Beim Läuten der Glocke

Eben läutet die Glocke vom nächsten Dorf, die ich so gerne höre. Sie haben nicht viele Glocken. Es ist 18.00 Uhr, und sie erinnert mich an das Vater Unser-Gebet. Ich bin auf dem Weg über die Felder vom Markt zu unserem Häuschen im Odenwald. Pferde, Wiesen, Ende Juli viele Pfützen. Ein Traktor kommt mir entgegen, ich bleibe stehen, er weicht unnötig aus, sackt nach links weg und kommt auf mein Zeichen wieder in die Spur. Die Glocke läutet weiter …

Eine Menge Leute stehen auf meiner „gefühlten“ Liste. Den meisten habe ich versprochen, für sie zu beten. Andere wissen davon nichts. Das muss auch nicht sein. Früh habe ich verstanden, dass das Gebet für andere ein wesentlicher Teil unseres Dienstes ist. Immer habe ich mir dafür Zeit genommen.

Eine alte Frau, längst verstorben, war mir vor zig Jahren darin ein Vorbild.
Sie konnte kaum noch gehen, saß zu Hause, Zeitung lesend in einem Korbsessel vor ihrem Tisch. Man brachte ihr das Essen warm zubereitet, die Post an die Tür, die Diakonie hatte einen Schlüssel und die Ärzte ein Herz.
Sie saß da. Hatte kein verhärmtes Gesicht. War nicht nachtragend, auch wenn die Kinder unten auf dem Spielplatz oft laut waren.
Sie sagte - wenn man sie fragte -: Mehr geht nicht mehr. Das ist mein Beitrag. Ich bete bei offener Zeitung und mit offenen Ohren. (Sie wird es weniger kurz, erst recht nicht fast lyrisch gesagt haben.)
Täglich las sie die Traueranzeigen und betete für die Hinterbliebenen.
Montags las sie den Sportteil und betete für die Verlierer.
Samstags las sie die Ankündigungen von Gottesdiensten und betete für die Pfarrerinnen und Pfarrer.
Dienstags ging sie in Gedanken über den Markt, mittwochs las sie den Veranstaltungskalender, freitags betete sie für die wenigen Juden unserer Stadt.
Und das tagaus, tagein.
Bei Feiertagen suchte sie Varianten, bei schlimmen Nachrichten auf der ersten Seite wurden die Gebete länger. Und einmal sagte sie, sie bete auch für mich. Jeden Tag. Für mich war sie ein Gebets-Engel in unserer Stadt.

Längst durfte ich sie beerdigen. Von ihrem „Gebetsgeheimnis“ weiß niemand. Ich habe auch den Kindern nicht davon erzählt. Diese Kostbarkeit weiß Gott, der ein offenes Ohr hat, und nur gelegentlich der, dem man im Vertrauen davon erzählt.

Als ich damals kam, um sie zu besuchen, lag die Seite mit den Todesanzeigen unserer regionalen Zeitung offen auf dem Tisch. Ich fragte nach. Erzählte, dass - so langsam - auch ich eher das Geburtsjahr lese, die Überschriften sowieso.
Sie sah mich - über ihre Brille - an und schwieg.
Selbst ihr Schweigen war Gebet.

Nun bin ich dreißig Jahre älter.
Mein Gebet hat sich wenig geändert. Ich beginne mit dem Vater Unser, füge alle die an, für deren Genesung, Heilung und Klärung ich bitte. Für jede und jeden ein zusätzlicher Gedanke.
Es sind Namen, die Gott seit vielen Jahren aus meinem Gebet kennt. Manche kommen nicht mehr vor - sie sind längst in Gottes guter Hand. Andere kommen neu dazu.
Natürlich ist da das „Familiengebet“ - alle Kinder und ihre Partner und Partnerinnen, alle Enkel und ihre Freunde, Verwandte, Vertraute, auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der PASTORALBLÄTTER.

Ich hatte noch wenige hundert Meter zu unserem Haus. Pferde, Wiesen, Bäume.
Der Traktor kommt mir entgegen. Ich bleibe links stehen. Er weicht aus, kommt ab vom betonierten Weg. Dann hat er verstanden, dass ich stehen bleibe, und findet zurück. Wir winken uns freundlich zu.
Noch immer läutet die Glocke. Glocken haben eine lange Geduld. In Wiesloch hatte ich die „Vater unser“-Glocke auf 5 Minuten eingestellt. Beim ZDF sagte man mir, ein „Vater unser“ dauere bei Katholiken 45 Sekunden, bei Evangelischen eine Minute. Im Rundfunk und beim Fernsehen taktet man in Sekunden. Gott hat einen weiten Takt.

Auf schmierigem Weg - es „schmatzt“ bei jedem Schritt an diesem Juli-Wochenende. Später sehe ich die Nachrichten-Bilder. Andere haben große Probleme: Keller laufen voll, Bäche werden zu Flüssen. Die Nachrichten versprechen Besserung.

Ich erinnere mich an einen - aufgezeichneten - ZDF-Gottesdienst. Wir machten damals zwei Fernsehgottesdienste im Doppelpack. Einen - für später - freitags, einen live sonntags. Der vom Freitag wurde ein Jahr später ausgestrahlt. Tage zuvor gab es die schlimme Oder-Flut. Natürlich wusste ich ein Jahr zuvor davon nichts. Da war kein Gebet für die Opfer, kein Gebet für die Helferinnen und Helfer, nur der Gottesdienst aus der „Dose“.

Die „Vater unser“-Glocke klingt aus. Ich habe das nicht bemerkt. Ich denke: So geht es mir fast jeden Morgen, fast jeden Abend bei meinen zwei wesentlichen Gebeten, dass ich dann doch den Faden verliere.

Ich habe in meinem Leben oft den Faden verloren.
Nicht alle wissen das.
Das Gebet habe ich nie verloren.
Das Gebet hatte mich immer an der Leine.
Das Gebet hat mich immer gehalten.
Nie und nimmer würde ich sagen, ich hätte das Gebet (ein-)gehalten.
Mir war immer zum Beten zumute.

Die Glocken haben mir dabei geholfen.
Und jene Frau eben.
Und das Gebet der anderen.
Und - das meine ich zu spüren - Gott selbst.

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