Jede Geschichte hat drei Seiten.“ Das ist ein geflügeltes Wort in Amerika. Es weist darauf hin, dass wir alle immer mit unseren jeweiligen Erfahrungen, Prägungen und Voreinstellungen auf einen Sachverhalt blicken – und dass sich ein Vorgang entsprechend unterschiedlich darstellt. „Deine Perspektive, die Perspektive der anderen und die Wahrheit“, so heißen laut der Redensart die drei Sichtweisen (Yours, Theirs and the Truth).
Kommunikationstheoretisch ist das sicher unterkomplex. Trotzdem hilft diese Unterscheidung, die Dinge besser zu sortieren und einzuordnen. Auch das Attentat auf den Aktivisten und Meinungsmacher Charlie Kirk.
Fangen wir mit der dritten Kategorie an, der Wahrheit. Oder anders gesagt: Mit den Fakten, die wir derzeit über das Verbrechen wissen. Das sind, auch mehr als eine Woche nach der Tat, gar nicht mal so viele. Klar ist, dass ein junger Mann einen anderen jungen Mann erschossen hat. Ein Leben wurde ausgelöscht, eine Ehefrau zur Witwe und zwei kleine Kinder zu Halbwaisen gemacht. Genau deshalb ist die abscheuliche Tat ohne Wenn und Aber verdammenswert. Ebenso übrigens wie das Attentat auf die demokratische Politikerin Melissa Hortman und ihren Ehemann im Juni.
In eigenartigem Kontrast zur dünnen Faktenlage stehen die beiden anderen Kategorien – Yours und Theirs –, also die deutenden Perspektiven auf das furchtbare Geschehen. Das Attentat wird nämlich von beiden politischen Lagern in den USA ganz unterschiedlich „erzählt“, und ja, auch instrumentalisiert. Und das in beträchtlichem Umfang, unversöhnlich, mit erneut gesteigerter Wut und Wucht.
Da sind die einen – die „Linken“, die Demokraten –, die das verrohte gesellschaftliche Klima dafür mitverantwortlich machen, dass sich ein junger Mann derart radikalisiert hat, dass er zum Attentäter wurde. Sie werfen dem politischen Gegner vor, mit seinen populistischen bis rechtsextremen Parolen den Hass gesät, die Gräben im Land aufgerissen zu haben. Ins Abscheuliche gesteigert wird dieses Narrativ, wenn Einzelne den Tod Kirks, wie geschehen, im Internet regelrecht feiern.
Und da sind die anderen: die Republikaner, die MAGA-Bewegung. Für sie sind die „linke Ideologie“, der „Woke-Wahnsinn“ schuld an der Misere. Sie rufen jetzt erst recht zum Kampf auf. „Ihr habt keine Ahnung, was ihr gerade entfesselt habt“, so Kirks Witwe Erika fast schon drohend.
Derzeit deutet leider nichts darauf hin, dass die Menschen in Amerika angesichts des Attentats wieder oder neu zueinander finden. Im Gegenteil: Beide Seiten, vor allem das Trump-Lager, scheinen brachial zur Attacke auf den politischen Gegner zu rüsten. Dabei wäre ja auch denkbar, dass der Schrecken – wie weit ist es mit uns gekommen! – zu einer neuen Nachdenklichkeit führt. So wie wir am letzten Sonntag am Fest Kreuzerhöhung begehen konnten, dass ein Marterinstrument zum Symbol der Versöhnung wurde. Aber in den USA ist derzeit nichts dergleichen zu sehen.
Es fehlt, wenn man so will, die vierte Seite dieser „Geschichte“: die Formulierung einer konstruktiven Handlungsempfehlung. Wo soll sie auch herkommen? Die Kirchen hätten eigentlich die entsprechende Kompetenz. „Leid muss nicht zu Gewalt führen“, hat Papst Leo soeben erinnert.