Mit Pferd und AdlerNeulich in der Kita

Die Frühstückspause beginnt und alle Kinder strömen in den Raum. Als letzte geht Anna durch die Tür. Sie geht, nein, sie schreitet, langsam und aufrecht, die Augen weit geöffnet, ihr Blick konzentriert und klar. Neben mir bleibt sie stehen und dreht sich um. Ich will die Tür schließen, da hebt sie den Arm und sagt laut und deutlich: „Halt!“ „Wie bitte?“, frage ich irritiert und wundere mich über ihren entschlossenen Gesichtsausdruck. „Wieso soll ich die Tür nicht schließen?“
Anna hebt ihren Arm ein Stück weiter und schaut konzentriert nach oben durch die geöffnete Tür. „Mein Pferd und mein Adler sind noch nicht da!“, sagt sie mit lauter Stimme.
Jetzt hebt sie ihren Arm ein Stück weiter und wartet. Plötzlich dreht sie den Kopf und ein Ruck geht durch ihren Körper. Ihr Arm senkt sich ein wenig, dann hält sie ihn wieder nach oben, doch jetzt scheint sie dafür mehr Kraft zu benötigen. Der Adler ist auf ihrem Arm gelandet. Sie wirft ihm einen kurzen, verschwörerischen Blick zu und lächelt. Dann wird ihr Gesicht wieder ernst und sie schaut zur Tür und wartet.
Plötzlich macht sie einen Schritt zur Seite. Ich bin froh, schon auf der Seite zu stehen. Denn da kommt es tatsächlich. Ich sehe es kommen. Das Pferd schreitet durch die Tür und bleibt neben Anna stehen. Sie begrüßt es mit einem Flüstern. „Jetzt kannst du die Tür zumachen!“, sagt sie zu mir, wendet sich um und geht mit ihren Tieren an ihren Platz. Ich bin beeindruckt von ihrem erhobenen Kopf, ihrer Stärke, Ruhe und Macht.
Diese Begegnung geht mir den Tag über nicht mehr aus dem Kopf. Am selben Abend ist Elternabend. Die Turnhalle ist brechend voll mit Erwachsenen, ihren Fragen, ihren Themen und Gedanken. So leicht es mir fällt, vor den Kindern zu sprechen, so anstrengend finde ich es vor Erwachsenen. Ich bin zwar gut vorbereitet, doch trotzdem befällt mich direkt davor ein drückendes Lampenfieber.
Gerade will ich durch die Tür in die große Halle gehen, als mir die Situation des Vormittags wieder einfällt. Ich bleibe stehen. Dann drehe ich mich um und hebe den Arm vor den Körper. Ich warte. Und dann kommt er. Majestätisch gleitet der Adler den Flur entlang und landet mit einem Ruck auf meinem Arm. Ich begrüße ihn mit einem Senken der Augenlider. Dann trete ich zur Seite und lasse das Pferd durch die Tür. Ich heiße die beiden willkommen. Dann trete ich vor die Eltern und beginne zu sprechen. Mit erhobenem Kopf, aufrechter Haltung und vollkommen sicher!

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