Seit fast 300 Jahren helfen die "Losungen" der Herrnhuter Brüdergemeine dabei, die Bibel im Alltag heimisch werden zu lassen. Heute werden die Losungen in Teilen ökumenisch verantwortet - und bis heute sind sie eine Einladung zum Dialog: Was willst Du, Gott, mir heute mit diesem Wort sagen?

Exakt 1,6 Prozent. So viele – oder eher wenige – Menschen mit und ohne Kirchenbindung lesen in Deutschland laut einer repräsentativen Studie der Universität Leipzig täglich in der Bibel. Einmal im Jahr nutzen laut der Untersuchung etwa 30 Prozent der Deutschen eine Bibel. Mehr darin zu lesen, ist unter Christen ein beliebter Vorsatz fürs neue Jahr. Ähnlich verbreitet sind aber auch die Hürden: Wo fange ich an? Wie bekomme ich einen Zugang zu den manchmal sperrigen Texten? Und vor allem: Wie bleibe ich dran? Und dann ginge es ja auch nicht nur darum, den Text zu lesen wie einen Zeitungsbericht, sondern ihn in das eigene Leben hinein sprechen zu lassen.

Genau das tun die sogenannten "Losungen" der Herrnhuter Brüdergemeine. Aus über 1.800 alttestamentlichen Bibelstellen wird für jeden Tag des Jahres ein Vers ausgelost. Ein weiterer aus dem Neuen Testament wird thematisch passend dazu ausgewählt. Der sogenannte "dritte Text" enthält ein Lied oder ein Gebet mit Bezug zu den Auszügen aus der Bibel.

Konfessionsverbindende Losungen

Die 1722 entstandene Siedlung "Herrnhut" in der sächsischen Oberlausitz bot ursprünglich Glaubensflüchtlingen aus Mähren Zuflucht vor der Gegenreformation. Die daraus entstandene Gemeinschaft ist auch für den "Herrnhuter Stern" bekannt, der viele Fenster an Weihnachten erleuchtet. Ihr Gründer, der pietistisch geprägte Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, gab 1728 seiner Gemeinde beim abendlichen Gebet ein Wort für den nächsten Tag mit auf den Weg – die Geburtsstunde der "Losungen". Seit 1731 erscheinen sie in gedruckter Form. Heute verbinden sie Christen unterschiedlicher Konfessionen und werden in ungefähr 60 Sprachen publiziert.

Mit diesem Büchlein kann man die Erfahrung machen, Gott in das eigene Leben hineinsprechen zu lassen. An manchen Tagen passt der Vers so gut, dass man das Gefühl gewinnt, er wurde nur für einen selbst ausgelost. An anderen Tagen wiederum bleibt er fremd. Immer ist er eine Einladung zum Dialog: Was willst Du, Gott, mir heute mit diesem Wort sagen?

"Siehe, ich mache alles neu"

Diesem Anspruch des Wortes Gottes stellte sich auch der evangelische Schriftsteller und Dichter Jochen Klepper, der besonders durch sein Weihnachtslied "Die Nacht ist vorgedrungen" bekannt ist. Durch seine Ehe mit der jüdischen Witwe Johanna Stein erlebte er die Dunkelheit des nationalsozialistischen Regimes. Seine Tagebucheinträge begann er fast immer mit einem Vers der "Losungen". In den unter dem Titel "Unter dem Schatten Deiner Flügel" veröffentlichten Auszügen aus den Jahren 1932 bis 1942 kann man nachspüren, wie ihm die ausgelosten Worte mal Licht und Hoffnung, mal Anlass zum Ringen mit Gott sind.

Mit diesem Büchlein kann man die Erfahrung machen, Gott in das eigene Leben hineinsprechen zu lassen. Immer ist er eine Einladung zum Dialog: Was willst Du, Gott, mir heute mit diesem Wort sagen?

Immer wieder zeigte sich in der Geschichte die politische Relevanz des Bibelprojekts. Während des Nationalsozialismus gab es Schwierigkeiten, die Druckerlaubnis für die Losungen zu erhalten. In der DDR wurden Dritttexte durch Zensoren von "allzu westlichen oder dekadenten Tendenzen" und "[f]romme[n] Klagen über die Welt" gesäubert. 1930, wenige Jahre vor der Machtergreifung Hitlers, entstand die Jahreslosung, also ein Vers, der als Leitwort über ein ganzes Jahr steht. Die Idee dazu hatte der evangelische Pfarrer Otto Riethmüller. Später war er Mitglied der Bekennenden Kirche und versteckte Jüdinnen in seiner Bibelschule. Das nicht geloste, sondern ausgesuchte Bibelwort sollte bewusst den politischen Parolen entgegenstehen. Die erste Jahreslosung lautete: "Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht" (Röm 1,16), die folgende 1931: "Dein Reich komme" (Mt 6,10). Seit 1970 wählt die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für das Bibellesen (ÖAB) die Jahreslosung aus. Für 2026 lautet sie: "Siehe, ich mache alles neu." (Offb 21,5)

Schatzkammer der Bibel

Mittlerweile gibt es die Losungen unter anderem für junge Leute, als eigene App, in den Ursprachen oder als Schreibausgabe, um wie Jochen Klepper notieren zu können, was der Text in meinem Hier und Jetzt auslöst. Man könnte einwenden, so käme man doch nur mit einzelnen Versen in Berührung. Tatsächlich enthalten die Losungen auch die Angaben für eine fortlaufende Bibellese, mit deren Hilfe man in vier Jahren das Neue Testament und in acht Jahren die wesentlichen Texte des Alten Testaments durchlesen kann.

Vor allem aber helfen sie, die Schatzkammer der Bibel weiter aufzutun (vgl. Sacrosanctum concilium 51) und immer wieder neu Gotteswort und Menschenwort ins Gespräch zu bringen.

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