"Darf ich als Muslim Weihnachten begehen?"
Die Frage kommt jedes Jahr wieder, meist in zwei Tonlagen: defensiv ("Ist das erlaubt?") oder trotzig ("Ich mach's halt."). Beide Varianten greifen zu kurz. Denn sie setzen Weihnachten mit einem Identitätsmarker gleich, den man entweder übernimmt oder abwehrt.
Vielleicht sollte man anders anfangen. Nicht mit der Frage nach Erlaubnis, sondern mit der nach dem Text. Nicht mit Jesus als Banner, sondern mit Maria als Brennpunkt.
Denn wenn Weihnachten überhaupt "die Geburt Jesu" bedeutet, dann ist es zuerst eine Geschichte über eine Frau. Über ihren Körper, ihre Stimme, ihre Angst, ihre Würde. Über eine religiöse Erfahrung, die sich nicht in Dogmen erschöpft, sondern im Zumuten von Menschlichkeit.
Der Koran erzählt Maria nicht "auch", sondern konkret
Man muss das präzise sagen, um nicht zu verallgemeinern: Im Koran steht Maria (Maryam) nicht einfach "irgendwie im Zentrum". Sie steht in bestimmten Passagen mit narrativer Dichte im Fokus, vor allem in Q 19:16–40 und Q 3:35–51. Und sie steht mit auffälliger Regelmäßigkeit im Hintergrund vieler anderer Stellen, weil Jesus wieder und wieder als "Sohn Marias" identifiziert wird.
Wer den Koran liest, liest nicht nur, was Maria erlebt, sondern wird in eine Haltung hineingezogen, wie man Maria liest: nicht distanziert, nicht bloß informativ, sondern mit innerer Beteiligung.
Das ist mehr als ein Beiname. Es ist eine Perspektiventscheidung. In einer Welt, die Abstammung und religiöse Autorität gern über Väter organisiert, setzt der Text eine matrilineare Markierung: Diese Geschichte wird nicht über einen Vater "abgesichert", sondern über eine Mutter erzählt.
Und der Koran tut das nicht im Stil einer linearen Nacherzählung biblischer Narrative. Er arbeitet mit einem dynamischen, dialogischen Verfahren: Aufnahme vertrauter Motive, Verschiebung, Korrektur, Zuspitzung. Der Text ist nicht "Nacherzählung", sondern Gespräch.
Das hat Konsequenzen: Wer den Koran liest, liest nicht nur, was Maria erlebt, sondern wird in eine Haltung hineingezogen, wie man Maria liest: nicht distanziert, nicht bloß informativ, sondern mit innerer Beteiligung.
Der radikale Satz der Weihnachtsgeschichte lautet: "Sie war allein."
Weihnachten ist voller Lichter. Aber Marias Geschichte ist zunächst dunkel. Nicht im romantischen Sinn von Kerzenschein, sondern existenziell: Rückzug, Schutzlosigkeit, soziale Verwundbarkeit.
Weihnachten ist nicht zuerst die Bühne eines triumphalen Wunders, sondern die Schule einer Empathie.
Eine der stärksten Stellen ist jene, in der der Koran Maria unter den Wehen zeigt (Q 19:23). Das ist keine "Schönschreibung" der Heiligkeit, sondern die Zumutung ihrer Körperlichkeit. Hier zeigt sich kein Gegensatz im Sinne einer Korrektur, sondern eine unterschiedliche narrative Gewichtung. Der Koran verortet Maria nicht außerhalb menschlicher Erfahrung, sondern innerhalb ihrer Zumutungen. Ihre Würde entsteht nicht durch Distanz zum Leiblichen, sondern durch dessen Durchleben. Gerade darin liegt die nachhaltige Kraft dieser Darstellung: Sie erlaubt Identifikation, ohne zu idealisieren, und Nähe, ohne zu banalisieren. Große Wendepunkte erscheinen hier nicht als Augenblicke des Glanzes, sondern als Prozesse des Ringens.
Wenn man Maria so liest, ist Weihnachten nicht zuerst die Bühne eines triumphalen Wunders, sondern die Schule einer Empathie: Wer diese Geschichte hört, soll nicht applaudieren, sondern sich hineinbegeben.
Maria zwischen Nähe und Grenze: Maßhalten ohne Entwertung
Dass Marias Gestalt bis heute umstritten bleibt, ist kein Zufall. Auch gegenwärtige kirchliche Dokumente reagieren auf die Gefahr, dass religiöse Verehrung kippt: in Überhöhung, funktionale Instrumentalisierung oder semantische Entleerung. Der jüngste vatikanische Hinweis auf die Notwendigkeit, marianische Titel theologisch zu begrenzen, macht sichtbar, wie sensibel das Verhältnis von Nähe und Differenz geblieben ist.
Maria steht nicht "zwischen" Gott und Mensch, sondern exponiert im Raum menschlicher Ansprechbarkeit.
Für einen islamisch-theologischen Zugang ist diese Beobachtung nicht nebensächlich. Der Koran kennt Maria als herausgehobene Figur, aber nicht als Grenzüberschreitung. Ihre Erwählung bleibt Beziehungsgeschehen, kein ontologischer Sprung. Würde entsteht nicht durch Vergöttlichung, sondern durch Responsivität: Maria wird angesprochen, antwortet, trägt – und bleibt Mensch.
Gerade darin liegt eine produktive Anschlussfähigkeit: Ehrfurcht ohne metaphysische Aufladung, Bedeutung ohne sakrale Konkurrenz. Maria steht nicht "zwischen" Gott und Mensch, sondern exponiert im Raum menschlicher Ansprechbarkeit.
Verortung statt Verklärung: Maria in ihrer Welt
Ein Punkt, der oft unterschätzt wird, ist die Notwendigkeit historischer und religiöser Präzision. Maria ist keine zeitlose Projektionsfläche. Sie ist eine jüdische Frau, eingebettet in religiöse Praxis, Sprachräume, Rituale und soziale Ordnungen. Diese Verortung begrenzt – und schützt.
Darauf weist auch der Theologe Jan-Heiner Tück hin, wenn er im Zusammenhang aktueller kirchlicher Debatten betont, dass Maria nur dann theologisch verantwortet verstanden werden kann, wenn sie in ihrem jüdischen Resonanzraum gelesen wird – im semantischen Universum Israels, nicht als entkontextualisierte Idealfigur.
Gerade für den interreligiösen Kontext ist das entscheidend: Maria wird nicht dadurch zur Brückenfigur, dass man sie "neutralisiert", sondern dadurch, dass man sie konkret liest. Wer ihre jüdische Welt ernst nimmt, entzieht sie sowohl ideologischer Vereinnahmung als auch spiritueller Entleerung. Die Brücke trägt nur, wenn ihre Pfeiler nicht verschoben werden.
Ihre Schwangerschaft ist erklärungsbedürftig, sozial riskant, potenziell existenzbedrohend. Der Koran macht daraus keine Moralparabel, sondern eine Zumutung. Maria wird nicht reduziert auf Reinheitsdiskurse, sondern ernst genommen als verletzliche Person.
Körper, Zumutung, Realität: eine stille Gegenwartsdiagnose
Die koranische Erzählung verweigert jede Spiritualisierung auf Kosten des Leibes. Schwangerschaft, Schmerz, Angst, soziale Isolation – all das gehört zur Offenbarungsszene. Maria wird nicht vor der Erfahrung geschützt, sondern durch sie hindurch begleitet.
In einer Gegenwart, die zwischen Körperoptimierung und Körperverdrängung oszilliert, wirkt diese Darstellung überraschend aktuell. Der Leib ist weder defizitär noch bloßes Instrument. Er ist Ort religiöser Erfahrung. Glaube ereignet sich nicht jenseits des Körpers, sondern in ihm.
Ihre Schwangerschaft ist erklärungsbedürftig, sozial riskant, potenziell existenzbedrohend. Der Koran macht daraus keine Moralparabel, sondern eine Zumutung. Maria wird nicht reduziert auf Reinheitsdiskurse, sondern ernst genommen als verletzliche Person.
Für heutige Debatten über Körper, Sexualität, Kontrolle und Ehre ist das keine einfache Antwort – aber ein präziser Spiegel. Zwischen Spott und Abwehr scheint oft kein Raum mehr für religiöse Rede. Maria eröffnet einen dritten Modus: Resonanz. Nicht durch Konsens, sondern durch Aufmerksamkeit. Wer ihre Geschichte liest, übt sich im genauen Hinsehen, im Aushalten von Ambivalenz, im Verzicht auf vorschnelle Deutung.
Die Differenz bleibt bestehen und wird zur Voraussetzung einer Lektüre, die weder vereinnahmt noch neutralisiert. So kann Weihnachten auch jenseits des Festes wirksam werden: als Narrativ, das gemeinsames Wahrnehmen ermöglicht, ohne religiöse Grenzen aufzulösen.
Zur Frage nach Weihnachten
"Darf ich als Muslim Weihnachten begehen?"
Nach der bisherigen Lektüre zeigt sich, dass diese Frage kategorial verfehlt ist. Sie setzt Weihnachten mit einer religiösen Praxis gleich und übersieht, dass hier unterschiedliche Ebenen zusammenlaufen: Fest, Theologie, soziale Wirklichkeit und Erzählung.
Für Muslime bleiben christologische und mariologische Differenzen grundlegend. Sie werden nicht suspendiert, entscheiden aber nicht allein darüber, ob man sich der Weihnachtsgeschichte annähert. Diese Annäherung verlangt weder Zustimmung noch Mitfeiern, sondern Aufmerksamkeit für den narrativen Kern.
Weihnachten ist nicht nur liturgische Verdichtung, sondern eine Geburtsgeschichte, die sozial und kulturell wirksam ist. Der Koran beteiligt sich an dieser Geschichte, indem er ihren Fokus verschiebt: weg von christologischer Deutung, hin zu Maria. Jesus erscheint als Sohn Marias; im Zentrum steht die Erfahrung einer Frau, an der sich göttliche Anrufung leiblich und sozial vollzieht.
Dieses Anderslesen ist keine Distanzierung, sondern eine eigene Form des Sich-Einlassens. Die Differenz bleibt bestehen und wird zur Voraussetzung einer Lektüre, die weder vereinnahmt noch neutralisiert. So kann Weihnachten auch jenseits des Festes wirksam werden: als Narrativ, das gemeinsames Wahrnehmen ermöglicht, ohne religiöse Grenzen aufzulösen.