"Wir brauchen einen missionarischen Papst"Kardinal Walter Kasper über das Profil des nächsten Pontifex

Walter Kasper meint: Die Kirche steht vor einer Richtungsentscheidung: Rückschritt oder mutiger Wandel? Der emeritierte Kurienkardinal spricht über das Erbe von Franziskus, die Erwartungen an seinen Nachfolger – und die Kraft des Evangeliums in unsicheren Zeiten.

Kardinal Walter Kasper
© Francesco Pistilli/KNA

Benjamin Leven: Vor welchen Herausforderungen steht die Kirche nach dem Ende des Franziskus-Pontifikats?

Kardinal Walter Kasper: Wir befinden uns sowohl politisch als auch kirchlich in einer schwierigen, sich rapide wandelnden Situation. Die Stimmung in der Bevölkerung ist umgeschlagen von Mitte-Links nach Mitte-Rechts bis hin zu extrem Rechts. Auch die Kirche ist in vielen Ländern gespalten in eine als konservativ bezeichnete Gruppe, die am Status quo festhalten oder gar zu einem Status quo ante, also zu dem Zustand vor Papst Franziskus oder gar vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurückkehren will, und in eine als progressiv bezeichneten Gruppe, die im Sinn des Konzils auf die "Zeichen der Zeit" achtet, sie im Licht des Evangeliums interpretiert und daraus insgesamt konsensfähige, zum Teil aber auch radikale, die Einheit der Kirche bedrohende kirchenspaltende Reformen ableitet. Papst Franziskus hat schon in seiner ersten Enzyklika zu einem neuen Aufbruch aufgerufen. Seine neue Art, das Amt des Papstes wahrzunehmen, nicht abgehoben vom Leben und von den Nöten der Menschen, vielmehr als Hirte den Menschen nah, besonders den Armen und Leidenden aller Art, hat bei seinem Tod weltweit überwältigende Anteilnahme gefunden. Er hat viele Reformen eingeleitet und das Gesicht der Kirche erneuert; aber er konnte in 12 Jahren den Erneuerungsprozess in einer weltweiten Kirche verständlicherweise nicht abschließen und vollenden. So wird es keine leichte Aufgabe sein, einen Nachfolger zu finden, der es versteht, in der komplexen gegenwärtigen Situation den notwendigen kirchlichen Erneuerungsprozess in der rechten Weise weiterzuführen.

"Die Idee einer synodalen Kirche, eines geschwisterlichen Miteinander von Klerikern und Laien, welche Papst Franziskus uns als Erbe und Auftrag hinterlassen hat, muss in einer mehr strukturierten Weise weitergeführt werden."

Leven: Inzwischen haben die Generalkongregationen begonnen, die der Verständigung vor dem Konklave dienen. Welche Richtungsentscheidung müssen die Kardinäle treffen?

Kasper: Es geht um die Entscheidung über den grundsätzlich einzuschlagenden Weg der Kirche. Ein Weg hinter den Stil und die Reformen von Papst Franziskus zurück wäre für die Mehrheit der Gläubigen und – nach meinem Eindruck – auch der Kardinäle keine Lösung. Ganz im Gegenteil! Es genügt auch nicht, auf der Stelle zu treten. Es geht im wörtlichen Sinn um Weiterführung des eingeschlagenen Wegs. So kann der neue Papst nicht einfach ein Franziskus II. sein. Die Kirche lebt in der Welt, aber sie ist nicht von dieser Welt. Sie kann sich darum nicht einfach den Wünschen der Welt anpassen. Eine total angepasste Kirche ohne eigene Identität, ohne Ecken und Kanten nützt niemandem; sie könnte man von vornherein gleich ganz vergessen. Die Erneuerung muss aus dem Inneren und aus dem Geist des Evangeliums kommen. Das schließt Widerspruch und Bekehrung ein. Die strukturelle Erneuerung setzt geistliche Erneuerung voraus, wie umgekehrt die spirituelle Erneuerung sich in struktureller Erneuerung ausdrücken muss. So gilt es, einen neuen Papst zu erbeten und zu finden, in dessen Herz das Feuer des Evangeliums brennt und der von Jesus Christus so begeistert ist, dass er auch andere mitnehmen und begeistern kann. Er muss das mit realistischem Blick auf die konkrete Situation und auf die vielfältigen Nöte der Menschen sowie in Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens tun. Dazu braucht er viele gute Berater und Mitarbeiter, Frauen und Männer. Allein kann es keiner leisten, barmherzige Kirche für die Armen und Ausgestoßenen sowie Friedensstifter und Brückenbauer zwischen verfeindeten Gruppen zu sein. Darum muss die Idee einer synodalen Kirche, eines geschwisterlichen Miteinander von Klerikern und Laien, welche Papst Franziskus uns als Erbe und Auftrag hinterlassen hat, in einer mehr strukturierten Weise weitergeführt werden.

"Viele Kardinäle wünschen sich, dass wieder mehr regelmäßige Kardinalsversammlungen zu wichtigen gemeinsamen Beratungen, also Konsistorien, einberufen werden."

Leven: Das Kardinalskollegium ist geografisch und kulturell dezentraler geworden. Was bedeutet das für seine Arbeit?

Kasper: Die Folge dieser Entwicklung besteht darin, dass sich die Kardinäle gegenseitig persönlich weniger kennen. Das gilt vor allem für die Kardinäle aus entfernteren Regionen. Darum wünschen viele Kardinäle, dass wieder mehr regelmäßige Kardinalsversammlungen zu wichtigen gemeinsamen Beratungen, also Konsistorien, einberufen werden. Bereits Papst Franziskus hat eine legitime Dezentralisierung der Kirche zur Sprache gebracht. Dieses Anliegen wird angesichts der Vielfalt der Kulturen innerhalb der einen Kirche immer aktueller. Es ist immer weniger möglich, alles zentral und einheitlich zu regeln. Das bedeutet nicht, die Einheit der Kirche in Fragen des Glaubens, der Sakramente und der Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom aufgeben. Aber nicht alles muss an allen Orten der Kirche gleich sein und zentral entschieden werden. Es geht also um eine Einheit in der Vielfalt und eine Vielfalt in der Einheit durch eine größere Eigenständigkeit der kontinentalen Kirchen, welche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den kontinentalen Bischofskonferenzen vorbereitet ist und bei der Vorbereitung des weltkirchlichen synodalen Prozess bestens funktioniert hat.

Leven: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Kriterien bei der Wahl des neuen Papstes?

Kasper: Die meisten wünschen sich zurecht wieder einen menschennahen, Hoffnung und Freude am Christsein ausstrahlenden Papst. In diesem Sinn muss es ihm um Evangelisierung gehen. Denn genau dazu ist die Kirche da, wie Paul VI. sagte. Dabei geht es um weit mehr als um Indoktrination. Es geht um die Freude des Evangeliums und um das gelebte Evangelium. In diesem Sinn brauchen wir einen missionarischen Papst. Dazu braucht es neben solider theologischer Kenntnis die Gabe der Unterscheidung sowie pastorale Erfahrung und eine gewisse Kenntnis der universalen kirchlichen Situation. Das Evangelium hat Bedeutung nicht nur für das persönliche Leben des einzelnen Christen, sondern auch für das öffentliche und politischen Leben. Vor allem in den Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens, des Lebens, der Bewahrung der Schöpfung und nicht zuletzt der Achtung der Würde des Menschen und der fundamentalen Menschenrechte soll der Papst denen eine Stimme geben, die sonst keine Stimme haben, er soll ein Mahner des Friedens und der Gerechtigkeit sein. Schließlich soll er Leitungserfahrung und Leitungsgeschick haben. Doch keiner kann alles können. Es gehört zur Größe eines Menschen, auch seine Schwächen und Fehler demütig zu bekennen.

Franziskus' Vermächtnis

Leven: Was sehen Sie als das wichtigste Vermächtnis von Papst Franziskus an?

Kasper: Die Barmherzigkeit Gottes in die Mitte der christlichen Botschaft von Gott gerückt zu haben; die Geschwisterlichkeit aller Menschen herausgestellt zu haben; an die Erde als unser gemeinsames Haus erinnert zu haben; und das synodale Wesen der Kirche wiederentdeckt und das interreligiöse Gespräch vorangebracht zu haben.

Leven: Welche Aufgaben hinterlässt er der Kirche – theologisch und organisatorisch?

Kasper: Papst Franziskus wollte Anstöße geben, aber nicht fertige Lösungen vortragen. Das hat er reichlich getan. Die vielen neu ins Bewusstsein gerückten grundsätzlichen Fragen lassen sich in einer weltweiten Kirche mit 1,4 Milliarden Gläubigen nicht in einem Pontifikat von 12 Jahren weltweit abschließend klären und entscheiden. Das gilt besonders bei der Frage der Bindung an moralische Normen und persönlicher Gewissensentscheidung sowie für die Frage der Synodalität und deren institutionelle Ausgestaltung im Verhältnis des Ortsbischofs zur Diözesansynode wie des Papstes zum Bischofskollegium.

Leven: Wie behalten Sie Papst Franziskus persönlich in Erinnerung?

Kasper: Ich habe ihn erlebt als einen einfachen, menschlich zugänglichen, humorvollen und zugleich tiefreligiösen Papst, der aus dem Gebet lebt, aus der Unterscheidung der Geister seine Entscheidungen trifft und sich ganz für die Kirche und die Menschen einsetzt und hingibt.

"Die intensive Teilnahme und Betroffenheit von Menschen weit über die katholische Kirche hinaus war für mich überwältigend."

Leven: Wie haben Sie die Feierlichkeiten zum Begräbnis des verstorbenen Papstes erlebt?

Kasper: Die intensive Teilnahme und Betroffenheit von Menschen weit über die katholische Kirche hinaus war für mich überwältigend. Ich verstand sie als ein österliches Hoffnungszeichen: Die Kirche ist nicht am Ende, sie lebt, vielleicht kann man auch sagen, der christliche Glaube schlummert in den Herzen vieler Menschen und wartet darauf, aufgeweckt zu werden.

 

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