Rosalías "LUX"Ein Album wie eine Kathedrale

Mystik, weibliche Heilige, barocke Wucht und ein exzessiv-manischer Vibe: Rosalía geht einen verstörend-verlockenden spirituellen Weg und erschafft dafür eine neue, hybride Klangwelt.

Rosalía bei einem Auftritt am 28. April 2023 in Mexiko-Stadt
Rosalía bei einem Auftritt am 28. April 2023 in Mexiko-Stadt© Secretaría de Cultura de la Ciudad de México, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

"Nimm ein Stück von mir, bewahre es auf, wenn ich nicht mehr da bin", singt Rosalía auf ihrem neuen Album LUX (Columbia Records), "ich werde deine Reliquie sein." Das Verlangen nach Adoration, das sich hier artikuliert, übertrifft alles, was man bislang von einer spanischsprachigen Sängerin kannte: 42 Millionen Streams allein in den ersten 24 Stunden nach Veröffentlichung, eine Rekordzahl an Fünfsterne-Bewertungen, Spitzenplätze in den weltweiten Charts, ausverkaufte Konzerte für die Tour 2026. Mit LUX wird Rosalía zur meistgehörten spanischsprachigen Künstlerin überhaupt. Shakira ist passé.

Dieser Sound gewinnt nicht nur Grammys – er fungiert als Portal in eine neue ästhetische Welt. Und er ist, ohne Übertreibung, superhot. Rosalías Konzeptalbum versammelt eine beeindruckende Vielzahl an Kollaborationen: Björk, die Flamenco-Sängerin Estrella Morente, der Rapper Dougie F, mehrere Fadistas, das London Symphony Orchestra und weitere Mitwirkende.
Mit LUX gelingt Rosalía sowohl die Erschaffung einer hybriden Klangwelt als auch eines musikenzyklopädischen Netzwerks. Inspiriert von der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector und der Philosophin Simone Weil ist sie bereit, ihr Publikum zu bezaubern – und zu ruinieren.

Baroque is back

Doch LUX ist mehr als ein Marktphänomen. Das Album markiert eine ästhetische Verschiebung. Als spanischsprachige Künstlerin schreibt Rosalía neu, was internationaler Stil und globale Populärmusik sein können. Während deutsche Musik bislang meist nur punktuell weltweit reüssierte – etwa mit einzelnen Hits wie 99 Luftballons oder klar milieubezogenen Acts wie Rammstein –, gelingt Latinx-Künstlerinnen und -Künstlern seit Jahren eine stilprägende, nachhaltige Präsenz.

Ob Fußballerin Alexia Putellas, Schauspielerinnen wie Salma Hayek oder die Stierkämpferin Cristina Sánchez: Spanischsprachige Persönlichkeiten fungieren längst als globale Sympathieträger. Selbst die hispanophone Aura des amtierenden Papstes und seines Vorgängers fügt sich in dieses Bild ein.
Darin spiegelt sich eine globale Neuorientierung des kulturellen Geschmacks. Der Sound der Globalisierung verändert sich: Entscheidend ist, was in Japan ebenso funktioniert wie in Indien, Norwegen, Argentinien oder Kanada. In diesem Feld haben sich spanischsprachige Künstlerinnen in den vergangenen zwanzig Jahren als die klare Alternative zur englisch dominierten Popkultur etabliert – keiner anderen Sprache ist das bislang in vergleichbarer Weise gelungen.

Sympathische Warenförmigkeit

Dabei sind die Künstlerinnen und Künstler aus Spanien und Südamerika nicht wie Befreiungstheologen vorgegangen. Stattdessen positionierten sie sich mit multilingualen, mischkulturellen Haltungen selbstbewusst auf dem Weltmarkt. Ihre Arbeiten sind avantgardistisch, innovativ im Sounddesign und in der Ikonografie, zugleich tief in Traditionen verankert.
Bei aller formalen Kühnheit bleiben sie jedoch marktfähig: Große Labels und Streamingdienste führen diese Musik nicht in ethnomusikalischen Nischen, sondern im Hauptprogramm.

Bei Rosalía steht Afro-Fusion neben Indo-R&B und Flamenco; elektronische Musik trifft auf klassische Streicherarrangements. Bemerkenswert ist, dass LUX dabei nie postmodern fragmentarisch oder beliebig wirkt. Das Album entfaltet sich vielmehr als kohärente Gesamtbewegung.

In Deutschland fand bislang vor allem der Song Berghain größere Resonanz – ausgerechnet ein Stück, das mit seinen Pop-Gothic- und Alternative-Rock-Anklängen ein für LUX eher untypisches Klangbild präsentiert.

Mit ihrem vierten Studioalbum entfernt sich die 33-jährige Künstlerin deutlich vom Sound früherer Veröffentlichungen. LUX entfaltet eine bewegende Fusion aus klassischer, sakraler und populärer Musik. Es ist eine spirituelle Erweckung, wie sie nur wenigen Künstlerinnen der letzten Jahre gelungen ist. Was bei vielen hybriden Popprojekten fragmentarisch bleibt, verdichtet sich hier zu einer durchgehenden spirituellen Bewegung.

Märtyrerinnen statt Femmes fatales

Auf LUX treten Gestalten wie Hildegard von Bingen, die jüdische Prophetin Mirjam oder die Sufi-Mystikerin Rabia von Basra auf. Das Album ist als Liederzyklus über weibliche Heilige konzipiert – ein Anspruch, der den Hörerinnen und Hörern einiges abverlangt. Die spirituelle Sprache dieser Stücke erzeugt eine seltsam rohe, poröse, zugleich helle Stimmung. Verstörend und verlockend zugleich. Eine Kommentatorin nannte sie "transformativ", eine Spiritualität, "die sich anders anfühlt". Mitten in üppigen Streicherarrangements wechselt Rosalía in einen Sprechgesang, der an Rap und House erinnert.

Das Stück De Madrugá greift die Geschichte der Slawenkönigin Olga von Kiew auf, die den Mörder ihres Mannes heiratet, um ihn zu töten. Archaische Trommelrhythmen beschwören die Dämmerung. "Ich bringe tausend Feuerzungen", singt Rosalía. Weiter heißt es: "Ich suche keine Rache; die Rache sucht mich" (я не шукаю помсти, помста шукає мене). Die Figur Olga erscheint erfüllt von Rachedurst und zugleich zutiefst verunsichert und hat keine Ahnung, was sie da tut: "Ich weiß nichts mehr." Weibliche Divination und weibliche Brutalität gehen hier eine unauflösliche Verbindung ein.

Spiritualität als Wucht und Widerspruch

Sympathisch ist an diesem Album nicht nur der emanzipatorische Ton, mit dem toxische Männer dem jüngsten Gericht überantwortet werden. Auch der exzessive, manische Vibe trägt dazu bei: Hier singt eine Furiose, ein "crazy Ex-Girlfriend", die deinen Laptop aus dem Fenster wirft, dir WhatsApp Bilder von blutenden Rasierklingen schickt oder mit dem Schlüssel Kratzer in dein Auto reißt.

In einem Song singt Rosalía auf Arabisch: "Für dich würde ich den Himmel zerstören, für dich würde ich die Hölle niederreißen – ohne Versprechen, ohne Drohungen." Auf dem Cover erscheint Rosalía übrigens mit mit nonnenhafter Haube und Zwangsjacke.

Gleichzeitig lässt Rosalía Christus Diamanten weinen: Mio Cristo Piange Diamanti. Reine Klavierakkorde und Pizzicati führen in einen choralartigen, klagenden Gesang, der sich in einem vorsichtigen Crescendo zu einem explosiven cante jondo aufschwingt. Der Song kulminiert in einer geradezu ballistischen Entladung.

Die Texte entwickeln dabei eine superlativische Wucht, ohne je aufgesetzt zu wirken. "Du bist der schönste Hurrikan, den ich je gesehen habe. Lass die Erde beben." Doch auch hier bleibt das Bild ambivalent: "Agent des Chaos … mein König der Anarchie … mein liebster, dummer Stern. Wenn du weinst, sammle deine Tränen und befeuchte eine Stirn. Mein Christus weint Diamanten. Ich trage dich. Immer. Die Wahrheit ist: Wir sind beide befleckt und entkommen einander nicht."

Die Stimmung des Albums ist auf eigentümliche Weise dysfunktional. Immer wieder tauchen verstörende Bilder von Gewalt auf, mit einer irritierenden Selbstverständlichkeit. LUX ist reich an ekstatischen Grenzerfahrungen. Im Song Divinize heißt es: "Durch meinen Körper erblickst du das Licht. Mach mir blaue Flecken, ich schlucke meinen Stolz. Ich weiß, dass ich gemacht wurde, um zu vergöttern … Schmerz ist ein Vergnügen (delícia), göttliche Leere." Später: "Die Grenzen dieses Körpers verschwimmen bis zur Grenze (fins a la frontera). Viele glauben, es sei das Ende. Aber es fängt erst an. Durch meinen Körper erblickst du das Licht."

Diese drastischen Bilder wirken nicht kalkuliert, weil Rosalía nie in die Pose der routinierten Femme fatale verfällt. Sie kokettiert weder mit abgegriffener Mystifizierung noch mit einer dekorativen féminine mystique. Die abgestandene Zauberhaftigkeit einer Lou Andreas-Salomé bleibt ihr ebenso fern.

Lidstrich und Glitter

In der Absolutionsrumba La Rumba del Perdón entwirft Rosalía das Bild einer hochgradig instabilen Beziehung: ein Gitarrist, verführerisch, aber flüchtig, der geht, nachdem er seine Zigarette ausgeraucht hat. Diese Songs bevölkern gebrochene Leben, alles ist kompliziert – und doch herrscht ein gnadenvolles Menschenbild: El que tiene alma de santo pero sigue pecando ("Derjenige, der eine heilige Seele hat, aber weiterhin sündigt.").
Die paradoxe Anleitung lautet: "Um es richtig zu machen, brauchst du drei Dinge: Feuer in den Händen, Zärtlichkeit im Blick und mich."

Hinter der religiös aufgeladenen Sprache vollzieht sich zugleich ein brutaler Exorzismus eines Ex-Geliebten. Anders als in den vergleichsweise kontemplativen Trennungserzählungen etwa von Taylor Swift begegnet uns hier ein anderes weibliches Temperament: ambivalent, widersprüchlich, bereit, alles niederzubrennen – und dabei anmutig zu lächeln. Eine Kritik fasste es so: "Rosalía hinterlässt uns an einem Ort, den kein Prophet erwähnt und kein Dichter beschrieben hat. Ein Ort, den sich niemand außer ihr selbst – und vielleicht ihrem Gott – vorstellen konnte."

Provokativ an diesen Liedern ist nicht die Präsenz Gottes. Provokativ ist auch nicht die spirituelle Transformation an sich. Rosalías eigentliche Provokation besteht darin, wissen zu wollen, wer oder was Gott ist.

Auf die Frage, ob LUX nicht zu anspruchsvoll für den globalen Mainstream sei, antwortete sie: "Es ist vielleicht nicht das, was die Leute hören wollen. Aber es ist das, was sie brauchen." Gerade die bewusste Rückbindung an klassische Formen säkularer und sakraler Musik verleiht dem Album seine ikonoklastische Kraft. LUX ist nicht bloß ein Album – es ist eine Kathedrale.

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