Gottesbeweise haben in der säkularisierten Moderne keinen besonders guten Ruf, auch nicht mehr in der heutigen Theologie. Doch in der katholischen Philosophie regt sich neues Interesse: So erschienen jüngst die Bücher "Gott existiert" von Benedikt Göcke (Meiner 2025) und "Serpentinen" von Sebastian Ostritsch (Matthes & Seitz 2025). Besonders letzteres Buch hat viel Beachtung gefunden, nachdem eine Buchvorstellung von Ostritsch an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München (HFPH) – aus Gründen, die nichts mit dem Thema des Buches zu tun haben – gecancelt wurde.
Gottesbeweise haben keinen guten Stand
Als Alumnus der HFPH sind Gottesbeweise auch mein Heimthema. Die HFPH war schon immer eine Hochburg der Gottesbeweisthematik, die Philosophische Gotteslehre war eines der großen Prüfungsfächer, die wir alle absolvieren mussten. Daher möchte ich auf diesem Wege etwas nachreichen, was ich von meinen Lehrern an der HFPH gelernt habe und was in die Diskussion der Buchvorstellung gehört hätte.
Wenn Gottesbeweise allgemein heute schon keinen guten Stand mehr haben, so steht es noch schlimmer um den sogenannten Ontologischen Gottesbeweis: Denn schon Thomas von Aquin lehnte ihn ab, und wenn schon der Fürst der Scholastik dies tut, der doch für seine eigenen Gottesbeweise berühmt ist, dann muss es besonders schlecht um den Ontologischen Beweis stehen.
Thomas und Kant haben Anselm missinterpretiert
Doch an der HFPH gab es noch Vertreter der äußerst rar gewordenen Spezies der Verteidiger des Ontologischen Gottesbeweises, näherhin des sogenannten Proslogion-Arguments von Anselm von Canterbury (1033–1109). Ich zähle mich ebenfalls zu diesen Verteidigern. Und ich bin der Meinung, dass Thomas von Aquin Anselms Beweis grob missinterpretiert hat – und seit Thomas auch Immanuel Kant und viele andere, bis hin zu Sebastian Ostritsch im 4. Kapitel seines genannten Buches.
Warum? Was zunächst philosophiegeschichtlich auffällt, ist, dass der Proslogionbeweis unter allen Augustinisten des Mittelalters Anerkennung fand, während er unter allen Aristotelikern einhellige Ablehnung erfuhr. Das liegt daran, dass die aristotelische Erkenntnis- und Beweistheorie eine ganz andere ist als diejenige, die Anselm voraussetzt, der sich explizit als Augustinist versteht und im Rahmen einer neuplatonisch-augustinischen Erkenntnislehre denkt. Thomas hingegen unterstellt Anselm eine aristotelische Beweistheorie, und dann muss sein Gottesbeweis zwangsweise in die Binsen gehen.
Zudem gehören die Einwände des Mönchs Gaunilo von Marmoutiers und Anselms Antworten auf Gaunilo wesentlich zum Proslogionargument dazu. Dieser Austausch ist einer der seltenen Fälle einer Selbstinterpretation eines mittelalterlichen Autors und enthält absolut entscheidende Erläuterungen und Präzisierungen (Gaunilos Einwände enthalten im Grunde bereits alle späteren Einwände, die gegen Anselm erhoben wurden). In der Forschung wird bezweifelt, dass Thomas und auch Kant diesen Text überhaupt kannten.
Die Ausdrücke "Gott ist das höchste, vollkommenste Wesen" und "Dasjenige, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann" sind nicht synonym.
Ostritsch schreibt: "Gott ist nach Anselm das höchste Wesen, oder genauer: etwas, 'über dem nichts Größeres gedacht werden kann'. […] Die Beweisidee Anselms besteht nun darin, dass man sich in einen Widerspruch verfängt, wenn man Gott als höchstes, vollkommenstes Wesen versteht und zugleich seine Existenz bestreitet" (37).
Genau das ist nicht korrekt. Die Ausdrücke "Gott ist das höchste, vollkommenste Wesen" und "Dasjenige, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann" (id quo maius cogitari nequit – kurz: IQMCN) sind nicht synonym. Bereits Gaunilo unterstellt Anselm, dass er in seinem Beweis vom höchsten Wesen, vom Größten von allem (maius omnium) spreche – was Anselm in seiner Antwort zurückweist. Denn diese Verwechslung der Ausdrücke verfälscht Anselms Argument und ist auch logisch nicht zulässig (das IQMCN ist immer auch das höchste Wesen, aber nicht umgekehrt).
Um zu zeigen, warum diese Verwechslung Anselms Argument verfälscht, sei Anselms Argument (in verknappter Form) genauer betrachtet:
- (1) Ausgangspunkt: Gott = das / etwas, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann (und hier bedeutet "größer" in jeder Hinsicht größer – schlicht absolut unüberbietbar).
- (2) Für alles, was gedacht wird, gilt: Entweder (a) es existiert nur im Denken. Oder (b) Es existiert sowohl im Denken als auch in der Wirklichkeit.
- (3) Alles, was nicht nur im Denken, sondern auch in der Wirklichkeit existiert, ist größer als das, was nur im Denken existiert.
- (4) Das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, muss also als in Wirklichkeit existierend gedacht werden, sonst könnte Größeres als es gedacht werden.
- (5) Also existiert das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. (Und es kann gar nicht nicht existieren.)
Die zwei Haupteinwände, die immer wieder gegen dieses Argument vorgebracht wurden, lauten:
- (A) Die Prämisse (1) ist nur eine Begriffsanalyse und darum keine hinreichende Prämisse für den Schluss auf wirkliche Existenz.
- (B): Aus (4) folgt nicht (5), aus einem So-denken-müssen folgt nicht Existenz.
Der Einwand (A) wird explizit von Thomas von Aquin erhoben. Mit Ostritsch gesagt:
"Was das ontologische Argument demonstrieren möchte, ist, dass Gottes Existenz eine begriffliche Notwendigkeit ist. So wie es im Begriff des Kreises liegt, dass er rund ist, oder es im Begriff des Junggesellen liegt, dass er unverheiratet ist, so soll es im Begriff des höchsten Wesens liegen, dass es existiert. […] Thomas entgegnet: Auch wenn der Begriff der Existenz mit dem Begriff eines Wesens, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, logisch verbunden ist, folgt daraus nicht Gottes wirkliche Existenz. Denn aus dem logischen Zusammenhang der beiden Begriffe 'Existenz' und 'etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann' lässt sich nicht schließen, dass es auch eine reale Sache gibt, die dem letzteren Begriff entspricht" (Serpentinen, 39 und 44).
Hätte Anselm mit seinem IQMCN tatsächlich eine Begriffsdefinition vorgelegt, wie Gaunilo es mit seiner Definition wiedergibt, dass Gott das maius omnibus ist, und hätte Anselm dann von der Begriffsanalyse auf die Realität schließen wollen, dann würde er in der Tat dastehen wie ein dummer, gescheiterter Aristoteliker. Aber nirgendwo definiert Anselm Gott als IQMCN und nirgendwo behandelt er diesen Ausdruck als einen Begriff aristotelischer Art.
Anselm legt Gott keine Prädikate bei
Das sprachliche Zeichen IQMCN ist nämlich gar keine Definition oder Kennzeichnung Gottes. Definitionen sind Identifikationen eines Begriffs mit einem komplexen Prädikat. Das verbum finitum der Definition besteht im "ist", welches Definiens und Definiendum verbindet und so eine positiv finite Aussage erzeugt. Anselm hingegen behandelt das IQMCN nicht als komplexes Prädikat, er legt Gott überhaupt keine Prädikate bei.
Anselm macht eine Behauptung über einen aktualen Sachverhalt, nämlich über das grundsätzliche Verhältnis unseres Denkens zu Gott. Er liefert eine Grenzangabe des Ortes Gottes in unserem Denken.
Das verbum finitum findet sich im "nequit" des "quo maius cogitari nequit": Anselm macht eine Behauptung über einen aktualen Sachverhalt, nämlich über das grundsätzliche Verhältnis unseres Denkens zu Gott. Er liefert eine Grenzangabe des Ortes Gottes in unserem Denken. Dieser Ort in unserem Denken ist keine Eigenschaft Gottes.
Wir können Gott nur denken, wenn wir ihn als denjenigen denken, der unser Denken übersteigt – und oberhalb, außerhalb unseres Denkens gibt es nur die Wirklichkeit.
Damit steht Anselm bereits auf der Ebene der Wirklichkeit, nämlich auf der eines aktualen Sachverhalts, und nicht des rein Begrifflichen: der aktuale Sachverhalt, dass wir Gott nicht anders denken können, denn als das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann – d.h. ihn in dieser Unüberbietbarkeit denken zu müssen. Der Gedanke "Gott" erweist sich als unübertreffbar im Denken, weil er ein Grenzbegriff ist.
Wir können Gott nur denken, wenn wir ihn als denjenigen denken, der unser Denken übersteigt – und oberhalb, außerhalb unseres Denkens gibt es nur die Wirklichkeit. Anselms Beweis ist dann nichts anderes als die logische Entfaltung der sich im "...cogitari nequit" zeigenden Notwendigkeit in ihren Implikationen.
Anselm geht von einer Tatsache aus
Damit aber ist Anselms Proslogionbeweis auch kein rein apriorischer Beweis mehr, der von einem reinen Begriff ausgeht, wie Ostritsch im Gefolge aller Gegner dieses Beweises nach Thomas unterstellt (36), sondern er hat ein aposteriorisches Element: er geht aus von einem aktualen Sachverhalt, d.h. von einer Tatsache, die sich in einer Denkerfahrung zeigt.
Dies berührt nun auch obigen Haupteinwand (B): Anselms Gedankengang führt von der Tatsache, dass der Geist im Denken der Gottesidee Notwendigkeiten unterworfen ist, über die Analyse dieser Notwendigkeiten zur Existenz Gottes. Im Kern besagt diese Analyse: Das im Denken Unüberbietbare muss mit dem unüberbietbaren Kriterium aller Erkenntnis und allen Denkens zusammenfallen: mit der Wirklichkeit. Wenn es um das Letzte und Ganze geht, muss das Denken des Höchsten mit dem Höchstwirklichen in eins fallen (und auch die Totalität der Wirklichkeit ist uns nur über das Denken zugänglich, wir haben keine empirische Totalerfahrung vom Sein selbst).
Solange man beide Aspekte auseinanderdividiert, das Denken des Höchsten und das Höchstwirkliche, muss noch einmal etwas Größeres gedacht werden – nämlich das beide Umfassende, da jede Trennung nur vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Grunddimension stehen kann. Doch genau das würde dem Gedanken des "worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann" widersprechen.
In Anselms Argument geht es also letztlich darum, dass die Trennung von Denken und Wirklichkeit, von Denken und Sein, nicht bis ins Letzte, Höchste durchgehalten werden kann.
Anselms Argument zeigt, dass der Geist sich in seinem höchsten und umfassendsten Inhalt überbietet und bei der letzten Wirklichkeit, beim Absoluten selbst ist (vgl. Harald Schöndorf: "Ist der ontologische Gottesbeweis ein Fehlschluß?", in: Doré/Theobald: Penser la foi (1993), 991–1003). In Anselms Argument geht es also letztlich darum, dass die Trennung von Denken und Wirklichkeit, von Denken und Sein, nicht bis ins Letzte, Höchste durchgehalten werden kann. Und hier berühren sich das Proslogionargument und der alethologische Gottesbeweis von Augustinus.
Was Thomas kritisiert, hat Anselm nie behauptet
Es fragt sich schließlich, wieso Thomas von Aquin überhaupt dem Anselm‘schen Gedanken eine aristotelische Beweistheorie untergeschoben hat – und ob seine Argumentation überhaupt gegen Anselms Originalargument gerichtet war.
Sieht man genauer in das Werk des Aquinaten, so fällt auf, dass er Anselms Argument immer nur dort anführt, wo es ihm um die Frage geht, ob die Existenz Gottes dem menschlichen Geist "durch sich selbst bekannt sei" (esse per se notum), ob sie also eine selbsteinleuchtende Wahrheit sei. Anselms Proslogionbeweis wird von Thomas als Argument derjenigen angeführt, die verfechten, dass uns die Existenz Gottes durch sich selbst bekannt sei und dass deshalb Gottesbeweise überflüssig seien.
Das hat Anselm nie behauptet – sonst hätte er selbst keinen expliziten Gottesbeweis geführt (dass die Einordnung des heiligen Thomas nicht passt, ist zumindest schon Heinrich von Gent [ca. 1240–1293] aufgefallen; vgl. Christian Tapp, Bernd Goebel: Anselm von Canterbury. Der Gottesbeweis im Proslogion und die Debatte mit Gaunilo, Ditzingen 2025, 245). Wen kann Thomas dann gemeint haben?
Der damals wohl wichtigste Vertreter der Per-se-notum-These war Thomas' Zeitgenosse und Kollege in Paris, der heilige Bonaventura (1221–1274), auf den er indirekt zu antworten scheint. Das lässt sich sogar bis in Wortgleichheiten bei beiden zurückverfolgen.
Thomas hat sich dann also gar nicht wirklich mit Anselm auseinandergesetzt, er hat im Gefecht mit ganz anderen Themen das originale Proslogionargument sozusagen gecancelt. Mit weitreichenden Folgen in der Philosophiegeschichte.