Gilt, was Stefan Zweig in der Einleitung zu seiner Biografie über Marie Antoinette schreibt, auch für Robert Prevost? Dass nämlich in der Weltgeschichte "tragische Spannung" nicht nur dann in Erscheinung treten kann, wenn ein Held oder Genie in Widerstreit gerät zu einer engen, feindseligen Umwelt, sondern auch dann, wenn eine "mittlere oder gar schwächliche Natur in ein ungeheures Schicksal gerät"? Der "mittlere Charakter", meint Zweig, wolle von Natur aus lieber "ruhig und im Schatten leben, in Windstille und gemäßigten Schicksalstemperaturen". Werde ihm aber von unsichtbarer Hand welthistorische Verantwortung aufgenötigt, könne es geschehen, dass ein Charakter "aus dem Bewusstsein höherer Verpflichtung" über sich hinauswächst.
Ein Papst, der kein Machtmensch ist?
"Menschen, die Robert Prevost persönlich erlebt haben, beschreiben ihn als freundlich und fleißig, als intelligent und gutmütig." Das wusste der Journalist Lucas Wiegelmann einen Tag nach der Wahl von Prevost zum Papst zu berichten. Und er ergänzte: Der neue Papst habe eine Kirche zu lenken, "die mit so vielen Problemen kämpft, nicht zuletzt mit innerer Zerstrittenheit", doch dass er "besonders durchsetzungsstark oder machtbewusst wäre", sei "bisher anscheinend kaum jemandem aufgefallen".
Offenbar ist Prevost das Gegenteil eines kirchlichen Alphatiers. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, der ihm mehrfach begegnet ist, charakterisiert ihn als "höflich" und guten Zuhörer. Und Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sagt, der neue Papst sei "zurückhaltend", "freundlich" und "nachdenklich".
Prevost leitete in den letzten zwei Jahren das wichtige Dikasterium für die Bischöfe im Vatikan und war damit so etwas wie der "Personalchef" der katholischen Kirche. Dort gab jedoch offenbar schon länger die Nummer Zwei der Behörde, Erzbischof Ilson de Jesus Montanari, den Ton an. Das normalerweise gut informierte Portal "The Pillar" schreibt: "In den letzten Jahren der Amtszeit von Kardinal Marc Ouellet als Präfekt des Dikasteriums galt Montanari als der eigentliche Entscheidungsträger in der Abteilung." Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich mit dem Amtsantritt von Robert Prevost daran etwas geändert hätte. Und während sich Marc Ouellet für theologische Debatten begeistern konnte – er organisierte mehrfach theologische Tagungen im Vatikan – ist über entsprechende Neigungen und Aktivitäten von Prevost nichts bekannt.
Dazu passt, dass sich von ihm – ob als Missionar, Ordensoberer, Bischof oder Kurialer – kaum etwas Schriftliches findet. Im Jahr 1987 veröffentlicht er seine kirchenrechtliche Doktorarbeit über den Dienst und die Autorität des lokalen Priors im Augustiner-Orden. Ansonsten: ein paar kleinere Texte in Zeitschriften des Augustiner-Ordens, ein Grußwort, eine Predigt, selten auch ein Interview …
Für einige Aufmerksamkeit sorgte ein Vortrag, den Prevost als Oberer des Augustiner-Ordens 2012 bei einer römischen Bischofssynode zum Thema Neuevangelisierung gehalten hatte. Prevost hatte darin einen kulturkämpferischen Ton angeschlagen und beklagte, dass westliche Massenmedien "antichristliche Lebensstile" propagieren würden. Doch als Prevost 2023 Kardinal wurde und ihn ein Journalist auf die früheren Äußerungen ansprach, antwortete er: "Papst Franziskus hat sehr deutlich gemacht, dass er nicht will, dass Menschen einfach aufgrund ihrer Entscheidungen ausgeschlossen werden, sei es in Bezug auf ihren Lebensstil, ihre Arbeit, ihre Kleidung oder was auch immer. Die Doktrin hat sich nicht geändert (…). Aber wir wollen einladender und offener sein."
Die Kardinäle wählen einen Amerikaner zum Papst, über den kaum etwas bekannt ist, dessen intellektuelle Entwicklung und geistliches Profil weitgehend im Dunkeln liegen: Dieses Szenario war der Ausgangspunkt der aberwitzigen Serie "The Young Pope" des italienischen Regisseurs Paolo Sorrentino von 2016. Nun ist es Realität geworden.
Manchmal sind gute Künstler Seismografen. Sie zeichnen dann nicht nur ein Bild der Gegenwart, sondern erahnen in ihrer Imagination hellsichtig auch bevorstehende Volten der Geschichte. Die Kardinäle wählen einen Amerikaner zum Papst, über den kaum etwas bekannt ist, dessen intellektuelle Entwicklung und geistliches Profil weitgehend im Dunkeln liegen: Dieses Szenario war der Ausgangspunkt der aberwitzigen Serie "The Young Pope" des italienischen Regisseurs Paolo Sorrentino von 2016. Nun ist es Realität geworden.
Projektionen
Und wie in der Serie eignet sich ein solcher Papst natürlich für Projektionen aller Art.
Schwester Nathalie Becquart, im Vatikan bislang für Bischofssynoden und synodale Prozesse verantwortlich, ließ am Abend der Wahl in den Sozialen Medien "unseren neuen synodalen Papst" hochleben. In traditionalistischen Kreisen verbreitete sich derweil in Windeseile das Gerücht, Prevost feiere seit Jahren – mit Ausnahmegenehmigung von Papst Franziskus – privat die Messe im alten lateinischen Ritus.
Was lässt sich also sagen? Leo XIV. erscheint in seinen ersten Auftritten als Mensch, der bereit ist, sich in die äußere Gestalt dieses Amtes zu fügen und es mit einer gewissen zurückhaltenden Wärme auszufüllen. Die Art, wie er am Sonntag nach seiner Wahl auf die Benediktionsloggia des Petersdoms trat und vor Hunderttausenden das lateinische "Regina Coeli" ins Mikrofon sang – ein Moment größter Verletzlichkeit, wenn die menschliche Stimme in solchem Übermaß verstärkt wird – steht in deutlichem Kontrast zu Papst Franziskus, der sich immer wieder gegen die Form zu sträuben schien, in die dieses Amt gegossen ist.
Verschwinden, damit Christus bleibt
Ein weitgehend Unbekannter auf dem Stuhl Petri. In seiner ersten Predigt, die er am Tag nach der Wahl in der Messe mit den Kardinälen in der Sixtinischen Kapelle hielt, und die den Anschein machte, dass sie nicht von Helfern im Staatssekretariat verfasst wurde, sondern die ipsissima vox des neuen Papstes hören ließ, zitierte Leo XIV. aus dem Brief an die Römer des heiligen Ignatius von Antiochien, der traditionell auf die Zeit um 110 nach Christus datiert wird.
"Als er in Ketten in diese Stadt gebracht wurde, an den Ort seines nahenden Lebensopfers, schrieb er an die Christen dort: 'Dann werde ich wirklich ein Jünger Jesu Christi sein, wenn die Welt meinen Leib nicht mehr sieht' (Brief an die Römer, IV, 1). Er bezog sich darauf, dass er im Zirkus von wilden Tieren verschlungen werden würde – und so geschah es –, doch seine Worte verweisen in einem allgemeineren Sinn auf eine unverzichtbare Anforderung für alle, die in der Kirche ein Leitungsamt ausüben: zu verschwinden, damit Christus bleibt, sich klein zu machen, damit er erkannt und verherrlicht wird (vgl. Joh 3,30), sich ganz und gar dafür einzusetzen, dass niemandem die Möglichkeit fehlt, ihn zu erkennen und zu lieben."
Verschwinden, damit Christus bleibt. Das zu schaffen – in einer Epoche, in der das Amt mit nicht enden wollenden Auftritten, Reisen, Ansprachen verbunden ist – würde paradoxerweise viel Willensstärke und einen heroischen Kraftakt verlangen. Dazu würde auch gehören, zu verhindern, dass andere den Raum besetzen oder versuchen, den Papst zu ihrer Sprechpuppe zu machen. Ein Papst, der kein "Alphatier" ist (man denkt an Männer wie Kardinal Marx oder Kardinal Dolan), müsste sich vor allem loyale Mitarbeiter suchen, die seine Mission und sein Verständnis des Papstamtes teilen.
Vor der Wahl sind alle möglichen Kriterien und Anforderungen an den zukünftigen Amtsinhaber formuliert worden, die niemand allesamt zugleich zu erfüllen imstande wäre. Tröstlich könnte da ein Gedanke des Schriftstellers Martin Mosebach sein:
"Das Stellvertreteramt bedingt keine besonderen Geistesgaben und keine Talente, es fordert keine Charakterfestigkeit und keine erprobte Vollkommenheit – jeder Mann ist für dies Amt gleich geeignet und gleich ungeeignet. Christus wurde Mensch, und deshalb ist jeder Mensch gleichermaßen imstande, Christus darzustellen. Kein Papst kann Christus mehr verraten als Petrus am Feuer des Hohenpriesters, kein Papst kann Christus mehr nachfolgen als Petrus, als er sich für Christus kreuzigen ließ. In der Wahl des Petrus wurde das für die Kirche entscheidende Prinzip der Trennung von Amt und Person begründet – die Möglichkeit, den inkarnierten, segenspendenden Christus auch in unwürdigen Menschen zu vergegenwärtigen."