"All diese Dokumente haben das Gesicht der Kirche verändert"60 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil

Kardinal Kasper spricht im Interview über das Konzil, den Kampf um seine Deutung und seine Wirkung bis heute.

Papst Paul VI. beim Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965
Papst Paul VI. beim Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965© Ernst Herb/KNA

Jan-Heiner Tück: Wir begehen in diesen Tagen das 60-Jahr-Jubiläum des Konzils. Wie haben Sie als junger Theologe die Ankündigung des Konzils durch Johannes XXIII. erlebt?

Walter Kardinal Kasper: Ich erinnere mich noch gut an den Abend, es war der 25. Januar 1959, ich saß mit ein paar Kollegen zusammen, um die Abendnachrichten zu hören. Da kam die Nachricht: Heute hat Papst Johannes XXIII. in Sankt Paul vor den Mauern ein ökumenisches Konzil angekündigt. Es war ein in Paukenschlag! Die Begeisterung wuchs mit jedem Tag und mit ihr die Erwartungen. Niemand konnte wissen, wohin die Dynamik führt.

Erneuerung aus dem Evangelium

Tück: Welche Absichten verband der Papst mit dem Konzil?

Kasper: Hängen blieb zunächst das Wort aggiornamento, also das Heutigwerden der Kirche. Doch schon bei der offiziellen Einberufung des Konzils machte die Apostolische Konstitution Humanae salutis (25. Dezember 1961) klar: Es geht nicht um oberflächliche Anpassung. Der Papst sprach vom grundlegenden Auftrag der Kirche, das Evangelium zu verkünden, sah aber angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche eine Krise voraus. Darum mahnte er, auf die "Zeichen der Zeit" zu achten und der modernen Welt die lebensspenden Energien des immer gültigen Evangeliums zu vermitteln. Nach dem Konzil fasste sein Nachfolger Papst Paul VI. das Grundanliegen des Konzils im Sinn Johannes XXIII. im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi (1975) zusammen. Die Kirche ist da, um das Evangelium zu verkünden; das ist ihre raison d’être, ihre Daseinsberechtigung. Erneuerung aus dem Evangelium ist der Auftrag des Konzils. Damit wurde Evangelisierung zum Leitmotiv aller folgenden Päpste bis zu Papst Franziskus.

Tück: Auf die Reform-Euphorie des Anfangs folgte eine gewisse Ernüchterung und Verunsicherung. Dann setzte in Bologna unter Leitung von Giuseppe Alberigo die historische Rekonstruktion des "Ereignisses" ein, während gleichzeitig der mehrbändige theologische Kommentar bei Herder erarbeitet wurde. Das ist jetzt fast 20 Jahre her. Wie würden Sie die Situation heute einstufen?

Kasper: In der Verwirklichung der Reformabsichten stießen von Anfang an zwei Richtungen aufeinander. Die eine kam von den Erneuerungsbewegungen zwischen den beiden Weltkriegen her: die Bibelbewegung, die liturgische Bewegung, die patristische Erneuerung, die aktive Mitarbeit der Laien, den pastoralen Neuaufbruch in Frankreich. Also Erneuerung aus dem lebendigen Geist des Evangeliums. Der anderen Richtung ging es um die Bewahrung des Evangeliums, wie es sich in der traditionellen neuscholastischen Lehrtradition der letzten Jahrhunderte niedergeschlagen hatte. So waren in den konziliaren Dokumente viele Kompromissformulierungen notwendig, um die Einheit der Kirche zu wahren. Doch als dann nach dem Konzil die Erneuerungsdynamik stockte und die konservativen Kräfte zunahmen, kam es zu Enttäuschung, Unmut, Stagnation und Protest.

"Die Herausforderung ist nicht mehr die Moderne, sondern die die Moderne hinterfragende, unübersichtliche Postmoderne."

Tück: Wie sehen Sie die heutige Situation?

Kasper: Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die den begeisterten Aufbruch des Konzils nicht mehr erlebt hat und ihm weithin indifferent gegenübersteht. Die Herausforderung ist nicht mehr die Moderne, sondern die die Moderne hinterfragende, unübersichtliche Postmoderne. In der geistlichen Leere, Orientierungslosigkeit und Indifferenz tut Erneuerung aus dem Evangelium dringend not; sie ist unsere einzige Hoffnung. Doch die Fragen stellen sich anders und im positiven Sinn des Wortes radikaler; sie gehen an die Wurzeln. Das Zweite Vatikanische Konzil ist Geschichte und doch kann es nur weitergehen, wenn wir die Glut unter der Asche, die sich angesammelt hat, neu entflammen.

Die Kirche ist missionarisch

Tück: Das Textkorpus des Konzils umfasst 16 Dokumente. Welche sind die wichtigsten? Und wie sind die Dokumente untereinander vernetzt?

Kasper: Die wichtigsten Dokumente sind zweifellos die vier großen Konstitutionen: über die Liturgie und die liturgische Erneuerung, über die Kirche, die Offenbarung und über die Kirche in der Welt von heute. Hinzu kommen neun Dekrete und drei Erklärungen. Das Dekret über den Ökumenismus, die Erklärung über die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen und dabei besonders zum Judentum und die Erklärung zur Religionsfreiheit sind besonders wichtig. Andere Dekrete behandeln die innerkirchliche Erneuerung, vor allem die Stellung der Laien und der Ämter und schließlich gibt es das Missionsdekret, das uns neu aufrütteln muss. Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen da. Die Kirche ist ihrer Natur nach missionarisch. Alle diese Dokumente haben das Gesicht der Kirche, vor allem in der Liturgie, verändert. Die Kirche hat sich nach innen und außen geöffnet. Aus der Kleriker-Kirche sollte eine Kirche des Volkes Gottes mit der aktiven Beteiligung der Laien werden. Nach außen hat das Konzil viele Türen geöffnet: für die Ökumene, den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, besonders für das Volk des Ersten Bundes und für die Mission hinaus in die Welt. Dahinter gibt es kein zurück. Dabei dürfen wir auch nicht stehen bleiben. Karl Rahner sagte bei seiner Rückkehr vom Konzil: Das Konzil ist nur "der Anfang eines Anfangs".

"Man darf die Tradition nicht mit Traditionalismus verwechseln."

Tück: Die Erneuerung der Liturgie, die ökumenische Öffnung, der Dialog mit dem Judentum und den anderen Religionen, aber auch die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit haben nach dem Konzil scharfe Kritik erfahren. Die Traditionalisten werfen dem Konzil "Neomodernismus" und "Traditionsbruch" vor. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf?

Kasper: Ich kann diesem Vorwurf in keiner Weise zustimmen. Man darf die Tradition nicht mit Traditionalismus verwechseln. Die Tradition ist ein lebendiger Prozess, in dem der Heilige Geist uns immer neu in die ganze Wahrheit einführt (Joh 16,13). Tradition ist ein vom Geist geleitetes Wachsen und Reifen im Verständnis der Wahrheit des Evangeliums auf dem Boden der Heiligen Schrift und der lebendigen Tradition. Wenn man die Texte des Konzils aufmerksam studiert, dann kann man feststellen, dass sie alles biblisch gut begründen, in der Lehre der Kirchenväter verankert sind und das frühere kirchliche Lehramt miteinbeziehen. Da ist nichts von "Neomodernismus" und "Traditionsbruch", vielmehr vieles von einem Baum mit wachsenden Ringen.

Ein Pastoralkonzil

Tück: Um das Gespräch mit der traditionalistischen Piusbruderschaft voranzubringen, wird immer wieder die These vertreten, das Zweite Vatikanische Konzil sei "bloß ein Pastoralkonzil" gewesen, es habe keine Dogmen definiert. Insbesondere die Dekrete und Erklärungen seien von geringem Verbindlichkeitsgrad, Kardinal Walter Brandmüller hat gerade nochmals Nostra aetate und Dignitatis humanae als "überholt" bezeichnet. Wie ist Ihre Einschätzung?

Kasper: Richtig ist, dass das Konzil keine formellen Dogmen und keine formellen Lehrverurteilungen verkündet hat. Aber es gibt, wie man in jedem theologischen Lehrbuch nachlesen kann, unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit. Danach hat eine vom Papst formell bestätigte Lehre des Gesamtepiskopats, auch wenn sie nicht ausdrücklich als Dogma formuliert ist, eine hohe Verbindlichkeit, bei der es dann wiederum Abstufungen gibt. Auch die Rezeption in der Kirche ist von Bedeutung. Die beiden Dokumente Nostra aetate (über die nichtchristlichen Religionen) und Dignitatis humanae (über die Religionsfreiheit) haben eine große Bedeutung erlangt; sie sind nicht überholt, im Gegenteil, sie sollten theologisch vertieft und weitergeführt werden. Bei dem Argument, das Zweite Vatikanische Konzil sei "bloß ein Pastoralkonzil", kann man nur schmunzeln. Es gibt keine Pastoral ohne dogmatische Grundlage und keine Dogmatik, die nicht auch pastorale und spirituelle Konsequenzen hat. So ist die Bezeichnung "Pastoralkonzil" keine Abwertung, sondern eine klare Aufwertung, weil sie bestätigt, dass dieses Konzil keine theologischen Spekulationen verkündet, sondern den Nagel auf den Kopf getroffen und Wesentliches für das christliche Leben in unserer Zeit gesagt hat.

"Die große Bedeutung der Pastoralkonstitution Gaudium et spes steht für mich außer Frage. Doch sie kann nicht isoliert interpretiert werden, und schon gar nicht können einzelne Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden."

Tück: In Teilen der deutschsprachigen Theologie wird die Pastoralkonstitution Gaudium et spes als besonders wichtig eingestuft. Hier werde die Kirche in der Welt von heute verortet. Man hat von einer "zweiten Offenbarungskonstitution" gesprochen und die "Zeichen der Zeit" in den beschleunigten Lebenswelten der späten Moderne zu "Offenbarungsquellen" aufgewertet. Würden Sie hier mitgehen?

Kasper: Die große Bedeutung der Pastoralkonstitution Gaudium et spes steht für mich außer Frage. Doch sie kann nicht isoliert interpretiert werden, und schon gar nicht können einzelne Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden. So muss die Pastoralkonstitution im Zusammenhang mit den anderen Konstitutionen, besonders mit der Offenbarungskonstitution Dei verbum gelesen werden. Diese sagt klar und eindeutig, dass über Jesus Christus, seinen Tod, seine Auferstehung und Geistsendung hinaus keine neue öffentliche Offenbarung zu erwarten ist (Art. 4). Die Pastoralkonstitution widerspricht dem nicht, im Gegenteil, sie entspricht ihm. Sie sagt mit keinem Wort, dass die "Zeichen der Zeit" eine zusätzliche Offenbarungsquelle seien; sie sagt vielmehr klar und eindeutig, dass die "Zeichen der Zeit" im Licht des Evangeliums gedeutet werden müssen (Gaudium et spes, Art. 4) – und nicht umgekehrt. Sie sind nicht Quelle der Offenbarung, sondern Hilfe, um die Quelle, die das Evangelium ist, auf die konkrete Situation hin auszulegen.

"In der Tat sollen und können wir die grundlegenden Aussagen der christlichen Anthropologie nicht aufgeben."

Tück: Die Umkodierung der Geschlechterverhältnisse ist eines der Zeichen der Zeit, an dem sich die Geister scheiden. Der Katechismus der Katholischen Kirche lehrt, dass homosexuelle Handlungen "in sich nicht in Ordnung" seien. Das halten viele für revisionsbedürftig und fordern, die Vielfalt sexueller Orientierungen – darunter auch polyamouröse und bisexuelle Verbindungen – als Gott gewollte Schöpfungswirklichkeit anzuerkennen. Wie kann man betroffenen Personen mit Respekt begegnen, ohne die Grundlagen der theologischen Anthropologie aufzugeben?

Kasper: In der Tat sollen und können wir die grundlegenden Aussagen der christlichen Anthropologie nicht aufgeben. Sie sagt uns, dass jenseits alles geschichtlichen und kulturellen Wandels alle Menschen von Gott nach seinem Bild geschaffen sind und dadurch jeder Mensch eine unantastbare Würde besitzt (Gen 1,27). Wir sollen darum Menschen, Männer wie Frauen, die eine andere geschlechtliche Orientierung haben, achten und respektieren; verächtliches Gerede oder gar Bestrafung und Diskriminierung sind damit ausgeschlossen. In der pastoralen Beratung soll man solchen Menschen helfen, dass sie sich in ihrer jeweiligen Eigenart annehmen und von Gott als solche angenommen wissen. Wenn man weitergeht und die Aussagen radikaler Gendertheorien mit der christlichen Anthropologie vergleicht, dann gibt es zwei Konfliktpunkte: Zum einen vertritt die christliche Anthropologie die wunderbare Einheit von Leib und Seele und sieht darum in der Trennung von sex und gender ein Problem. Der Forderung nach sogenannten "geschlechtsangleichenden Maßnahmen" bzw. nach "Transition" im Namen der Selbstbestimmung kann sie daher nicht vorbehaltlos zustimmen. Zum anderen sagt die christliche Anthropologie, dass Gott den Menschen als Mann und Frau erschaffen hat und vertritt damit, anders als manche radikalen Spielarten der Gendertheorie, eine binäre, sich komplementär ergänzende Geschlechterstruktur. Es ist daher theologisch fraglich, ob und inwiefern von den beiden Geschlechtern abweichende Gender-Varianten, die ja nicht zuletzt durch Selbstzuschreibungen zustande kommen, zugleich als vorgegebene "Schöpfungswirklichkeit" aufgefasst werden können, die es einfach nur zu akzeptieren gilt. Nach meiner Kenntnis sind beide Punkte des Konflikts auch in den zuständigen Wissenschaften nach wie vor umstritten. Da ich in diesen Fragen nicht fachkundig bin, will ich die weitere Diskussion den zuständigen Experten überlassen und selbst bei den in der Kulturgeschichte bewährten Positionen der christlichen Anthropologie bleiben.

Die Päpste und das Konzil

Tück: Schauen wir auf die Pontifikate der Nachkonzilszeit. Papst Johannes Paul II. (1978-2005) hat gerade das bekräftigt, was die Traditionalisten in Frage stellen. Er hat die Religions- und Gewissensfreiheit betont und dadurch das kommunistische Regime in Polen erschüttert. Auch hat er Impulse von Nostra aetate entschieden aufgenommen und das Verhältnis zum Judentum durch eindrückliche Gesten und die Rede vom ungekündigten Bund verbessert. Nach innen hin fällt die Bilanz für viele eher durchwachsen aus. Was ist Ihre Sicht?

Kasper: Johannes Paul II. war ein großer Papst und eine Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung. Er hat große Verdienste, was die Verwirklichung und praktische Umsetzung des Konzils in Fragen der Liturgie, des Kirchrechts, der Ökumene, der Beziehungen zum Judentum anlangt. Auch hat er in Fragen des Friedens und der Versöhnung von Ost- und Westeuropa, der kulturellen und sozialen Belange vieles vorangebracht und kraftvolle Zeichen gesetzt. In seinen "mea culpa" hat er sich klar abgesetzt von einer nicht dem Evangelium entsprechenden Praxis in der Kirchengeschichte und zur Rehabilitierung von Personen, auch Theologen, beigetragen, welche zu Unrecht verurteilt wurden. In Fragen der Moraltheologie, der Kirchenreform, der Frauenordination hat er strikte Positionen vertreten, die nicht allen gefallen haben, die jedoch bis heute kirchenamtlich nicht neu entschieden sind, weshalb ich kein abschließendes Urteil abgeben möchte. Wer bei der Liturgie anlässlich seines Todes anwesend war, konnte seine hohes Ansehen weit über die katholische Kirche hinaus miterleben. Auch ich habe ihm persönlich viel zu verdanken.

"Zurecht war Benedikt XVI. wichtig, bei allen geschichtlichen Wandlungen die Identität der einen Kirche Jesu Christi durch alle Jahrhunderte festzuhalten und die Rede von einer durch das Zweite Vatikanische Konzil geschaffenen, neuen Kirche zurückzuweisen."

Tück: Sein Nachfolger Benedikt XVI. (2005-2013) hat mit seinen Enzykliken und Reden theologisch wichtige Impulse gesetzt. In seiner Weihnachtsansprache 2005 hat er für die Interpretation des Konzils eine "Hermeneutik der Reform" stark gemacht, für die ein Zusammenspiel von Momenten der Kontinuität und Diskontinuität leitend ist. Wie beurteilen Sie diesen Vorstoß?

Kasper: Wir haben uns über 50 Jahren gekannt und sind uns auf allen Stationen unseres Lebenswegs begegnet. Papst Benedikt war ohne Zweifel ein bedeutender Theologe und hat dabei auch viele geistliche Impulse gegeben. In der Konzilshermeneutik und in seiner "Hermeneutik der Reform" hat er die Diskussion entschärft, aber nicht schon das letzte Wort gesprochen. Zurecht war ihm wichtig, bei allen geschichtlichen Wandlungen die Identität der einen Kirche Jesu Christi durch alle Jahrhunderte festzuhalten und die Rede von einer durch das Zweite Vatikanische Konzil geschaffenen, neuen Kirche zurückzuweisen. In den kirchlichen Reformfragen war er eher zögerlich und abbremsend. Im Umgang mit der Missbrauchskrise hat er jedoch gegen Widerstände einen grundsätzlichen Wandel eingeleitet, den er dann verständlicherweise nicht abschließen konnte. Seine theologischen und geistlichen Impulse wirken weiter und werden weiterwirken.

Tück: In der Weihnachtsansprache hat Benedikt Peter Hünermanns Vergleich des Zweiten Vatikanischen Konzils mit einer verfassungsgebenden Nationalversammlung zurückgewiesen. Wie beurteilen Sie diesen Vergleich?

Kasper: Auch ich halte diesen Vergleich für nicht glücklich. Die Kirche hat aufgrund ihrer eigenen Wesensverfassung ihre eigenen synodalen und konziliaren Strukturen; sie kann von den jeweiligen monarchischen wie demokratischen Formen lernen, aber sie kann sie nicht einfach übernehmen. Das Zweite Vatikanum hat weder eine verfassungsgebende Rolle angestrebt, noch kann es aufgrund der Universalität der Kirche mit einer Nationalversammlung verglichen werden.

Tück: Franziskus (2013-2025) – der erste Papst, der nicht selbst am Konzil teilgenommen hat – hat die Barmherzigkeit zum Leitwort seines Pontifikats gemacht und die Peripherien ins Zentrum der pastoralen Aufmerksamkeit gerückt. Wie beurteilen Sie sein Votum für eine inklusive und synodale Kirche?

Kasper: Papst Franziskus war der erste Papst, der aus der südlichen Hemisphäre, oder wie er sagte, vom anderen Ende der Welt kam. So konnte er die Probleme, aber auch die vielen positiven Anstöße der südlichen Hemisphäre, vor allem das Problem der Armut und der Gerechtigkeit sowie die Bedeutung, welche den Peripherien zukommen, sozusagen auf den Tisch der universalen Kirche legen. Maßgebend stand über allem die biblische Botschaft der Barmherzigkeit Gottes. Neue Impulse gab er durch die Betonung der Sorge für die Erde als dem gemeinsamen Haus aller Völker und der Geschwisterlichkeit aller Menschen. Dabei nahm er auch den Dialog mit dem moderaten Islam und den indigenen Völkern Latein- und Nordamerikas und Asiens auf.

Tück: Worin sehen Sie das wichtigste Vermächtnis seines Pontifikats?

Kasper: Seine vielleicht wichtigste Hinterlassenschaft ist, dass er das Problem Synodalität der Kirche aufgriff und damit einen wichtigen zukunftsträchtigen Beitrag zur Weiterentfaltung des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Lehre von der communio-Struktur der Kirche sowie der Gesprächskultur in der Kirche leistete. Damit hat er seinem Nachfolger eine in vielem noch offene Baustelle hinterlassen, auf der weiterzubauen der neue Papst Leo XIV. entschlossen ist.

Synodalität und Bischofsamt

Tück: Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, wie die synodale Einbettung des Bischofsamtes aussehen soll. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in Lumen gentium nicht nur das Bischofsamt gestärkt, sondern auch das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen betont. Im Nachgang zur Missbrauchskrise und zur systemischen Vertuschung von Delikten ist das Bischofsamt erheblich unter Druck geraten. Als Therapie wurde in Deutschland zunächst die Konstituierung eines Synodalen Rates angestrebt, der die Bischöfe nicht nur berät, sondern auch mitentscheidet. Ist das eine legitime Fortschreibung des Konzils im Sinne der verstärkten Einbeziehung von Laien – oder sehen Sie hier die Gefahr, die episkopale Verfassung der Kirche anzutasten?

Kasper: Die episkopale Struktur ist der katholischen Kirche wesentlich und wurde vom Zweiten Vatikanum deutlich herausgestellt. Seit dem Konzil ist freilich auch das Verhältnis von Bischofsamt und dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen zu einem Dauerbrenner geworden, der jetzt im Rahmen der Synodalität geklärt werden soll. Die Missbrauchskrise, die das Versagen vieler Bischöfe offenlegte, ist ein zusätzlicher weiterer Impuls, sich dieser Frage zu stellen. Um Missverständnissen vorzubeugen, spricht man in Deutschland inzwischen nicht mehr von einem Synodalen Rat, sondern von einer synodalen Konferenz, die es seit der Würzburger Synode schon bisher in mehr informeller Form gegeben hat. Inwiefern diese Konferenz mitentscheiden oder mitberaten soll, scheint mir noch nicht voll geklärt zu sein und hängt auch von der noch notwendigen römischen Zustimmung ab. Bei einer guten Gesprächskultur ist diese juridische Unterscheidung übrigens gar nicht so wichtig. Denn synodal heißt miteinander auf dem Weg zu einem Konsens zu sein und nicht in Machtspielen gegeneinander zu argumentieren und einander zu überstimmen. Das Konzil hat dazu eine gute Formulierung gefunden, indem es von einem geistgewirkten einzigartigen Zusammenklang zwischen Vorstehern und Gläubigen gesprochen hat (Dei verbum, Art. 10). Im Dauerstreit gegeneinander werden wir verlieren, nur im Miteinander können wir unserer Stimme in der Welt neu Gehör verschaffen.

Religionsfreiheit in der Diskussion

Tück: Um die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit ist auf dem Konzil gerungen worden. Gerade die amerikanischen Bischöfe haben sich – unterstützt durch die Arbeiten von John Courtney Murray SJ (1904-1967) – dafür stark gemacht. Heute gibt es gerade in den USA Stimmen, die Dignitatis humanae neu interpretieren und für eine postliberale oder gar neointegralistische Position werben. Diese Stimmen haben Einfluss bis in die amerikanische Politik. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen?

Kasper: Ich bin früher oft, aber jetzt schon längere Zeit nicht mehr in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen. Inzwischen hat sich dort in Gesellschaft und Kirche vieles verändert, in das ich mich nicht einmischen will. Wenn man an die Pilgrim Fathers denkt, welche die Verfassung der Vereinigten Staaten maßgeblich mitbestimmt haben und dabei erstmals schon zehn Jahre vor der Französischen Revolution von Gott gegebenen Menschenrechten gesprochen haben und die an der der Einfahrt nach New York für Neuankömmlinge eine riesige Freiheitsstatue aufgestellt haben, wenn ich zudem an die multikulturelle, multireligiöse und multikonfessionelle Zusammensetzung der US-Bevölkerung denke, dann kann ich mir einen Postliberalismus oder Neo-Integralismus, was immer man darunter versteht, nicht vorstellen. Doch darüber müssen die Amerikaner selbst entscheiden.

Ein Drittes Vatikanisches Konzil?

Tück: Ihre Tübinger Kollegen Hans Küng und Norbert Greinacher haben schon vor der Jahrtausendwende ein Drittes Vatikanisches Konzil gefordert. Wäre die Zeit heute reif dafür?

Kasper: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es noch vor dem Weltuntergang wieder einmal ein Konzil geben. Im Augenblick scheint mir dazu die Zeit aber nicht reif zu sein. Nicht nur die Kirche, die Welt steckt mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Ich habe eingangs vom schwierigen Übergang von der Moderne in eine noch ziemlich unbestimmte Postmoderne gesprochen. Da muss vieles erst einmal wachsen und reifen. In der Kirche müssen wir unter vielem anderen uns erstmal mit Geduld klar werden, wie synodale Strukturen konkret aussehen sollen, erst dann kann der Papst ein Konzil als universale Synode einberufen. Sie wird kein Drittes Vatikanum sein, vielleicht dem Ort nach, aber nicht in der Gestalt und in der Thematik. Es gilt nicht nur manche ungelösten Probleme des Zweiten Vatikanischen Konzils nachträglich zu klären. Wenn es zu einer neuen Weltordnung, das heißt Einheit und Vielfalt in einer zwar digital vernetzten, aber vermutlich multipolaren Welt kommt, dann stellen sich für eine Weltkirche viele neue Probleme der Einheit in der Vielfalt, die sich in der bipolaren Welt der 1960er Jahre des Zweiten Vatikanums anders gestellt haben. Erneuerung aus dem Evangelium wird dann neu aktuell werden.

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