#33 KameraLeo XIII. und die amerikanischen Filmpioniere

Papst Leo XIII., geboren 1810, ist das erste Staatsoberhaupt, von dem Filmaufnahmen existieren. Was zeigen diese Aufnahmen? Warum lösten sie fast einen Rechtsstreit und theologisches Kopfzerbrechen im Vatikan aus? Und wie gelangten sie schließlich in die digitale Welt?

Edison Kinetoscope (aus: Simon Henry Gage, Henry Phelps Gage: Optic Projection, New York 1914, 400)
Edison Kinetoscope (aus: Simon Henry Gage, Henry Phelps Gage: Optic Projection, New York 1914, 400)© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Die Amtsübernahme von Robert Prevost, Papst Leo XIV., lenkte neuerdings die Aufmerksamkeit auf Leo XIII. (1810-1903). Dieser war nicht unbedingt ein Beatnik des fin de siècle, obschon er eine kreative Auseinandersetzung mit der Moderne förderte. Im Jahr 1898 machte ein Projekt der vormaligen Edison Manufacturing Company Papst Leo XIII. zum ersten Staatsoberhaupt der Welt, das sich in bewegten Bildern der Welt präsentierte.

Im Anfang war Washington D. C.

Einige Monate vor der Papstaufnahme reisen die Erfinder William Kennedy-Laurie Dickson und Thomas Edison von ihrem Labor in Menlo Park, New Jersey, ins Weiße Haus, um dem Präsidenten William McKinley ihre neuartige Kamera vorzustellen. Anwesend sind auch der päpstliche Gesandte Sebastiano Martinelli sowie der Erzbischof von Baltimore, James Kardinal Gibbons.

Bei dem Treffen sprechen die Herren nicht nur über eine revolutionäre Technik, die Bilder in bewegte Bilder verwandelt, sondern auch über die neue Rolle, die die Religionsgemeinschaft aufgrund der rasanten Einwanderung aus katholisch geprägten Weltgegenden in die Vereinigten Staaten spielt. Der Filmpionier Dickson erinnert sich später im Royal Magazine: "Den Herren kam der Gedanke, dass es eine ausgezeichnete Sache für die römisch-katholischen Gläubigen in Amerika wäre, wenn [wir] einige Aufnahmen aus dem täglichen Leben des Heiligen Vaters machen könnten – Tausende und Abertausende von ihnen würden sonst niemals in den Genuss des päpstlichen Segens kommen."

Der Filmrestaurator David Martin beschreibt entlang zeitgenössischer Dokumente sowohl die Freude des Filmteams als auch die Skepsis im Vatikan. Vier Monate lang treibt sich Dickson mit seinem Assistenten Eugene Lauste in Rom herum. Für dieses Projekt, in dem über 500 Aufnahmen weltweit entstehen, gründet der Erfinder seine eigene American Mutoscope and Biograph Company. Er verfügt über die besten Empfehlungen, doch im Vatikan wälzen die Kirchenbeamten das Thema noch hin und her. Ist ein auf Film gezeigter Segen des Papstes wirksam für die Betrachter? Auf welche Weise sollen die Symbolsprache und Ikonografie dieser Darstellungen den Heiligen Vater den Gläubigen präsentieren?

Wem gehört der "kinematografische Leib" des Pontifex?

Dickson muss garantieren, dass "keine der Aufnahmen an einem weltlichen Vergnügungsort gezeigt werden [dürfe]. Auch erfordere die Vorführung die Erlaubnis der Kirche." Ebendiese Auflage führt wenig später zum Entzug der Aufführungsrechte seitens des Vatikans, der fast zum Rechtsstreit zwischen dem Heiligen Stuhl und Dicksons Firma eskaliert. Die Amerikaner "wucherten auf skandalöse Weise" mit dem Film. Papst Leo XIII. überschreibt die Rechte an Vittorio Calcina, erster Film-Produzent Italiens und Mitarbeiter der Brüder Lumière. Im Zuge dessen ersetzte man einfach die Autorschaft Dicksons. Deshalb nannte jahrzehntelang das vatikanische Filmarchiv die falschen Urheber, was erst Gianluca della Maggiore in seinen Archivstudien 2023 korrigierte.

Die Untersuchung zeigt, wie sehr die zuständigen Zentralbehörden sich die theologischen Zähne ausbissen über das neue Problem der Kinematografie: Was bedeutet der "Leib" des Papstes auf dem 60mm-Film des Amerikaners? Vielleicht bereute der Vatikan die Aufnahmen auch, weil die Film-Automaten – sogenannte Mutoskope – schnell gegen Münzeinwurf für erotische Peepshows eingesetzt wurden.

Was zeigen die Aufnahmen?

Der Papst wiederum schien wohlgesonnen. Jedenfalls berichtet Dickson: "Ich empfand den Papst als einen überaus liebenswürdigen Mann und verdanke seiner Güte sehr viel. Er zeigte großes Interesse an den Aufnahmen."

Heute sind die drei Aufnahmen auf einundneunzig Sekunden als Montage zusammengeschnitten. Sie bilden ein filmisches Triptychon: Ankunft, Segnung und Rückzug – drei kurze Szenen, die gemeinsam eine frühe visuelle Inszenierung des Papsttums ergeben.

Der Vatikan genehmigt den Dreh im April und Mai 1898. Sie finden an drei separaten Sitzungen statt. Heute sind die drei Aufnahmen auf einundneunzig Sekunden als Montage zusammengeschnitten. Sie bilden ein filmisches Triptychon: Ankunft, Segnung und Rückzug – drei kurze Szenen, die gemeinsam eine frühe visuelle Inszenierung des Papsttums ergeben. Sie zeigen den Papst auf dem Thron als Regenten, sodann pastoral in der Kutsche und drittens gewissermaßen spirituell und intim auf einer Bank hinter dem, was als Garden Villa bezeichnet wird, womit vermutlich die Umgebung um die Casina Pio IV (die auch als Villa Pia genannt) gemeint ist.

Die Thron-Szene

Die Thron-Szene betritt Leo XIII. vom rechten Bildrand, gestützt auf einen Gehstock, von dem eine kurze Kordel mit Quaste herabhängt. Er ist damals 86 Jahre alt. Dass er äußerst fragil ist, wie mehrere Biografien bezeugen, wird man auch in späteren Sequenzen an einem leichten Tremor erkennen. Er schreitet auf einen zentral gestellten Sessel zu, der aus einem teilweise am Saum akzentuierten Holzgestell gemacht und, wie das Muster auf dem Polster andeutet, mit einem farbigen Brokatstoff bezogen ist. Hinterfangen ist die Szene von einem hohen, langblättrigen Gebüsch. Davor knien mit Hellebarden vier salutierende Gardisten. Nachdem der Pontifex sitzt, richten sie sich auf. Ihre Uniform entspricht nicht der fließenden Form in Blau-Rot-Gelb, wie sie erst im frühen 20. Jahrhundert nach dem Entwurf des Kommandanten Jules Repond berühmt wird. Vielmehr tragen sie einen Uniformrock mit mittig verlaufender Knopfleiste, die links und rechts parallel verlaufend von Zierstreifen (Litzen) flankiert wird und sich im unteren Saum die Hüfte umschließen sowie darüber einen Gürtel mit Wappenschließe und auf dem Kopf eine Pickelhaube mit päpstlichem Wappen.

Ebenfalls im Bild zu sehen, mit dem Saturno in der rechten Hand, ist der damalige Camerlengo Francesco Salesio della Volpe, den Leo später zum Kardinal kreieren wird. Dieser vermittelte auch die konkreten Aufnahmesitzungen. Als der Papst Platz nimmt, hilft ihm della Volpe. Schließlich tritt Cavaliere Pio Centra neben Leo XIII. an seine linke Seite. Der Papst kratzt sich an der Stirn, della Volpe erhält eine off camera-Anweisung und gibt diese an den Pontifex weiter, der schließlich eine Segensbewegung ausführt. Den lächelnden Gesichtern nach scheint es heiter zuzugehen.

Leo XIII. zeigte auf die Projektion und rief "Wunderbar! Wunderbar! Schau, wie ich da segne!" Er dreht sich sodann della Volpe zu und sagte diesem: "Wie gut Du aussiehst!"

Diese Heiterkeit bestätigt auch ein Bericht in dem bis heute existierenden Magazin Harper’s Weekly, worin Dickson zitiert wird. Er zeigte seiner Heiligkeit die Aufnahmen wenige Tage später. Dieser zeigte auf die Projektion und rief "Wunderbar! Wunderbar! Schau, wie ich da segne!" Er dreht sich sodann della Volpe zu und sagte diesem: "Wie gut Du aussiehst!" Dickson schreibt anderswo noch: "Er hielt die ganze Zeit über meine Hand und drückte sie zärtlich."

Die Kutschen-Szene

Die Kutschen-Szene wird akribisch vorbereitet und am 20. April 1898 wohl auf der Viale del Bosco in der Vatikanstadt gedreht. Der gefederte Landauer rollte vom linken Bildrand in die Szene, gezogen wird die schwarzlackierte Luxuskutsche mit offenen Verdecken von zwei schwarzfelligen Rappen. Der Kutscher sowie die beiden Diener tragen Zylinder und weiße Handschuhe, wie es die Etikette vorschreibt. Als die Szene einsetzt, befinden sich am Wegesrand fünf Männer, teilweise in Zivil, teilweise uniformiert. Sie knien, bekreuzigen sich oder salutieren als der Pontifex sie passiert. Es handelt sich dabei um Mitglieder des päpstlichen Haushalts.

Die Herren hatten sich für die Szene offenbar ein kleines Drehbuch ausgedacht, denn die Kutsche hält erst auf Befehl des Papstes an, den er gibt, als er den am Wegrand stehenden Prälaten sieht. Sie inszenieren für die Kamera ein kurzes Gespräch und schließlich wendet sich della Volpa direkt der Kamera zu, weist auf sie und macht den Heiligen Vater darauf aufmerksam.

Interessant ist die erste Figur mit dem Zweispitz auf dem Kopf, fransige Epauletten auf den Schultern, Sporen und Säbel und der dekorativen Schnur (eine zweifarbige Aiguillette) über die Brust gehängt. Als die Kutsche im Bild zum Stehen kommt, tritt erneut della Volpa ins Bild und verneigt sich vor Papst Leo, der auf dem Kopf einen Galero trägt und winkt. Die Herren hatten sich für die Szene offenbar ein kleines Drehbuch ausgedacht, denn die Kutsche hält erst auf Befehl des Papstes an, den er gibt, als er den am Wegrand stehenden Prälaten sieht. Sie inszenieren für die Kamera ein kurzes Gespräch und schließlich wendet sich della Volpa direkt der Kamera zu, weist auf sie und macht den Heiligen Vater darauf aufmerksam.

In der Entourage kommt hinter der Kutsche der Gardekommandant auf seinem Pferd zum Stehen und schaut direkt zur Kamera. Er trägt einen Kürassier-Helm, auf dem ein gekrümmter, geschmiedeter Raupenkamm zu erkennen ist, Epauletten und einen Orden. Als der Wagen weiterfährt, folgen zwei weitere berittene Gardisten. Anders als in der ersten Sequenz könnte es sich hier um Mitglieder der Nobelgarde handeln, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit der Schweizergarde zusammengelegt ist. In der letzten Sekunde der Kutschensequenz erscheinen hinter dem Fahrzeug die nun stehenden Figuren, die als Statisten am Wegesrand die Szene füllten. Man bemerke hier, wie sie allesamt lächeln, als hätten sie zusammen mit dem Papst vor der Kamera einen Streich gespielt. Man darf nicht vergessen: Die Szene ist hochinszeniert und die Personen gehören zu den ersten Filmschauspielern der Welt.

Dickson beschreibt in seinen Erinnerungen, dass er nach dem Dreh den Papst um eine zusätzliche Sitzung ersuchte. "Was, noch eine?", antwortete Leo XIII. dem Mutographen. Dieser lässt nicht locker und drängt: "Heiliger Vater, würden Sie nicht meine Dankesschuld vollends erfüllen, indem Sie mir eine weitere Sitzung im Garten bei der Sommervilla gewähren?" Dickson beschreibt den Papst nun als amüsiert, denn er neckt den Filmemacher: "Haben Sie immer noch nicht genug?" Daraufhin Dickson: "Nein. Aber geben Sie mir den morgigen Vormittag, und ich verspreche, zufrieden zu sein." Der Papst schweigt eine Minute und sagt schließlich: "Nun gut, ich bin einverstanden, aber nicht in der Früh, sondern um sechs Uhr am Abend."

Die Bank-Szene

Diese letzte Szene finde ich am berührendsten. Da die Technik beim ersten Versuch versagt, muss die Aufnahme wiederholt werden. Der Papst steigt aus der geschlossenen Kutsche aus. Dabei assistiert ihm sein Kammerdiener Cavaliere Pio Centra – einige Biografien bezeichnen ihn als eine wichtige Bezugsperson – beim Aussteigen über die enge Stiege der Kutsche. Kurz erkennt man erneut einen Gardisten zu Pferd, was den Effekt herstellen soll, als sei die Kutsche gerade zum Stillstand gekommen und die Aufnahme die stumme Zeugin des alltäglichen Lebenswandels des Papstes sei.

Eine einfache, offenkundig verwitterte Bank, die wie ein Gesims in die Nische des Gebäudes gebaut ist und von zwei gekehlten, volutenförmigen Stützen getragen wird, ist voll im Bild. Della Volpe wartet bereits auf Leo. Als sich der Papst nähert, kniet er nieder und führt in auf den Platz. Es treten zwei Mitglieder der Nobelgarde hinzu. Der Papst übergibt seine Brille an den sehr ernst umherschauenden Cavaliere Pio Centra, schlägt ein Bein über das andere, nimmt eine doch sehr ikonische Haltung ein und blickt mit einem breiten Grinsen in die Kamera.

Vom Original zur KI-Restaurierung

Originale dieser Aufnahmen lagern in der vatikanischen Filmothek. Kopien hatten sich freilich weltweit in den fast 130 Jahren überall verbreitet. Doch erst mit dem Internet erhielten die Aufnahmen ein weltweites Publikum.

Der erste Upload des Clips geschah 1997, so zeigen Recherchen im Internet Archive, für die Webseite catholic-forum.com, die 2016 eingestellt worden ist und nur noch im Digitalarchiv zugänglich ist. Seitdem die Dickson-Aufnahmen online verfügbar waren, erschienen sie auf mehreren Webseiten und wurden auch mehrfach im linearen Fernsehen ausgestrahlt.

Der erste YouTube-Upload – einer noch mit den italienischen Credits im Vorspann – fand am 11. Mai 2010 statt. Der Account "uCatholic" gehört zum gleichnamigen Nachrichtenmedium aus den USA. Einige amerikanische Sammlungen verfügten über Kopien, die noch um die Jahrhundertwende angefertigt worden waren, und stellten sie der Webseite zur Verfügung. Die Grundidee der Filmaufnahmen war ja seinerzeit im Oval Office, den amerikanischen Katholiken um 1900, "denen eine Pilgerschaft nach Rom aufgrund der großen Entfernung verwehrt war, dennoch eine Begegnung mit dem Heiligen Vater zu ermöglichen". Sowohl die Website catholic-forum.com wie auch der YouTube-Channel "uCatholic" folgten diesem historischen Ansinnen und transportierten es so in die digitale Sphäre.

Im Jahr 2021 restauriert der Medienmacher David Martin die Aufnahmen. Unter anderem mithilfe einer KI-Anwendung kolorierte er die Aufnahmen, verbesserte ihre Auflösung und ließ die Bewegungen flüssiger erscheinen. Hierbei unterstützen ihn zeitgenössische Dokumente und vergleichende Bildaufnahmen sowie noch existente Museumsstücke. Er schätzt, dass er hierfür fünf bis zehn Stunden pro Sekunde Arbeitsaufwand hatte. Sein vor drei Jahren hochgeladene Film-Restaurierung hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt 6,4 Millionen Views. Er fügte dem Stummfilm eine Aufnahme von Johann Sebastian Bachs Kantate "Jesu, der du meine Seele" (1724, BWV 78) als Begleitmusik bei.

Seit der Einführung von YouTube Shorts entwickelten sich unzählige Varianten des Materials. Die Kombination von digitaler Technik und künstlicher Intelligenz ermöglicht eine drastische Begegnung mit dieser 1810 geborenen Figur.

Der 91-sekündige Clip von Leo XIII. zeigt, dass Theologie immer auch Medientheorie meint. Es ist daher kein Zufall, dass sich seit der Frühzeit und besonders im Mittelalter beispielsweise Thomas von Aquin den Kopf über die "Idiomenkommunikation" (Communicatio idomatum, deutsch: Austausch der Eigenschaften) zerbrach. Theologie analysiert, systematisiert und macht urbar nicht nur die Wirkweisen des Heiligen Geistes in der Welt, sondern hilft zu verstehen, wie dieser Geist in einer sinnlichen Welt von einem Antlitz zum nächsten springt. So ist der Film für die Religion nicht nur eine technische Revolution, die digital umso virulenter wird. Vielmehr tangiert Film die Glaubenskommunikation auf der Ebene der Repräsentation, Autorität, Authentizität und letztlich Realität.

 

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