Es müssen Tausende sein, die hier vor Notre Dame in der Schlange stehen, um das in neuem Glanz erstrahlende Gotteshaus von innen zu sehen. Doch heute bin ich nicht als Tourist in meiner Lieblingsstadt, sondern als Sprecher auf einem Kongress. Ein Kongress immerhin, der hier vor Notre Dame eine kleine Bühne aufgebaut hat. Eine Traube junger Menschen steht davor, singt, streckt die Hände in die Luft und steckt die Umstehenden mit ihrer guten Laune an. Es sind Teilnehmer des "Congrés Mission", die lauthals von Jesus und seiner Auferstehung singen.
Einige Stunden zuvor hatte ich die "Accor Arena" in Paris-Bercy betreten. Mit rund 20.000 Sitzplätzen ist sie die größte überdachte Veranstaltungshalle der Metropole. Ja, einer der größten Europas. Heute ist sie gefüllt von Tausenden von Betern, darunter Hunderte von Priestern und (erstaunlich jungen) Ordensleuten, die die Messe feiern, Vorträge hören, sich gegenseitig darin bestärken, Zeugen für den Glauben zu sein.
Mission statt Milieu
17.400 Erwachsenentaufen zählte die katholische Kirche dieses Jahr in der Osternacht allein. Die meisten darunter zwischen 18 und 25 Jahre alt. Während die Zahl der Kindertaufen weiter abnimmt, also das "katholische Milieu" weiter stirbt, gibt es eine Bekehrungswelle junger Menschen. Und diese stellt Pfarreien mitunter vor große Herausforderungen.
Ich hörte von einer Pfarrei, in der allein es 230 solcher Taufen gab. Man stelle sich Ähnliches in Deutschland vor und überlege dann einmal, welche Fragen sich stellen würden. Oder welche Fragen auf einmal jede Relevanz verlören (manche Themen des "synodalen Weges" dürften eher in die zweite Kategorie fallen).
Während die verblüffenden Taufzahlen gerade auch säkulare Soziologen beschäftigen, werden verschiedene mögliche Gründe angeführt. Einer wird zu selten genannt: Die Kirche Frankreichs hat sich schon vor Jahren sehr bewusst auf einen missionarischen Weg begeben.
Den "Congrés Mission" gibt es seit 10 Jahren. Als ich im Jahr 2018 dort sprach, waren es nur 3000 Teilnehmer. Letztes Jahr fand der Kongress dezentral an 150 Orten statt. Teil des Programms ist ein "Village" genanntes Messeareal, in dem sich hunderte katholischen Initiativen, Organisationen, Orden und Gemeinschaften vorstellten. Vergleicht man "Village" mit der Kirchenmeile am Katholikentag, fällt nicht nur der deutlich niedrigere Altersdurchschnitt auf, sondern auch die Themensetzung. Ausnahmslos jeder Stand hatte etwas mit der Verkündigung zu tun. Verkündigung an Schulen. Eine missionarische App. Eine Aktion für einsame, alte Menschen. Eine Gemeinschaft, die in den ärmsten Banlieues dient. Bibelschulen. Sogar christliche Computerspiele: ein lebendiger Jahrmarkt der Möglichkeiten voller Ideen für Evangelisation in einem der säkularsten Länder der Welt.
Die Trendwende hin zum Glauben wurde von niemandem "produziert". Sie schlägt sich in kulturell so verschiedenen Ländern wie Großbritannien, den USA und der Westschweiz parallel nieder. Vielleicht ist sie auch nur ein vorübergehender Trend.
Die Kirche in Frankreich hat seit Jahren etwas gemacht, wovon wir Deutsche lernen könnten: Sie hat die Netze bereitet, bevor die Flut zu steigen begann.
Doch die entscheidende Frage lautet: Wer ist bereit, wenn die Flut kommt? Als sich in den frühen Siebzigerjahren auf einmal massenweise Hippies taufen ließen und in Kalifornien die "Jesus-People-Bewegung" ausbrach, waren die etablierten Kirchen darauf unvorbereitet. "The Jesus Revolution", titelte das TIME-Magazin das Cover einer Ausgabe von 1971, doch die Großkirchen blieben davon eher unberührt.
Ob wir vor einer ähnlichen Bewegung stehen, kann niemand sagen. Die Kirche in Frankreich hat jedoch seit Jahren etwas gemacht, wovon wir Deutsche lernen könnten: Sie hat die Netze bereitet, bevor die Flut zu steigen begann. Als Notre Dame von Jahren in Flammen stand, hielt die ganze Welt den Atem an. Nun drängen Tausende hinein und stehen vor ihr Schlange. Ein hoffnungsvolles Bild.