Nachdenkliches über Leben und SterbenEin Buch von Lorenz Jäger

Meer und Horizont
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Was für ein Thema! Und was für ein Buch! Was die Menschen seit Urväter Zeiten über ein gutes Leben und ein gutes Sterben gedacht und in heiligen Büchern kodifiziert, in Mythen und Märchen ausgemalt, in philosophischen Traktaten durchdekliniert und in lebensnahen Romanen konkretisiert haben – Lorenz Jäger hat es aufgelesen, durchgearbeitet, kondensiert, miteinander vermittelt und zu einem informationen- und gedankenreichen Buch verarbeitet, das eine extreme Erfassungsbreite mit einer außerordentlichen Prägnanz der Darstellung und großer Gedankentiefe verbindet. Gegenstand ist das «süße», aber auch «fliehende» Leben im Horizont seiner Endlichkeit, die einst in einer gotterfüllten Ewigkeit aufgehoben zu sein schien, seit dem Beginn der Moderne aber als definitiv endlich gilt, es sei denn, es komme jetzt, wie manche glauben, zu einer «anthropologischen Wende», die dem Menschen durch genetische Veränderungen ein ewiges Leben schenkt. Dann dürfen wir nicht nur wie Methusalem über 969 Jahre hienieden verweilen, sondern dürfen oder müssen, wenn kein Verfallsdatum einprogrammiert ist, ewig leben und hoffen, dass uns das Dasein nicht überdrüssig wird.

Jäger beginnt mit den alten Epen – Gilgamesch, Ilias und Odyssee – und der Bibel (23ff). Leben heißt vielerlei, auch Katastrophales, erleben und ertragen zu müssen, wie nicht nur der «große Dulder» Odysseus erfahren muss. Aber die Bibel sagt auch, «dass es ein Leben gibt, das seine Möglichkeiten ausschöpft» und die Menschen «alt und lebenssatt», wie es immer wieder heißt, sterben lässt (36). Die Kunst des Lebens und Sterbens in postpatriarchalischer Zeit besteht darin, dies in den 70 oder 80 Jahren zu erreichen, die der Psalmist uns lässt. Was die Philosophen dafür empfahlen, rekapituliert Jäger in einem zweiten Streifzug, der in großen Schritten von Platon über Lukrez, Epikur, Cicero und Michel de Montaigne bis in die Moderne zu Walter Benjamin und Edmund Husserl führt. «Philosophieren heißt sterben lernen», sagt Montaigne mit einer Reverenz an Cicero, und: «Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lehren», weil sie dann den Tod nicht mehr fürchten würden, sondern das Leben angstfrei gestalten könnten (51).

«Leben besteht darin, dass man altert», lautet ein Satz von Henri Bergson (60), mit dem ein weiteres Kapitel über die Lebensalter beginnt, wiederum mit tiefsinnigen Zitaten, aber auch mit schönen, ermutigenden Sätzen des Verfassers selbst: «Man soll sich über das Altern nicht beklagen. So vieles daran ist einzigartig schön. Wenn es gut ging, sieht man, wie der Lebensentwurf sich rundet, die Leistung der vergangenen Jahrzehnte bekommt erkennbare Kontur; Kinder, vielleicht sogar Enkel, die lange Sorgen gemacht haben, steuern in sichere Bahnen. Man kann sich selbst anders verstehen. Was früher im Denken getrennte Massen waren, fügt sich jetzt zueinander, verschmilzt vielleicht.» (70f) Es kommt, mit Goethes Worten gesprochen, zur «Steigerung» oder «Verdichtung dessen, was ist und geblieben ist». An Krankheit und anderen Beschwernissen des Alters geht Jäger nicht vorbei, aber er will sie nicht überbewerten. Freilich schließt er mit den Worten des Psalmisten: «Verwirf mich nicht in den Tagen des Alters; wenn meine Kräfte schwinden, verlass mich nicht.» (75)

Die nächsten Kapitel gelten den Themen «Leben schenken» (Fortpflanzung), «Das Leben nehmen» (sei es im mörderischen Affekt wie bei Kain und Abel oder im Krieg oder bei der juridischen Exekution) und «Nicht leben wollen»: ein Kapitel über den Selbstmord, das mit einer eindrucksvollen Rekapitulation und Erörterung der im Selbstmord endenden Geschichte des Königs Saul beginnt und dann durch die Geschichte der Philosophie und Literatur von Cicero über Dante und Goethe, Turgenjew und Marx bis zu Jean Améry und Sibylle Lewitscharoff weiterschreitet. Die Auseinandersetzung mit dem Selbstmord oder «Freitod» (Améry) als einer Kapitulation vor dem Leben war für Philosophen und Dichter allemal eine besondere Herausforderung und ist es angesichts der aktuellen Debatte über assistierten Suizid erst recht wieder. Wie in allen Kapiteln geht es Jäger auch hier nicht darum, eine bestimmte Sicht gewissermaßen durchzusetzen, sondern darum, dem Leser die reflektiertesten Positionen in pointierter Form und wechselseitiger Erhellung als Material für die eigene Denkarbeit anzubieten. Das Buch ist eine intellektuelle Dienstleistung, für die man nicht genug dankbar sein kann!

«Kunst des Sterbens», heißt es im Kapitel «Der eigene Tod», «wäre: in gewisser, je verschiedener Weise den Tod als den ‹eigenen› annehmen zu können. Er käme nicht als ein Fremder, sondern als Ende unseres (und nicht irgendeines) Lebens» (167). Wie ist das zu erreichen? Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke, Georg Simmel und Martin Heidegger geben Hinweise, die zu realisieren freilich Sache des je einzelnen ist. Geglückt scheint es in einer «Romangeschichte» der 2019 verstorbenen Schriftstellerin Brigitte Kronauer zu sein, in welcher ein Greis, «dem der baldige Tod klar vor Augen steht», im Anblick von Grünewalds Isenheimer Altar noch einmal seine ganze religiöse Entwicklung, seine sich wandelnde Einstellung gegenüber Gott und Welt, Leben und Tod durchläuft und «bewusst und wach», «ohne Illusionen und Bitterkeit» dem, was nun kommt, entgegenblickt (in Kronauers letztem, 2019 erschienenen Buch Das Schöne, Schäbige, Schwankende) (236).

Das letzte Kapitel steht unter der Überschrift «Letzte Worte» und schließt mit einer zwei Seiten umfassenden Erläuterung der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz. Hier bewährt sich noch einmal Jägers Kunst der profilierenden Darstellung: «Die letzten Worte am Kreuz sind die wenigen nun noch möglichen und vor allem sinnvollen, der Situation angemessenen. […] Alles Unwesentliche fällt ab. Angesprochen werden jene, die gerade noch nah sind: die Kreuzigenden, die Feinde also, denen Jesus vergibt. An die Mitgekreuzigten richtet er ein Wort des Hoffens in der höchsten Not. Seine Mutter und den Lieblingsjünger bittet er zum Abschied, sich gegenseitig zu stützen. Das Sterben ist nicht in einem isolierten einzelnen Wort zu bannen; es ist ein Prozess, und dieser gibt den Stationen der sieben letzten Worte die Form. Von höchstem Realismus ist die Bewegung von Gottverlassenheit zur Sicherheit (die der Mensch sich in Hoffnung übersetzten muss), das ihm – und nur ihm – Aufgetragene erfüllt und vollbracht zu haben, und zum Gottvertrauen. Am Ende ist es kein fixierter Standpunkt, sondern eine an den Prozess angeschmiegte Bewegung, die diesen letzten Worten ihre Glaubwürdigkeit verschafft.» (245)

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Nachdenkliches über Leben und Sterben: Ein Buch von Lorenz Jäger
Lorenz Jäger

Rohwolt Verlag: Berlin 2024, 272 S., € 25, –.

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