Seit ich denken kann, tanze ich. Eine meiner ältesten Erinnerung ist, wie ich als Vorschulkind anderen vortanze. Noch als (Theologie-)Studentin habe ich überlegt, ob und wie ich Tanz zu meinem Beruf machen könnte. Dazu ist es nicht gekommen, ich wurde und bin gern Theologin. Und ich bin dem Tanz treu geblieben. Für mich sind diese beiden Tätigkeiten, Tanzen und Theologie treiben, durchaus verwandt: Es geht darum, Fragen, die das Leben an mich, an uns stellt, zu beantworten. Als (zumal evangelische) Theologin bewege ich biblische Gedanken, vorzugsweise im „Kopf“, als Tänzerin bewege ich mich selbst, meinen ganzen Körper, von Kopf bis Fuß.
Irgendwann fiel mir auf, wie oft und wie viel Körperliches in biblischen Texten erwähnt wird, nicht nur in Psalm 139. Es geht um Füße und Knie, Kehle und Atem, ums Stehen und Gehen, die Bibel ist gewissermaßen auch ein körperpädagogisches Buch. Wir überlesen das oft, weil wir so daran gewöhnt sind, konkrete körperliche Ausdrücke eher metaphorisch und im übertragenen Sinn zu verstehen, „näfäsch“ ist für uns eben Seele statt Kehle, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen.
Auch Tanz kommt selbstverständlich in biblischen Texten vor, oft mit „Reigen“ übersetzt. Nicht zufällig ist Miriams Tanz nach der gelungenen Flucht aus Ägyptenland Ausdruck für die neu gewonnene Freiheit. Der Text in Exodus 15,20f ist vermutlich der älteste Text der hebräischen Bibel. Die Erinnerung an den Tanz ist sicher älter als die Erinnerung an die lange Rede des Mose zum gleichen Ereignis. Freude lässt sich nun einmal leichter tanzend ausdrücken als in einem Wortbeitrag.
Worum geht es eigentlich beim Tanzen? Der Bewegungsforscher Praneeth Namburi (Massachusetts Institute for Technologie) bringt es so auf den Punkt: „Das Visuelle mag beim Tanz wichtig sein, aber der Heilige Gral ist die kinästhetische Selbstwahrnehmung, sich selbst die ganze Zeit zu spüren.“ (Warum wir tanzen, 2022). Dieser kinästhetische Sinn ist überlebenswichtig, und war lange Zeit wenig im Bewusstsein. Ohne diesen Körper-Spür-Sinn könnten wir im Dunkeln nicht gehen, er ermöglicht uns, mit genau der richtigen Kraft eine Kaffeetasse zum Mund – und nicht zehn Zentimeter daneben – zu führen. Und diesen Sinn nutzen wir, wenn wir uns im Tanz bewegen – allein oder mit anderen.
Diese Fähigkeit, dieser Sinn ist uns so selbstverständlich, dass es lange keinen Namen dafür gab. Für die Tänzerin und Tanzpädagogin Barbara Mettler ist er zentral: „Alle Menschen haben einen Sinn für Bewegung: den kinästhetischen Sinn. Er besteht aus Nervenspitzen in Muskeln und Gelenken, die das Gehirn genauestens benachrichtigen, wie wir uns bewegen. Andere Sinne, wie das Sehen, Hören, Berühren (Tastsinn), geben von der Umwelt Kenntnis – der kinästhetische Sinn sagt, was in unserem Innern vor sich geht“ (Mettler, 1984, S. 7).
Bewegen ist gut für die Gesundheit, ich brauche aber auch Bewegung, um mich selbst zu spüren, um zu spüren, dass ich da bin, dass ich lebendig bin – biblisch gesprochen: dass ich meine Geschöpflichkeit spüre. Ich kann mir dafür keine bessere Möglichkeit vorstellen als zu tanzen. Gerade Tanzen macht uns „gesünder, klüger und glücklicher“, davon sind die tanzenden Neurowissenschaftler:innen Julia F. Christensen und Dong-Seon Chang (2018) überzeugt.
In der Tanzwissenschaft ist durchaus unklar, was genau „Tanz“ eigentlich ist, so wird das auch für die Leser:innen dieses Beitrags sein. Vielleicht denken Sie an (schreckliche) Tanzschulerfahrungen zurück, an komplexe und streng vorgegebene Schrittmuster, vielleicht lieben Sie klassisches Ballett oder Ausdruckstanz wie bei Pina Bausch, vielleicht gehen Sie regelmäßig Sonntagabends zu einer Tango-Milonga oder aber Sie lassen sich nur bei Rockmusik auf die Tanzfläche locken.
Tanz ist ungemein vielfältig, und gehört zum Menschsein dazu. Von der Steinzeit an entwickelte jede Zeit und jede Kultur ihre eigenen Tänze. In Israel gehören die seit den 1930er-Jahren entstehenden Folk-Dances einfach dazu, nahezu alle, vor allem auch sehr viele Männer, tanzen (Röckemann, 2016). In Argentinien gehört Tango zur nationalen Identität. „Eine vergleichbare Wertschätzung des Tanzes – sei es als Volkstanz, Gesellschaftstanz oder künstlerischer Tanz – gibt es in Deutschland nicht. Eine gebrochene und unterbrochene politische und soziale Geschichte, durch Nationalsozialismus und Teilung nach 1945, führte zu einer schwierigen und widersprüchlichen Einstellung zum Tanz und seiner Wissens-Geschichte“ (Brandstetter, 2013, S. 228).
Nicht nur in der Gesellschaft, gerade auch in Kirche und Theologie ist das Verhältnis zum Tanz eher schwierig. Das habe ich, als ich im Studium nach Verbindungen suchte, der Literatur entnommen, und ich kenne es aus meiner Familiengeschichte. Meine Großmutter wäre 1958 beinahe nicht zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter gegangen, sie befürchtete, es würde getanzt. Und Tanz – und ungefähr alles, was Spaß macht – war weltlich und damit Sünde.
Tanz ist die elementarste, die erste Kunst, ist Barbara Mettler (1907-2002) überzeugt, mit ihrem Ansatz befasse ich mich seit einigen Jahren. Die amerikanische Tänzerin hat ihre entscheidenden Anregungen der Mary Wigman Schule in Dresden zu verdanken. „Jeder Mensch ist ein Tänzer“, davon war sie genauso wie auch Rudolf Laban überzeugt. Sie entwickelte eine Tanzpädagogik, die alle Menschen, mit und ohne Bewegungseinschränkungen, zum Tanzen bringen kann. Tanz ist für sie die „Kunst der Körperbewegung“ (Mettler, 1984, S. 41), diese Bewegung kann trainiert werden, besonders wichtig war ihr jedoch, dass Menschen ihre eigenen Bewegungen finden, ihren Tanzstil nannte sie daher „schöpferischen Tanz“.
Wie kann Tanz nun bei Predigt und Gottesdienst helfen? Dazu drei Gedanken.
Unabhängig vom Tanzstil, ob frei und schöpferisch oder mit vorgegebenen Schritten und Choreografien, scheint es mir in den meisten Fällen eine Überforderung sowohl für die Gemeinde als auch für die Anleitenden zu sein, eine Gottesdienstgemeinde zum Tanzen zu bringen, es sei denn, es wird ausdrücklich zum Beispiel zu einem Tangogottesdienst eingeladen. Die Predigt kann ich mir dagegen sehr gut als Tanz vorstellen, also Tanz als visuelle Kunst, zum Zuschauen – mit professionellen Tänzer:innen. Da Gottesdienstbesucher:innen vermutlich eher selten regelmäßig zum Tanztheater gehen, gilt es, Tanz im Gottesdienst gut einzuführen, gegebenenfalls auch verstehende Hinweise zu geben.
Allerdings, das ist mein zweiter Punkt, fände ich es sehr wünschenswert, wenn Tanz ein selbstverständlicher Teil der Gemeindearbeit wäre. Tanz braucht keine Sprache, keine Bildungsvoraussetzungen, Tanz hat daher die Fähigkeit, Menschen über Kultur- und Milieu-Grenzen zu verbinden. Heike Walz (2020, S. 30) versteht „Tanz als ‚Dritten Raum‘ [Homi Bhabha] für interreligiöse und interkulturelle Begegnungen“. Im Quartier gibt es sicher Menschen, die einfache Mitmach-Tänze anleiten können. Und kaum etwas stärkt das Zugehörigkeitsgefühl, das wir alle in diesen Zeiten so nötig brauchen, so gut wie ein gemeinsamer Kreistanz. Tanzen stärkt das Selbstbewusstsein, weil ich mich spüren kann und ich mich (in der Regel) aufgerichtet bewege, all das stärkt Menschen, ganz ohne intellektuelle Voraussetzungen. Die Tanzphilosophin Kimerer L. LaMothe ist überzeugt: „Tanz ist ein unglaublich wirksames Mittel, um uns mit uns selbst zu verbinden, mit anderen Menschen und unserer natürlichen Umgebung“ (Warum wir tanzen, 2022).
Und schließlich bin ich überzeugt, dass Prediger:innen davon profitieren, wenn sie nicht nur nachdenken, sondern auch eben tanzend nachdenken, eben nach-tanzen. „Tanz setzt Erkenntnisprozesse in Bewegung und löst Denkprozesse aus“, bringt es Heike Walz auf den Punkt (Walz, 2020, S. 31, vgl. Christensen u. Chang, 2018, S. 127ff.). Tanzen macht den Kopf frei, es fordert mehr und andere Sinne als die Arbeit am Schreibtisch – und kann damit auch für die Predigt schöpferische, neue, überraschende Erkenntnisse hervorbringen. Wenn wir uns bewegen, kommen auch unsere Gedanken in Bewegung. Das kann sicherlich auch ein Spaziergang sein; kreativer und vielfältiger – für die Bewegungen in Kopf und Körper – aber ist der Tanz.
Literaturtipps:
Brandstetter, Gabriele (2013): Tanz. Wissensübertragung in Bewegung, in: Colleen M. Schmitz (Hrsg.): tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen (S. 225-230). Zürich/Berlin: diaphanes.
Christensen, Julia F., Chang, Dong-Seon (2018): Tanzen ist die beste Medizin. Warum es uns gesünder, klüger und glücklicher macht. Reinbek: Rowohlt.
Mettler, Barbara (1984): Tanz als Lebenselement. Zürich: Musikhaus Pan AG.
Röckemann, Antje (2016): Hora! Tanzen mit einem glücklichen Herzen. Wie ich Israelischen Volkstanz neu entdeckte. Online: https://leichtund-sinn.de/hora-tanzen-mit-einem-gluecklichen-herzen/ (Zugriff am 19.12.2024).
Walz, Heike (2020): Dance with God or the Devil? Interreligious and Intercultural Debates on Dance and Religion(s). Internationale Forschungskonferenz, in: Augustana-Journal 2020/21, S. 30-34, Neuendettelsau.
Filmtipp:
Warum wir tanzen. Die Kraft der Bewegung (2022). Dokumentarfilm, Regie Nathalie Bibeau, Drehbuch Allen Booth. Trailer online: https://www. youtube.com/watch?v=aeW-D0haR00