In der Moderne ist die Existenz Gottes vielfach bestritten worden. Bei Jean Paul ist die Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, dass Gott tot ist und wir Menschen metaphysisch verwaist sind, ein Albtraum, aus dem es noch einmal ein dankbares Erwachen gibt. Bei Ludwig Feuerbach wird dies anders. Er wendet die Götzenkritik der Propheten Israels auf den biblischen Monotheismus selbst an und behauptet: Nicht Gott hat den Menschen geschaffen, sondern der Mensch Gott. Diesen Projektionsmechanismus gilt es zu entlarven, um die Selbstentfremdung des Menschen zu überwinden, die Schätze vom Himmel auf die Erde zurückzuholen und so die Menschwerdung der menschlichen Gattung voranzubringen. Friedrich Nietzsche hat dann den Tod Gottes proklamiert. Aber diese Proklamation ist nicht nur triumphalistisch erfolgt. Der Pfarrerssohn Nietzsche wusste, was fehlt, wenn Gott fehlt: Die metaphysischen Koordinaten der Wirklichkeit brechen weg. Oben und Unten geraten ins Schwimmen, wenn die Instanz fehlt, die dem Menschen Fixpunkte der Orientierung gibt.
Zugleich hat Nietzsche, der seinen experimentellen Denkstil in unterschiedlichen Maskeraden inszeniert hat, die Proklamation des Todes Gottes aber auch mit einem leisen Fragezeichen versehen: "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, solange wir noch an die Grammatik glauben." Setzt die sprachliche Verständigung zwischen Menschen nicht ein Sinnvertrauen voraus, das nur eine göttliche Instanz verbürgen kann? Aus der Zeitstruktur der Grammatik, dem Futurum exactum, hat der Philosoph Robert Spaemann ein Argument für Gott gemacht. Die Tatsache, dass Sie gerade diesen Beitrag lesen, ist wahr – und das wird für alle Zeiten wahr gewesen sein. Diese Wahrheit in Frage zu stellen, bedeute, den Wirklichkeitsstatus der Gegenwart schon jetzt auszuhöhlen. Um aber sicherzustellen, dass die Gegenwart, die wir erleben oder erleiden, für alle Zeit wahr gewesen sein wird, brauche es eine Instanz, die das erinnert. Eine solche Erinnerungsinstanz nennen wir Gott.
Moderner Atheismus als antidogmatisches Dogma
In der Philosophie bleibt allerdings strittig, ob Gott existiert oder nicht. Die klassischen Gottesbeweise, die seit Kant als erledigt galten, finden in der analytischen Philosophie schon länger wieder großes Interesse, aber ein Konsens zeichnet sich nicht ab. Auch können die unterschiedlichen Varianten des modernen Atheismus, die im Namen der Wissenschaft, des sinnlosen Leidens oder persönlicher Krisen die Existenz Gottes bestreiten, selbst zum antidogmatischen Dogma gerinnen. Die Taktik, alles in Frage zu stellen, kann sich zu einer unhinterfragten Position verfestigen, die sich gegen Transzendenzerfahrungen abdichtet und Sinnangebote als solche gar nicht mehr an sich herankommen lässt. Und eine Vernunft, die meint, die Nicht-Existenz Gottes beweisen zu können – überschätzt sie nicht ihre epistemischen Möglichkeiten?
In der Spur der biblischen Erzählungen muss der barmherzige Gott nicht von Leid und Geschichte ferngehalten werden, sondern er ist – paradox gesprochen – so stark, dass er auch schwach werden kann, die Vollkommenheit seiner Liebe ist so groß, dass er auch mitleiden kann.
Der italienische Philosoph Gianni Vattimo hat jedenfalls darauf hingewiesen, dass die Postmoderne alle metaphysischen Positionen, die letzte Gewissheiten verkünden, erschüttert habe, auch den modernen Atheismus. Man müsse daher nicht nur vom Tod Gottes, sondern auch vom "Tod des Atheismus" sprechen. Nicht Gott, sondern Nietzsche sei tot, der den Tod Gottes verkündet habe. Ob aber Gott lebe, sei in der postmodernen Landschaft wieder eine offene Frage, die nicht vorschnell verneint werden dürfe. Nach Vattimo ist es möglich, das Ereignis der Menschwerdung Gottes im Medium der Philosophie zu bedenken, auch deshalb, weil die Dynamik der Erniedrigung imperiale Machtansprüche unterlaufe und humanisierende Kräfte freisetze. Vattimo selbst, der bei anhaltender Säkularisierung eine "Wiederkehr der Religion" für durchaus möglich hielt, hat wiederholt an christliche Grundmotive wie kenosis und caritas erinnert, die engstens mit dem Glauben an die Inkarnation verbunden sind: kenosis steht für die Selbstentäußerung Gottes, der die Gestalt eines ohnmächtigen Menschen annimmt, um den Leidenden nahe zu sein, er setzt sich nicht in triumphaler Stärke durch, sondern leise und werbend, die Freiheit seiner potentiellen Adressaten achtend. Caritas aber steht für die Bewährung des Glaubens an die Inkarnation und ist geleitet von einer Compassion, die sich vom Leiden der anderen affizieren lässt und sich praktisch-politisch für die Überwindung dieser Leiden einsetzt.
Vattimo hat andere postmoderne Denker wie Jacques Derrida, der die Abwesenheit und radikale Andersheit des ganz Anderen in rhetorischen Kaskaden gefeiert hat, kritisiert. Man könne die geheimnisvolle Wirklichkeit des ganz Anderen auch dadurch entleeren, dass man immer wieder sagt, was Gott nicht ist: Nicht endlich, nicht leidensfähig, nicht zeitlich, nicht veränderlich. Ein solches Denken in Kategorien der Transzendenz und Alterität müsse durchkreuzt werden durch Kategorien der Entäußerung und Schwäche, die dem Ereignis der Menschwerdung entsprechen. Ohne das Denken Vattimos in allem zu unterschreiben, lässt sich dieser Impuls aufnehmen und sagen: In der Spur der biblischen Erzählungen muss der barmherzige Gott nicht von Leid und Geschichte ferngehalten werden, sondern er ist – paradox gesprochen – so stark, dass er auch schwach werden kann, die Vollkommenheit seiner Liebe ist so groß, dass er auch mitleiden kann. Gott ist, wie Bernhard von Clairvaux tastend sagt, zwar unveränderlich, aber doch nicht unbetreffbar: non incompassibilis.
Flüchtige Epiphanie des Heiligen
Geht das aber nicht zu weit? Wird durch die Menschwerdung die Transzendenz Gottes nicht doch verletzt? Juden und Muslime machen an dieser Stelle Reserven geltend. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat von der "prinzipiellen Inkarnationslosigkeit" des Judentums gesprochen – und Emmanuel Levinas hat gemeint, der Preis, der mit der Vorstellung der Wehrlosigkeit und Kenose verbunden sei, sei zu hoch. Er ziehe es vor, von Spuren der Transzendenz zu sprechen, die sich nicht festhalten lassen. Wie der Vorübergang der Herrlichkeit Gottes im Buch Exodus ereigne sich im Antlitz des anderen die flüchtige Epiphanie des Heiligen, die eine verantwortliche Antwort verlange. Die einmalige Präsenz Gottes im Fleisch des Menschen und Juden Jesus von Nazareth anzunehmen, das gehe zu weit.
Das wache Augenmerk für die Anstößigkeit des Glaubens an die Inkarnation kann für Christen und christlich sozialisierte Agnositer Anstoß sein, sich jenseits von kommerziellen Sentimentalitäten und der Verkitschung des Weihnachtsfestes produktiv irritieren zu lassen.
In den Traditionen des Judentums begegnet allerdings das Motiv der Einwohnung. Gott wohnt bei seinem Volk im Bundeszelt, er begleitet es auf der Wanderung durch die Wüste in der Wolkensäule bei Tag, in der Feuersäule bei Nacht. Später lässt er seinen heiligen Namen im Tempel wohnen. Nach der Zerstörung Jerusalems geht er mit ins Exil und leidet die Mühen und Beschwerden der Exilierten mit. Diese Vorstellungen einer Einwohnung gehen von einer geschichtlichen Zuwendung und Compassion Gottes aus. Das steht quer zum philosophischen Denken, das Gott die Attribute der Transzendenz, Unveränderlichkeit und Apathie zuschreibt. Der christliche Glaube an die Inkarnation greift die jüdische Theologie der Einwohnung auf, daher ist der Bindestrich in der Rede von "jüdisch-christlicher Tradition" gerechtfertigt, er geht aber einen Schritt weiter, wenn er bekennt: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." (Joh 1,14)
Wider die Verkitschung
Das menschgewordene Wort wird so zum singulären Medium der Gottespräsenz. Milad Karimi hat sich jüngst aus muslimischer Sicht mit dem Glauben an die Inkarnation auseinandergesetzt. Der Gedanke, dass der erhabene Gott seine Barmherzigkeit in einem wehrlosen Kind und dann im Leiden des Gekreuzigten zeige, sei für ihn nicht nachvollziehbar, ja anstößig. Diese Distanzmarkierung ist verständlich, da der Islam in Jesus Mariens Sohn und einen Propheten, aber nicht den Sohn Gottes sieht. Karimi verbindet seine Reflexion allerdings mit einer bemerkenswerten Annäherung, er lasse sich gerne von dieser für ihn fremden Vorstellung verstören, denn dass Christen in Krippe und Kreuz Orte der Barmherzigkeit Gottes sehen, berühre ihn und gebe ihm zu denken, da er Allah ja auch das Attribut der Barmherzigkeit zuschreibe.
In der Art und Weise, wie die Barmherzigkeit Gottes zu den Menschen kommt, über die Buchwerdung im Koran oder die Menschwerdung in Jesus Christus, gehen Islam und Christentum getrennte Wege. Das wache Augenmerk für die Anstößigkeit des Glaubens an die Inkarnation kann für Christen und christlich sozialisierte Agnositer Anstoß sein, sich jenseits von kommerziellen Sentimentalitäten und der Verkitschung des Weihnachtsfestes produktiv irritieren zu lassen. Dass der Unbegreifliche sich den Menschen auf menschliche Weise begreiflich machen wollte, ist das eigentliche Wunder von Weihnachten.
Die passio caritatis, die leidenschaftliche Liebe des Allerhöchsten hat sich erniedrigt und in einem verletzlichen Kind seine Compassion mit der zerrissenen Welt gezeigt. Das ist nicht nur ein verstörender Gedanke, sondern auch Anstoß für eine karitative Praxis, die das Gesicht der Welt verändern kann.