Dem für den Newsletter der Gazeta Wyborcza zuständigen Redakteur Jan Latała fiel es am Morgen nach der Wahl nach eigenen Worten schwer, den Lesern einen „Guten Tag!“ zu wünschen. Er schrieb von „Schock, Unglauben, Ärger, Enttäuschung“. Vor allem aber von Unsicherheit: „Wie ist es möglich, dass Karol Nawrocki siegte? Wer ist an der Niederlage von Rafał Trzaskowski ‚schuld‘?“ Schlichte Fragen, auf die es nicht sogleich gute Antworten gibt.
Festzuhalten ist zunächst, dass in einer zweifellos demokratischen Wahl und bei einer Rekord-Wahlbeteiligung der von der oppositionellen PiS-Partei unterstützte Historiker Nawrocki 50,89 Prozent der Stimmen erringen konnte. Er überholte damit den Warschauer Stadtpräsidenten Trzaskowski, der von den Regierungskoalitionären unterstützt wurde und 49,11 Prozent erreichte. Der Unterschied betrug lediglich 370000 Stimmen! Dieses Ergebnis widerlegte die meisten medialen Erwartungen und Voraussagen. Denn die Mehrheit der Publizisten sah einen – nicht zuletzt moralischen – Abgrund zwischen dem angesehenen Stadtpräsidenten und dem konservativen Historiker, dessen Vita, wie sich im Laufe des Wahlkampfs herausstellte, manche dubiose Etappen und Flecken aufwies. Sein Sieg schien „unmöglich“.
Der Souverän entschied anders als gedacht oder erhofft, und die ersten Kommentare der polnischen Presse verwiesen zunächst auf das exakt „gehälftete“ Land, aber noch mehr auf die „Rote Karte für Donald Tusk“, der seit 2023 die bürgerlich-liberale Regierung anführt. Diese Metapher führt sicherlich auf die richtige Spur. Viele Wählerinnen und Wähler außerhalb der Metropolen und diejenigen, die in „normalen“ Berufen arbeiten, wissen sich bei Tusk und seinem Kabinett nicht wirklich aufgehoben. „Die Polen haben heute kein gutes Leben“, merkt der innenpolitische Redakteur des Krakauer Tygodnik Powszechny, Marek Kęskrawiec, an. „Viele, vor allem junge Menschen, haben das Gefühl, von einem Tag auf den anderen zu leben, ein eigenes Haus ist für sie zum Beispiel völlig unerreichbar. Denn obwohl es in Polen viel Arbeit gibt, ist sie meist schlecht bezahlt und es ist schwierig, Zukunftspläne zu machen.“ Und für diese Menschen, so Kęskrawiec, liege die Wahl von Nawrocki, der Sohn eines Drechslers ist, näher als die Wahl Trzaskowskis, der einer bekannten Musikerfamilie entstammt und Zögling eines Warschauer Elitegymnasiums ist.
Ob man mit dem Kommentator der populären katholischen Wochenzeitung Gość Niedzielny („Sonntagsgast“) von der „Arroganz der Macht“ sprechen kann, sei dahingestellt. Auffällig ist, dass die Anzahl der jungen Wähler, die sich für Nawrocki entschied, überraschend hoch ausfiel, somit das Stereotyp von der PiS-Partei als einer „Seniorenriege“ sich als überholt erwies. Ist die Wahlentscheidung der Jungen, so muss man jetzt fragen, vor allem der Ausdruck eines innenpolitischen Unmuts – oder auch eine gelbe Karte für Europa, mit der nicht zuletzt auch die Distanz zu Deutschland angezeigt wird? Karol Nawrocki hatte im Wahlkampf durchaus „die deutsche Karte“ gespielt, also antideutsche Töne angeschlagen und sich als ein nationaler Bremser des europäischen Vorwärts präsentiert.
Mögen diese Wahlen auch einen „Abschnitt in unserer Geschichte abschließen“, kommentiert Pater Adam Boniecki, der Redaktor-Senior des Tygodnik Powszechny, so solle man ihre Bedeutung auch nicht überschätzen. Das Präsidentenamt sei in Polen zwar nicht lediglich dekorativ, aber von einer wirklichen Machtfülle doch entfernt.
Wesentlicher erscheint Boniecki die Beantwortung der hoffentlich nicht „naiven“ Frage, wie die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden sei. Der erste Schritt könnte die „Dämpfung der Emotionen“ sein: „Denn das eine ist, sich zu unterscheiden, das andere, sich feind zu sein.“ Hier haben die Wahlen auf Besorgniserregendes hingewiesen, auf den europäischen Trend, mit Populismus auf Komplexitäten zu reagieren. Im Blick auf den neuen Mann im Warschauer Präsidentenpalast schließt Boniecki: „Wir haben jetzt einen Präsidenten, den eine (kleine) Mehrheit gewählt hat. Die wesentliche Frage ist jetzt, ob er sich als ein Mann erweisen wird, der auch unterschiedliche Menschen zusammenbringen kann oder nicht.“