#34 GefängniszelleWiderstand ist mehr als politischer Trotz

Liebe, Schmerz, Standhaftigkeit: Die Briefe des ermordeten Kreml-Kritikers Aleksei Nawalny offenbaren: Nicht nur die Überzeugung macht eine Person zum Staatsfeind.

Gefängniszelle
© Unsplash

"Aleksei Nawalny hier", schreibt der Putin-Kritiker im März 2023 an den sowjetischen Dissidenten Natan Scharanski: "Grüße aus der Oblast Wladimir, auch wenn ich nicht sicher bin, ob du warme Erinnerungen daran hast. Ich bin derzeit in der Strafkolonie IK-6 Melechowo, aber aus dem Gefängnis in Wladimir schreiben sie mir, dass dort eine Zelle für mich vorbereitet wird. Es sieht also ganz so aus, als würde ich mich bald in derselben Einrichtung wiederfinden, in der du warst."

Vor seiner Ermordung am 16. Februar 2024 durch den russischen Staat führt Aleksei Nawalny eine handschriftliche Korrespondenz mit dem israelischen Menschenrechtsaktivist Natan Scharanski. Die Briefe blühen nur so vor Humor. Nawalny gibt seine Eindrücke über Scharanskis Buch Fear No Evil (1988) wieder. Aus einer kritischen Perspektive wird man weder Nawalny noch Scharanski idealisieren, doch ihre Kritik nicht nur am russischen Regime, sondern an Gesellschaften und Gemeinschaften überhaupt, die den schleichenden Einzug autoritärer Strukturen dulden oder ignorieren, trifft nicht nur in Russland zu.

"Im Gefängnis entdeckte ich," antwortet Scharanski, "dass es neben dem Gesetz der allgemeinen Schwerkraft der Teilchen auch ein Gesetz der allgemeinen Schwerkraft der Seelen gibt. Indem du, Aleksei, im Gefängnis ein freier Mensch bleibst, beeinflusst du die Seelen von Millionen Menschen weltweit."

Jeremiaden: Botschaft oder Bindung?

Es stählt sich dort in der Gefangenschaft ein eigentümliches Sendungsbewusstsein. Ist es die romantische Tradition, die alle Propheten eint? Von Joseph im Ägypterland, über Samson im Kerker der Philister, bis hin zu den petrinischen und paulinischen Inhaftierungen, die für etliche Heiligenlegenden eine Matrix bilden? Der Fokus liegt hier – egal ob im Gulag oder in der Zisterne – auf einer vorgängigen Überzeugung, eine Wahrheit, eine Berufung, die sich im Gefängnis nicht brechen lässt und um ihre unabweisbare Wucht und Wirklichkeit weiß. Wir bewegen uns auf dem Terrain des Heroischen – von Bewährung und Standhaftigkeit.

Aber hier ist noch ein anderer Brief Nawalnys. Er ist an seine Frau Yulia adressiert, geschrieben wenige Monate vor seinem Tod im Dezember 2023. Dort heißt es: "Ich hasse Glas, weil ich dich seit sechs Monaten nur noch durch Glas sehe. Im Gerichtssaal, durch Glas. Bei Besuchen, durch Glas. Und natürlich machen wir bei den Besuchen dieses klassische Ding, das alle aus Filmen kennen, wenn jeder seine Hand an das Glas auf seiner Seite drückt und etwas Nettes ins Telefon sagt. Es ist schön, aber wir berühren trotzdem nur Glas. Und noch eine erstaunliche Tatsache: Komödien sind jetzt weniger lustig. Passiert dir das auch? Zusammen lachen macht einen lustigen Moment um 25 Prozent lustiger. Manchmal sogar um 30 Prozent. Yulia, Schatz, alles Gute zum Geburtstag! Ich verehre dich. Ich vermisse dich. Bleib gesund und lass dich nicht entmutigen. Was das Glas angeht, werden wir es früher oder später mit der Wärme unserer Hände zum Schmelzen bringen. Und Komödien werden wieder lustig sein. Ich liebe dich."

"Wärme unserer Hände"

Hier tritt ein Schmerz in den Vordergrund. Er hat nichts mit Überzeugung oder Wahrheit zu tun. Die rhetorische Gebärde hat sich allen staatstragenden und philosophischen Gesten entledigt. Was bleibt, ist eine Pein, ein Schmerz, den die Trennung verursacht. Nawalny fühlt sich nicht. Was ihm bleibt, ist das Bekenntnis, das emphatische Eingeständnis, dass das Gegenüber anwesend, aber hinter Glas ist.

Sonderbare Sehnsucht des inhaftierten, eingesperrten, eingekerkerten Menschen, ausgerechnet dort und da, im Knast, zu heiraten.

Gelegentlich frage ich mich, ob die biblischen Erzählungen nicht manchmal ihre narrative Kurzsichtigkeit, ihre flache Abwesenheit von Innigkeit und Introspektion in solchen Momenten offenbaren, wo sie mehr von Berufung getragen sind als von Bedürftigkeit. Sonderbare Sehnsucht des inhaftierten, eingesperrten, eingekerkerten Menschen, ausgerechnet dort und da, im Knast, zu heiraten – einen Bund neu zu bekennen oder überhaupt ihn zu schließen, auch wenn das sprichwörtliche "Glas" dazwischen ist. Die Liste von Hochzeitsfeiern, die unter Haftbedingungen stattfanden, ist lang. Ist es also die Überzeugung – oder die Bindung zum Nächsten, die eine Person zum Staatsfeind macht?

Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen