptischer Konservativer.  

Wetz: Das kann man so sagen. Seine Skepsis bezog sich etwa auf die Geschichtsphilosophie, auf alle philosophischen und politischen Totalentwürfe, auf jede Art von Letztbegründung. Das ist durchaus typisch für die Schule von Joachim Ritter, bei dem er nach dem Zweiten Weltkrieg in Münster studiert hatte, einer Denkrichtung, die allen prinzipiellen Überlegungen eine Abfuhr erteilt und eher lebenspraktische Überlegungen anstellt. Weil das Leben zu kurz ist, um das prinzipiell Richtige zu tun oder zu denken, ist es besser, an das Überlieferte, Übliche und Bewährte anzuknüpfen. Ich habe immer dieses Wort von einem seiner Kommilitonen im Kopf, Robert Spaemann, der ja auch aus der Ritter-Schule kam und einmal sagte: Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, kann nur Falsches wirklich neu sein. Also man vertraut auf das, was im Grunde schon da ist. Und deswegen hat die Beweislast für Marquard immer der Veränderer. Es ist hier im persönlichen Leben wie in einem Parlament. Wir stehen immer unter einem zeitlichen oder sachimmanenten Druck, uns zu entscheiden und zu handeln. Wir haben nicht die Zeit, alles grundsätzlich zu Ende zu diskutieren.

"Marquard hat natürlich anerkannt, dass auch Konventionen und Üblichkeiten sich verändern, aber er war der Überzeugung, dass dies nur langsam und behutsam geschehen sollte, wenn es Menschen nicht schaden soll."

Schuler: Marquard war ein sehr engagierter Verteidiger und Fürsprecher der Demokratie. Ich stelle mir gerade die zugegeben sehr hypothetische Frage: Angenommen, Marquard hätte in Zeiten der Monarchie gelebt, hätte er die Konventionen und Institutionen der Monarchie zur Bewahrung empfohlen? Vielleicht eine etwas hergeholte Frage …

Wetz: Nein, gar nicht. Marquard hat natürlich anerkannt, dass auch Konventionen und Üblichkeiten sich verändern, aber er war der Überzeugung, dass dies nur langsam und behutsam geschehen sollte, wenn es Menschen nicht schaden soll. Revolutionen waren ihm ein Gräuel, die führten für ihn immer ins Verhängnis. Trotzdem liegt hier auch für mich eine methodische Schwachstelle von Marquards Denken. Da brauchen wir gar nicht bis zur Monarchie zurückzugehen. Bis vor wenigen Jahren gehörten das Züchtigungsrecht in der Ehe, die Straffreiheit bei Vergewaltigung in der Ehe, die Unterdrückung und strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen zu den Üblichkeiten. Da merkt man deutlich, wo die Idee der Bewahrung des Bewährten an ihre Grenzen kommt. Ideen der Üblichkeiten helfen uns vermutlich auch bei der Beantwortung der ökologischen, bioethischen und globalen ökonomischen Herausforderungen nicht weiter. Da macht er es sich an meiner Stelle aus meiner Sicht manchmal zu leicht.

Der Anti-Utopist

Schuler: Hatte er Angst vor Utopien?

Wetz: Angst ist ein großes Wort. Ich würde eher sagen: Sie lagen außerhalb der Reichweite seines Denkens. Und jetzt komme ich auf den Anfang zurück, auf diesen eigentlichen Hintergrund seiner Philosophie. Alle politischen Fragen, die er stellt, sind existenziell motiviert. Seine erste Frage ist nicht, wie ist eine freiheitlich geordnete Gesellschaft möglich, sondern: Wie ist menschliches Leben überhaupt möglich? Das Leben ist mühsam, sorgenvoll und keineswegs selbstverständlich. Das war immer eine Formulierung von ihm: Wie kommen wir denn überhaupt davon? Also: wie können wir das Leben überhaupt überstehen? Und wenn wir es geschafft haben, davonzukommen, was machen wir dann damit? Das wäre dann die Sinnfrage. Also es ist alles aus einer existenziellen Perspektive gedacht, die er im Grunde verdeckt einerseits durch seinen Witz, seinen Esprit, durch den er ja sehr bekannt geworden ist, und andererseits durch seinen bürgerlichen Optimismus, sein großes Vertrauen in die bestehenden Institutionen, Konventionen und Traditionen. Im Grunde steckt hinter seinem bürgerlichen Optimismus ein tiefer existenzieller und anthropologischer Pessimismus.

"Ich habe einmal zu ihm gesagt: Herr Marquard, Sie sind auf der einen Seite ein ganz normaler Bourgeois, aber Sie sind zugleich ein Bohemien. Sie schaffen es, beides zusammenzubringen. Dann schmunzelte er und ließ das so stehen."

Schuler: Dass Marquard seinen bürgerlichen Skeptizismus, auch seinen Anti-Utopismus, mit seiner Biografie begründet, mit seiner Kindheit im NS-Staat, der totalen Politisierung und Ideologisierung seiner Jugend usw. - das würden Sie als eine nachträgliche Rationalisierung bezeichnen?

Wetz: Eigentlich ja. Das ist eigentlich eine Selbststilisierung, die im Grunde gut in den Zeitgeist der Siebziger- oder Achtzigerjahre hineinpasste. Das tauchte auch erst spät auf, als er sehr erfolgreich wurde, etwa mit seiner Theorie des "Abschieds vom Prinzipiellen". Ich will die biographischen Aspekte nicht kleinreden, die spielen sicher in sein Werk hinein, aber im Grunde war er nicht so stark davon motiviert. Man wird ja auch geprägt durch das, was die Welt aus einem macht. Er hatte ja großen Erfolg, vor allem in den gesellschaftlich konservativen Kreisen, er wurde regelrecht hofiert von Unternehmen, Banken, Politikern. Das hat ihm geschmeichelt, dass das Establishment ihn für sich entdeckte und ihn schätzte als konservativen Geist mit einem geradezu freidenkerischem Witz. Ich habe einmal zu ihm gesagt: Herr Marquard, Sie sind auf der einen Seite ein ganz normaler Bourgeois, aber Sie sind zugleich ein Bohemien. Sie schaffen es, beides zusammenzubringen. Dann schmunzelte er und ließ das so stehen.

Schuler: Er war ja sogar einmal Laudator bei einer Feier für Loriot.

Wetz: Ja. Das passte auch gut.

"Wichtiger als letzte Fragen sind für Marquard immer gute Antworten auf vorletzte Fragen."

Schuler: Die Philosophie wird manchmal die Lehre vom guten Leben genannt. Was wäre oder war für Odo Marquard ein gutes Leben, philosophisch gesehen?

Wetz: Ganz sicher ein bürgerliches Leben in einem demokratischen Rechtsstaat, mit Gewaltenteilung, Pluralismus, mit Vielfalt, Buntheit, sozialer Marktwirtschaft, breitem Mittelstand, traditionellen Tugenden. Aber dann auch ein Leben mit gemäßigten Sinnerwartungen. Es gibt ja von ihm diesen Aufsatz "Zur Diätetik der Sinnerwartung". Da sagt er, die Frage nach dem großen Sinn ergibt selbst eigentlich gar keinen Sinn. Der große Sinn ist wie Gemüse. Gemüse gibt es nicht. Es gibt immer nur konkrete Sorten von Gemüse. Sie können nicht in einen Laden gehen und sagen, ich hätte gern ein Pfund Gemüse. Dann legt Ihnen der Händler Brokkoli, Schwarzwurzeln und Rotkraut vor. Und dann sagen Sie: nein, das will ich nicht, ich will Gemüse. Dann wird Ihnen der Händler sagen: Das ist Gemüse! So würde Marquard nun jetzt eben die Frage nach dem Sinn beantworten. Sinn an sich gibt es nicht. Sinn gibt es immer nur in Form von gelungenen Beziehungen, einem Beruf, der mich erfüllt, einem Urlaub, dem Joggen oder dem Lesen, dem guten Essen, dem schönen Beischlaf und was weiß ich. Wir haben auf die große Frage nach dem Sinn immer nur mittelgroße Antworten. Wichtiger als letzte Fragen sind für Marquard immer gute Antworten auf vorletzte Fragen.

Schuler: Auch eine Art von Skepsis gegenüber großen Zielen und Entwürfen. Aber verkürzt man den Menschen nicht, wenn man die großen Fragen ausblendet? Gehört es nicht auch genuin zum Menschsein dazu, groß zu denken und große Fragen zu stellen?

Wetz: Marquard empfiehlt immer, die Erwartungen an das Leben zu zügeln. Er sagt: Je besser es den Menschen geht, desto mehr benötigen sie, um sich auch besser zu fühlen. Es ist wie bei einem Kind, das sein erstes Spielzeug bekommt. Es spielt damit, sagen wir mal, vier Wochen. Wenn es sein fünfzigstes Spielzeug bekommt, spielt es womöglich nur noch vier Stunden damit. Damit das 50. Spielzeug den gleichen Effekt wie das erste hat, muss es ungleich größer, ansprechender, reizvoller sein. So entsteht eine fatale Anspruchsspirale, die Übererwartung erzeugt, die irgendwann nur noch schwer erfüllt werden kann. Es ist sogar möglich, dass das, was zunächst als Medium der Wunscherfüllung erscheint, irgendwann aufgrund seiner Unvollkommenheit als Problem gesehen wird. Plakativ gesprochen: Je mehr Krankheiten die Medizin erfolgreich behandelt, desto mehr erscheint sie selbst als Symptom einer Krankheit eingestuft. Denken Sie an die oft polemische Rede von der "Schulmedizin". Oder: je angstfreier man in einer parlamentarischen Demokratie leben kann, desto mehr wird sie plötzlich selbst als Regime der Unterdrückung beschimpft. Sehr oft wird also das, wodurch es uns eigentlich gut geht, dessen Wohltaten wir aber aufgrund von Gewöhnungseffekten nicht mehr wahrnehmen, selbst zum Problemfall, wenn nicht gar zum Sündenbock erklärt.

Schuler: Das heißt, Zufriedenheit nährt Unzufriedenheit?

Wetz: Da glaubte Marquard wohl eine gewisse menschliche Konstante zu erkennen, ja. Und darin steckt eine gewisse Tragik. Die Frage wäre, wie der Mensch aus dieser Spirale der Negativierung herauskommt.

Der Gemäßigte

Schuler: Eine "Diätetik der Sinnerwartung", wie Marquard sie empfiehlt, müsste regelrecht eingeübt werden, habituell werden, um so etwas wie eine Zügelung der Sinnansprüche zu erreichen. Da könnten Konventionen, Üblichkeiten, Traditionen doch sehr hilfreich sein, oder?

Wetz: Natürlich, aber da muss man realistisch sein. Die Bindungskräfte alter Sitten, Bräuche und Konventionen schwinden. Viele Traditionen und Konventionen verdampfen. Und bei manchen muss man auch sagen: gut, dass sie verdampfen.

Schuler:Wo wir schon beim Thema Sinn sind: wie hielt er es mit der Religion? Es gibt ja von ihm den schönen, wieder etwas schelmischen Satz, er möchte, wenn es denn zu so etwas wie einer Auferstehung kommen sollte, gern weiterschlafen und nicht geweckt werden.
 
Wetz: Ja, das hat er bisweilen gesagt – selbst noch kurz vor seinem Tod –, denn er schlief tatsächlich gerne und viel. Doch dieser Ausspruch war mehr als eine bloße Laune. In Fragen der Religion hat Marquard eine doppelte Haltung vertreten – eine öffentliche und eine private. Einerseits zählte er die Religion zu den Üblichkeiten der bürgerlichen Welt. Der Mensch, so meinte er, könne es sich nicht leisten, auf religiösen Trost zu verzichten. Für den Gläubigen bleibe Gott ansprechbar, auch dann, wenn alle menschlichen Stimmen verstummen. Die Virtuosen des Glaubens erfahren gerade in der Einsamkeit die Nähe Gottes – sie stehen, wie er sagt, nicht auf verlorenem Posten. Die Religion findet in Marquards Philosophie ihre Rechtfertigung und Anerkennung durch ihre lebenspraktische Relevanz und existentielle Bedeutung. Andererseits wusste er aus eigener Erfahrung, dass sich religiöser Trost nicht erzwingen lässt – auch nicht mit dem stärksten Argument seiner existenziellen Notwendigkeit. Im Gegensatz zu seiner Frau, einer Pfarrerstochter, die bis ins hohe Alter im Kirchenchor sang und ihren Glauben selbstverständlich gelebt hat, hatte er selbst vom Elternhaus her kaum religiöse Praxis kennengelernt. Religion spielte in seinem Leben keine große Rolle; ihre Botschaften konnten ihn nicht trösten, weil sie ihn nicht überzeugten. Den Zumutungen seiner letzten, von Krankheit gezeichneten Lebensjahre ist er übrigens mit stiller Ergebung begegnet. Eine leise Melancholie begleitete ihn, aber er hat das, was ihm abverlangt wurde, ohne Klage hingenommen – ohne religiösen Trost, aber auch ohne Bitterkeit. Er hat nicht bereut, gelebt zu haben, und sich bis zuletzt bewahrt, was man üblicherweise Würde nennt.

Schuler: Was glauben Sie, würde Marquard zur Radikalisierung der politischen Szene in den letzten Jahren sagen?

Wetz: Ich glaube, es würde ihn ratlos machen. Er war ja immer ein großer Gegner des Extremen, egal von welcher Seite, und er würde natürlich dagegen andenken wollen, aber er wäre ratlos, dass so etwas überhaupt wieder möglich in Deutschland.

Schuler: Und was ziehen Sie für sich als Quintessenz aus den Ideen Ihres Lehrers?

Wetz: Das ist eine ganze Menge. Vor allem aber seine Empfehlung, unüberwindliche Widersprüche auszuhalten. Und dann die existenzielle Erkenntnis, dass sich das Leben nicht zu einem einheitlichen Ganzen rundet, dass aber ein Leben, das sich nicht zu einem einheitlichen Ganzen rundet, sondern mit Widersprüchen, Ungereimtheiten klarkommen muss, trotzdem gelingen kann. 

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