"Der Kirchentag hat jetzt einen muslimischen Fan. Ich habe mir den Düsseldorfer Kirchentag 2027 in meinem Terminkalender eingetragen." Das gab vor einer Woche der Hannoveraner Oberbürgermeister Belit Onai am Ende des Deutschen Evangelischen Kirchentages öffentlich zu Protokoll. Ein starkes Signal. Der Kirchentag hatte eben, wie Reinhard Bingener als kundiger und durchaus kirchenkritischer Redakteur in der FAZ exponierte, einen "Kontrapunkt" zur durch "Übellaungigkeit und Überreiztheit" gekennzeichneten "Stimmung im Land gesetzt". Dieser auffällig "lösungorientierte" und "höfliche" Stil aus der "Haltung eines frommen Trotzes" heraus, "der sich den unbestreitbaren Problemen nicht kampflos" übergibt, stach hervor und überraschte auch das zum Schutz bereitstehende beträchtliche Polizeiaufgebot, das bei einer Massenveranstaltung dieses Umfangs ganz anderes gewohnt war. So viel Friedfertigkeit machte Eindruck.
Vorprogrammierte Kontroversen garantieren nicht schon einen Qualitätsdiskurs, der in die Tiefe führt.
Kritisch, doch freundlich im Ton
Den oftmals von mehreren tausend Teilnehmenden besuchten Hauptpodien hörte man zu, stellte kritische Rückfragen, die aber konzentriert und bei mancher heftigen Kritik freundlich im Ton blieb. Fragen der Klimagerechtigkeit etwa wurden einmal ohne apokalyptischen Argwohn traktiert. Ja, es hätte bisweilen kontroverser zugehen könne. Aber was soll die Einladungspolitik des Kirchentages machen, wenn eine Margot Käßmann persönlich entscheidet, sich nicht einer Diskussion zur Friedensethik und Friedenspolitik mit einem höchstrangigen polnischen Diplomaten, einem Vizeadmiral der Bundeswehr und einem Baptistischen Kirchenpräsident aus Goma zu stellen?
Überhaupt: Es muss nicht immer ein Zeichen von Diskursqualität sein, wenn Podien nach dem in den Talkrunden vieler Medien verfolgten Kasperletheaterprinzip besetzt werden. Vorprogrammierte Kontroversen garantieren nicht schon einen Qualitätsdiskurs, der in die Tiefe führt. Was auffiel: Eine selbstverständliche gelebte Diversität und Inklusion auf den Eröffnungs- und Abschlussgottesdiensten machte sich nicht so selbst zum Thema, dass dahinter die Aufgabe einer liturgisch gemeinsam gefeierten Kommunikation des Evangeliums verblasste.
Politfestival mit spirituellem Anstrich?
Angesichts dessen wirkt die gleich im Titel festgehaltene Kritik des NZZ-Autors Nathan Giwerzew, die evangelische Kirche versuche sich aus der Krise zu retten, indem sie Gendertheorie an die Stelle der Heilsbotschaft setze, bizarr. Man darf sich ehrlich fragen: Waren die schärfsten Kritiker überhaupt da, oder haben sie nur das Programm durchgeblättert und Livestreams gescreent, um sich punktuell in ihren mehr oder weniger begründeten (Vor)urteilen bestätigt zu sehen? "Woker Irrsinn", ein "linkes Politfestival mit spirituellem Anstrich", wie ein Focus-Autor zu titeln müssen meinte und sich selbst dazu gratulierte, "Gott sei Dank … katholisch" zu sein, zugleich Verständnis dafür äußerte, dass eine evangelische Freundin in eine Freikirche emigriert sei, weil sich Martin Luther angesichts eines solchen Kirchentages im Grabe umgedreht habe.
In der Gartenkirche zu Hannover wurde im Rahmen des Kirchentagsprogramms indes bei hohem Andrang fortlaufend die lutherische Messe gefeiert. Da ist in der NZZ von einem "Sammelsurium identitätspolitischer Ideen" die Rede. Keine Frage, auch der gesellschaftspolitische Diskurs insgesamt droht ja aufgrund eines identitätspolitischen Achtergewichtes den mindestens ebenso schwer wiegenden geo- und sozialpolitischen Fragen nicht immer eine adäquate Aufmerksamkeit zu schenken. Nur war das auf diesem Kirchentag wirklich der Fall?
Und ich Esel dachte: Gute Investigation lebt von selbstdistanzierter Urteilskraft. Schade! Eine Kritik, die von kirchenkritischem Argwohn durchzogen ist, gleitet so selbst rasch ins Klischee ab.
Da ist von einer "überzogen bunte[n] Verbeugung vor dem Zeitgeist" die Rede und die dem Gender- und Queerfragen geltenden Foren und Kontexte wird deren geistliche Ernsthaftigkeit bestritten. Applaus zu Angela Merkels Bibelarbeit erzeugt das Urteil, man habe es mit einem Publikum wie "auf einem grünen Parteitag" zu tun. In den Augen der Autoren empörungsträchtige Workshops aus Vorgängerkirchentagen werden bemüht, um zu dem Ergebnis zu kommen, mit "Dauer-Wokeness" gewinne "man keine Seelen". Eine Kritik des Bibelarbeitsportfolios müsste wenigstens das gesamte Spektrum der Bibelarbeiten wahrnehmen, etwa mit Kirsten Fehrs und Heribert Prantl, Bischof Heiner Wilmer und Regionalbischöfin Petra Bahr, oder mit Lothar der Maiziere, der sich gegen den Mix von Bibel und Politik aussprach. Das will so gar nicht mit dem Vorwurf zusammenpassen, man habe es hier mit einer "linksverstrahlten NGO" zu tun.
Und ich Esel dachte: Gute Investigation lebt von selbstdistanzierter Urteilskraft. Schade! Eine Kritik, die von kirchenkritischem Argwohn durchzogen ist, gleitet so selbst rasch ins Klischee ab.
Wo das Herz des Kirchentages schlägt
Diese Kritik übersieht vor allem erstens: Das Herz des Kirchentages schlägt nicht nur bei den Debatten um Fragen der öffentlichen Verantwortung. Gerade dieser Kirchentag entwickelte seine geistliche und soziale Energie, weil Menschen zusammenkamen, um sich jenseits des regionalen Kirchenlebens ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen zu versichern.
Sie übersieht zweitens ein womöglich von den Protestanten selbst leider immer wieder unterschätztes Element ihrer sozialen und geistlichen DNA, das auf diesem Kirchentag vital zur Stelle war: die Kirchenmusik. Mitsingkantaten in den überfüllten Stadtkirchen, in denen Johann Sebastian Bach, aber nicht nur er, als musikalisch-utopischer Sehnsuchtsort gemeinsam und milieuübergreifend neu entdeckt wurde. Posaunenchöre, die zum Teil spontan auf Straßen und Plätzen die Zuhörenden mit ihren Klängen ergriffen, und eben auch auf den Diskussionsveranstaltungen, gerade dann, wenn es argumentativ brenzlich wurde, ein Song, eine brillante Einlage, als heilsame Unterbrechung, um vor Gott inne zu halten und danach anders fortzufahren. Wenn das kein Merkmal der evangelischen Kirche Jesu Christi ist, die sie von anderen gesellschaftlich engagierten Akteuren unterscheidet, die sich Zivilgesellschaften nennen!
Auch aufgrund des Engagements so vieler ehren- und hauptamtlicher Kräfte zuvor, entfaltete der Kirchentag an diesem ersten Abend des Kirchentags eine faszinierende Ausstrahlungskraft in die Innenstadtquartiere hinein.
Diese Kritik ignoriert drittens das einfach umwerfende Engagement der Pfadfinder, die in uneitler Selbstlosigkeit vom frühen Morgen bis in die Nacht schufteten und für reibungslosen Ablauf hunderter Veranstaltungen auch an diversen Kirchorten sorgten.
Und sie will viertens nicht wahrnehmen, wie die kaum unter links-grünlastigen Verdacht stehenden Johanniter oder die Hannoversche Stadtgesellschaft mit am Start war, bereits lange im Voraus unterwegs im Maschinenraum der Kirchentagsorganisation, und vor allem beim Arrangement des Abends der Begegnung Entscheidendes geleistet hat. Deswegen, aber auch aufgrund des Engagements so vieler ehren- und hauptamtlicher Kräfte zuvor, entfaltete der Kirchentag an diesem ersten Abend des Kirchentages eine faszinierende Ausstrahlungskraft in die Innenstadtquartiere hinein.
Auch schwierige Themen wurden angesprochen
Virulente, die Kirche selbst betreffende Fragen wurden nicht ausgeblendet. Die mit sexualisierter Gewalt und Missbrauch verbundenen Fragen fanden einen Platz, den der diesen akuten Problemkreis wachsam verfolgende Philipp Greifenstein immerhin "angemessen" fand. Die Kirchentags-App machte auf die entsprechenden 18 Veranstaltungen mit Nachdruck aufmerksam: Wie Greifenstein würdigte, eine Podienreihe, zwei Ausstellungen, Vorführung des Films "Die Kinder aus Korntal" mit anschließender Diskussion, ein Gottesdienst zum Glauben nach Gewalterfahrung mit dem sächsischen Landebischof und stellvertretendem Ratsvorsitzenden Tobias Bilz und der Theologin und Aktivistin Sarah Vecera.
Die Ratsvorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs, die Präses der EKD-Synode Anna Nicole Heinrich, der Landesbischof der einladenden Gastkirche Ralf Meister, die Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst als Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforums der EKD und vor allem Betroffene selbst stellten sich in Interviews und Diskussionsgängen den Problemlagen. Leider fand die Vorstellung der Anfang 2025 vorgelegten Kirchentagsstudie "Pädophilie im Fokus" von Uwe Kaminsky, wie Philip Greifenstein mit Recht monierte, "gut versteckt … mitten in der Messe", parallel zur Pressekonferenz des Kirchentages statt. Das fiel – man darf, ohne große Zweifel zu haben, unterstellen – ganz ohne Absicht der selbstkritischen Ambition des Kirchentagspräsidiums in den Rücken. Und ein kritischer Rückblick im Dienst der Frage, was zu tun ist, damit der notwendige "Kulturwandel" und die "Veränderungen in den Strukturen" endgültig greifen, bleibt hier wie überhaupt in den Evangelischen Kirchen geboten.
Die evangelische Kirche, überhaupt die Kirchen sind in unserem Land eine vitale millionenumspannende dynamische Versammlung von Menschen, die eben nicht um die Frage ihrer ekklesiologischen Selbstfindung kreist, sondern der Frage nach der Geistesgegenwart Gottes in der Welt nachgeht.
Dankbarkeit für die Präsenz vor allem der sogenannten Laien, die ihrem allgemeinen Priestertum aller Glaubenden auf wundervolle Weise alle Ehre gegeben haben, ging Hand in Hand mit einer riesigen Erleichterung bei den Verantwortung Tragenden, dass kirchenfeindliche Gewaltübergriffe ausblieben – mit einer Ausnahme: Schmierereien und zerstörte Kirchenfenster gab es freilich an der Marktkirche Hannovers, was wahrlich kein Akt beeindruckender zivilcouragierter Kirchenkritik genannt zu werden verdient.
So zeigte sich und macht Hoffnung: Die evangelische Kirche, überhaupt die Kirchen sind in unserem Land eine vitale millionenumspannende dynamische Versammlung von Menschen, die eben nicht um die Frage ihrer ekklesiologischen Selbstfindung kreist, sondern auf eine ganz andere Frage aus ist: auf die Frage nach einem Gott für die Menschen, auf die Frage seiner Geistesgegenwart in der Welt. Dem in Zukunft ein immer noch ökumenischeres, ein immer noch internationales Angesicht zu verleihen, dürfte Kirchentagshandwerk mit goldenem Boden sein.