Zum Beispiel TrierMissbrauchsgutachten als Instrument der Verantwortungsverschleierung

Die Flut der Missbrauchsgutachten erzeugt den Anschein von Transparenz – und hilft den Verantwortlichen zugleich, sich hinter "systemischen" Fehlern und den Taten ihrer Vorgänger zu verstecken.

Uhr mit Inschrift am Trierer Dom:
Uhr mit Inschrift am Trierer Dom: "Ihr wisst nicht, zu welcher Stunde der Herr kommen wird."© Pixabay

Mit welchen Gefühlen reagieren kirchliche Würdenträger eigentlich auf die Veröffentlichung sogenannter "Missbrauchsgutachten"? Empfinden Sie persönliche Schuld, Scham, Ekel, Entsetzen, Trauer, Wut? Sehen Sie ein, dass sie oft selbst Teil des eigentlichen Problems sind, dass moralische und juristische Verfehlungen einen Namen tragen, nämlich den ihren? Glauben Sie vielleicht wirklich, dass es immer nur andere, vorausgegangene Amtsträger waren, die Fehler massiver Art im Umgang mit Opfern und Tätern gemacht haben?

Im vergangenen Oktober war es wieder einmal so weit: Im Bistum Trier wurde der "Dritte Zwischenbericht des Projekts 'Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sowie hilfs- und schutzbedürftigen erwachsenen Personen durch Kleriker/Laien im Verantwortungsbereich der Diözese Trier (1946–2021)'" vorgestellt. Dass der amtierende Trierer Bischof im Rahmen der Vorstellung der Studie Betroffenheit zeigen und um Entschuldigung für das vielfache Versagen bitten würde, war nichts Überraschendes, es war das Mindeste, was er tun konnte. Schuldig blieb er der Öffentlichkeit jedoch eine Erklärung.

Wozu der immer gleiche Rhythmus aus öffentlichem Druck, zögerlichem Agieren, bestelltem Gutachten, anschließendem Schuldbekenntnis unter Betonung "systemischer", nicht persönlicher Fehler, ohne echte Konsequenzen?

Aus dem Zwischenbericht ergeben sich nämlich verschiedene Fragen: Welche Funktion erfüllen die zahlreichen Gutachten und Berichte eigentlich, die bisher erstellt wurden und in Zukunft noch erstellt werden sollen? Und: Wozu der immer gleiche Rhythmus aus öffentlichem Druck, zögerlichem Agieren, bestelltem Gutachten, anschließendem Schuldbekenntnis unter Betonung "systemischer", nicht persönlicher Fehler, ohne echte Konsequenzen? Schließlich: Machten es die äußeren Rahmenbedingungen den Handlungsträgern – wie oft suggeriert – in der Vergangenheit wirklich derart schwer, die Tragweite ihres Handelns in moralischer und rechtlicher Hinsicht zu ermessen und adäquat zu handeln?

Die Lektüre des Zwischenberichtes bringt vielfach Unsägliches an Taten ans Licht, Unsägliches auch an Versäumnissen der Verantwortungsträger. 

Da ist die Rede davon, dass Taten unter Bischof Reinhard Marx nicht rechtzeitig oder gar nicht erst angezeigt, nicht sanktioniert, Betroffene alleingelassen, Täter mit Milde bevorzugt, die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002 schlicht nicht angewendet, Aufklärungen vielfach unterlassen wurden, es selbst intern eine unzureichende Informationspolitik, Nachlässigkeiten in der Personalverantwortung und bedenkenlose Versetzungen in die kategoriale Seelsorge gab.

Da ist zu lesen, dass sich unter Bischof Stephan Ackermann (bis zum 31.12.2021) immerhin ein Wandel zur Besserung, zum entschiedeneren Handeln vollzog. Gleichzeitig änderte sich nichts oder zu wenig an der viel zu langsamen Verfahrensführung, an unzureichender Kommunikation und Transparenz, einer verfehlten Personalpolitik, mangelnder proaktiver Aufklärung über die Verantwortung des Bistums, an rechtlichen Versäumnissen, Verharmlosung, Hilflosigkeit und Schwächen in der Priesterausbildung, am Einsatz von Tätern in der kategorialen Seelsorge, mangelnder Sensibilität und Authentizität.

Auch Georg Bätzing, inzwischen Bischof von Limburg und Vorsitzender der DBK, kommt im Grunde nicht gut weg: Obgleich nur als Randfigur erwähnt, sieht der Bericht in ihm nicht gerade eine Leuchtfigur in Sachen Aufarbeitung; eher eine Gestalt zögerlichen und falschen Kommunikationsverhaltens und Agierens, der seitens der Betroffenen misstraut wurde. Warum er, der als langjähriger Regens und Generalvikar immerhin Schlüsselfigur war, nur am Rande Erwähnung findet, bleibt aber unklar.

Das "strikte Regewerk" als angebliches Problem

Überhaupt bleibt vieles an der Studie frag- und kritikwürdig. Bemerkenswert an den Ergebnissen der Gutachter erscheint etwa eine am Ende des Zwischenberichtes formulierte Feststellung: Öffentliche Aufklärung sei durch "das strikte Regelwerk der kirchenrechtlichen (und strafrechtlichen) Verfahren behindert" (138) worden. Und:  Der Eindruck der Vertuschung und der Verzögerung angemessener Sanktionen sei durch die Meldepflicht in Rom und die Rechtsprechungskompetenz des Apostolischen Stuhles verstärkt worden (vgl. ebd.).

Haben die Verantwortlichen im Bistum Trier Verfahrensvorschriften überhaupt in jedem Fall korrekt und konsequent angewendet? Fördert das Gutachten nicht gerade zutage, dass sie es nicht taten?

Das ist allerhand. Eine Aussage, die so nicht unwidersprochen stehen bleiben kann und darf. Denn: Haben die Verantwortlichen im Bistum Trier Verfahrensvorschriften überhaupt in jedem Fall korrekt und konsequent angewendet? Fördert das Gutachten nicht gerade zutage, dass sie es nicht taten, dass sie missachtet haben, was – jedem Bischof bekannt! – das Motu proprio "Sacramentorum Sanctitatis Tutela" (SST) aus 2001 bzw. 2010, die zugehörigen Normen und die entsprechenden Leitlinien der DBK aus 2002 bzw. 2013 bzw. 2020 in aller Deutlichkeit geregelt haben?

Zwar gehen die Gutachter anfangs auf die bestehenden Normen ab 2001 ein, und zwar jene auf staatlichem und auf kirchlichem Gebiet. Allerdings machen sie sich nicht die Mühe, die genannten Rechtsvorschriften in Beziehung zu den festgestellten Fehlern der Vergangenheit zu stellen. Die zahlreichen Verfehlungen werden also nicht rechtlich eingeordnet. Hierin besteht zweifellos eine der großen Schwächen des rein historischen Gutachtens.

Obwohl schon im Zuge der Promulgation von SST (2001) mitunter vorgeschrieben wurde, jede begründete Anschuldigung sexualisierter Gewalt an Minderjährigen unverzüglich der Glaubenskongregation zu melden, eine kirchenrechtliche Voruntersuchung (investigatio praevia) gem. c. 1717 CIC einzuleiten und dafür zu sorgen, dass keine weitere Gefahr für Minderjährige entstehe, finden sich überall Beispiele, wie dem zuwider gehandelt wurde.

Ungeheuerlich wirkt im Zusammenhang mit mangelnden Konsequenzen für Verfehlungen etwa jene Passage, in der es um einen Professor der Theologischen Fakultät – genannt ß – geht. Obwohl er einen Studenten sexuell belästigt hat und später zu sexuellen Handlungen nötigen wollte, sei er nicht sanktioniert worden. Der Bischof, in dessen Diözese ß inkardiniert war, sei 2014 von Generalvikar Georg Bätzing lediglich telefonisch informiert und angesichts der "zunehmend desolate[n] Situation des alternden Emeritus" (92) um ein Gespräch mit "seinem Priester" im Sinne der Fürsorge gebeten worden. Der Bischof habe die Angelegenheit seinerseits damit abgetan, dass ihn solcherlei "Geschichten" im Zusammenhang mit ß nicht wunderten. Allein dieser vergleichsweise "harmlose" Fall legt die Vermutung nahe, dass die Verantwortlichen selbst nach 2010 – immer noch – nicht nur aus falscher pastoraler Sorge heraus handelten, die dem Wohl des Täters den Vorzug gab, sie die Sache überdies kaum ernstnahmen, Verantwortung verschoben und einen Sprachgebrauch an den Tag legten, der weder der Situation noch dem Thema gerecht wurde.

Leerstellen

Wer den Zwischenbericht aufmerksam liest, stellt sich während der Lektüre irgendwann Fragen, die letztlich unbeantwortet bleiben: Welchen Prüfauftrag hatten die Gutachter eigentlich im Einzelnen? Was genau sollten Sie nach dem Willen der Auftraggeber in den Blick nehmen oder gerade nicht in den Blick nehmen? Warum greift das Gutachten – obwohl historisch motiviert – willkürlich irgendwelche Fälle heraus, an denen das Vorgehen der Vergangenheit lediglich ausschnitthaft exemplifiziert wird? Warum fehlt eine klar strukturierte Kriteriologie zur Beurteilung der einzelnen Fallkonstellationen und der vorzuwerfenden Versäumnisse? Wieso steht die dreigliedrige Auswahl der Fallbeispiele fast ausschließlich unter dem Vorzeichen "Intensivtäter – Einzeltäter – Kinderpornokonsum"? Warum geben sich die Gutachter im Verlaufe ihrer Studie eigentlich derart verständnisvoll?

Obwohl der Zwischenbericht sich hinsichtlich der im Kirchenrecht klar geregelten Letztverantwortung eines jeden Diözesanbischofs auf die beiden Amtszeiten der Bischöfe Marx und Ackermann bezieht, übergehen die Gutachter eine Analyse der ganz persönlichen Verstrickungen.

Auffällig wirken überdies folgende Punkte, die hier nur kursorisch Erwähnung finden können: Obwohl der Zwischenbericht sich hinsichtlich der im Kirchenrecht klar geregelten Letztverantwortung eines jeden Diözesanbischofs auf die beiden Amtszeiten der Bischöfe Marx und Ackermann bezieht, übergehen die Gutachter eine eingehende Analyse der ganz persönlichen Verstrickungen. Sie betonen für beide Amtszeiten vielmehr die Notwendigkeit, auch das Handeln anderer Amtsträger wie das der Generalvikare oder Offiziale in den Blick zu nehmen, verkennen damit aber anscheinend, dass das Bild der Schuld damit einmal mehr in einen institutionellen Rahmen gespannt wird, wodurch die erhoffte Aufklärung persönlicher Versäumnisse aber fast vollständig unterbleibt.

Daneben bleibt unklar, warum der besonders prominente Fall der Karin Weißenfels, der zuletzt mehrfach in die Schlagzeilen geraten war, lediglich an zwei Stellen Erwähnung findet, obwohl er doch besonders geeignet gewesen wäre, die ganz persönlichen Versäumnisse an einem konkreten Beispiel offenzulegen und zugleich den an anderer Stelle monierten unangemessenen, oft unbedachten Sprachgebrauch im Umgang mit Opfern zu kritisieren (auf S. 92 werfen die Gutachter Georg Bätzing ein Anknüpfen an "die bischöfliche Praxis des Umgangs mit und des Sprechens über sexualisierte Gewalt [vor], wie sie bis in die 1990er Jahre hinein gängig war").

Auch der Fall des Z., der das Bistum und die Öffentlichkeit bis zuletzt bewegte und über den "Spiegel" und "ZEIT" umfassend berichteten, wird im Zwischenbericht nicht in all seinen Nuancen erwähnt.

Immerhin wird schon an einem Beispiel deutlich, dass die Verantwortlichen völlig unzureichend mit dem Fall verfuhren: Nur auf Druck der Pfarrerkonferenz erfolgte 2013 eine Beurlaubung des Täters; die Begründung verschleiernd, da sie nicht auf ein schwebendes Ermittlungsverfahren, sondern lediglich einen "zwar tatsächlich bestehende[n], hier jedoch nicht ursächliche[n] Konflikt mit dem Pfarrer der Doppelgemeinde" (S. 84) Bezug nahm. Von der verhängten Verschwiegenheitsverpflichtung gegenüber dem gemeinten Pfarrer spricht der Zwischenbericht bedauerlicherweise gar nicht erst (die ZEIT schon – vgl. dazu "Sein Pfarrer soll ihn missbraucht haben", in: ZEIT Nr. 19/2017).

Macht regiert gerne ungestört

Im Ergebnis bleibt der Zwischenbericht vage und allgemein, vielfach kaum über das hinausweisend, was wir ohnehin schon wissen aufgrund der Vorarbeit, die Betroffeneninitiativen wie MissBiT geleistet haben oder was die Medien, die laut Gutachtern "einem eingespielten Muster der Berichterstattung" (135) folgten, ans Licht brachten.

Machtinteressen sowie der Kampf um die Deutungshoheit in Zusammenspiel mit einer raffinierten expertokratischen Überproduktion bleiben bittere Realitäten eines Systems, das Verantwortung verschiebt, das persönliches Versagen institutionalisiert und die Übernahme der Konsequenzen nur in der Sphäre der Anderen und Vorausgegangenen sieht.

Kirche im Bistum Trier zeigt sich inzwischen zwar um Aufklärung bemüht. Immerhin. An der Ambivalenz der Ergebnisse ändert das aber nichts. Machtinteressen sowie der Kampf um die Deutungshoheit in Zusammenspiel mit einer raffinierten expertokratischen Überproduktion bleiben bittere Realitäten eines Systems, das Verantwortung verschiebt, das persönliches Versagen institutionalisiert und die Übernahme der Konsequenzen nur in der Sphäre der Anderen und Vorausgegangenen sieht.

Im Moselathen hält man die Fäden weiter fest in der Hand, persönliche Konsequenzen wird es – wie so oft – wahrscheinlich nicht geben, man entscheidet vielmehr durch immer neue Gutachten, welche Narrative in der Öffentlichkeit vorherrschend sind. Macht regiert eben gerne ungestört.

Versteckspiel

Von der Rechtfertigung zum Machterhalt handelt dieses Trauerspiel, von mangelnder Verantwortungsübernahme und gekonnter Verdrängung. Deutung, Auslegung, gar Anwendung des Gesetzes wurden in Trier zu Instrumenten der Ignoranz auf Kosten Unschuldiger umgeschmiedet. Das Versteckspiel von Vertuschen, Leugnen, Umdeuten und Kleinmachen trieb man dort auf die Spitze. Die Ergebnisse der Studie mit historischem Schwerpunkt dürfen – ebenso jene der zuvor erstellten Berichte – darum nicht ungehört, nicht ohne Folgen im Nichts öffentlichen Desinteresses zugunsten jener verhallen, die sich eilig wegducken.

Am Beispiel der Trierer Diözese wird deutlich, dass die lang geübte Verantwortungsverweigerung – die vom konsequenten Zurückweisen und Unsichtbarmachen von Schuld bis hin zu Strafvereitelung reicht – inzwischen in Verantwortungsverschleierung übergegangen ist. 

Formaliter zeigen sich die Verantwortlichen zur Aufarbeitung bereit, de facto basteln sie schon an neuen Formen der Unverbindlichkeit. Sie wissen nur zu gut, dass Transparenz nicht zwingend Verantwortung bedeutet, dass Aufarbeitung nicht darin münden muss, persönlich Verantwortung zu übernehmen.

Nicht weitere Expertise in Form weitgehend ungelesener Gutachten tut not, vielmehr das Erlernen der Fähigkeit, gewonnene Erkenntnisse in echte Verantwortungsübernahme zu übersetzen.

Immer neue Gutachten, Studien, Berichte juristischer und historischer Couleur versprechen auf den ersten Blick Klarheit und die Aufdeckung der Wahrheit, der dahinterstehende Apparat ähnelt jedoch einer Nebelkammer: Kirche als Raum, in dem Partikel der Erkenntnis umherschwirren, Spuren wieder verwischen, sich überlagern oder im institutionellen Dunst verwehen. Am Ende entsteht so nicht ein schärferes Bild, sondern die Fragmentierung persönlicher Verantwortlichkeiten sowie die Verdunkelung der institutionellen Topografie moralischer und rechtlicher Schuld. 

Nicht weitere Expertise in Form weitgehend ungelesener Gutachten tut not, vielmehr das Erlernen der Fähigkeit, gewonnene Erkenntnisse in echte Verantwortungsübernahme zu übersetzen. Sollten sich die Bischöfe von Trier, Limburg und München nicht endlich einmal fragen, ob ein öffentliches Schuldbekenntnis noch ausreichend erscheint, ob es nicht weiterer, persönlicher Konsequenzen bedarf?

Dem Bischof von Osnabrück wurde seinerzeit jedenfalls überraschend schnell klar, wann es Zeit war, dem Papst seinen Verzicht anzubieten. Auch ihm legten einschlägige Gutachten schwerwiegende Versäumnisse zur Last, auch ihm wiesen sie einen unzureichenden Umgang mit sexuellem Missbrauch nach, auch ihm attestierten sie Zögern und Zaudern, auch er gehörte zu jenen deutschen Bischöfen, die einst voller Inbrunst vom hohen Ross moralischer Überlegenheit nach einer öffentlichen Entschuldigung Papst Benedikts XVI. verlangten – letzteres, obwohl sie wahrscheinlich wussten, dass ihre eigenen Verfehlungen weitaus gewichtiger sind als alles, was man dem damaligen Papst überhaupt vorwerfen konnte.

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