In dem Dorf, in dem Johannes Lorenz aufwuchs, wäre niemand auf die Idee gekommen, Adventsstimmung zu machen. Alles Tun war Antwort und Resonanz.

Ein trüber Morgen. Ich stehe am Bahnhof und warte auf meinen Zug. Die Sonne bleibt heute wohl den ganzen Tag hinter einem graudicken Wolkenbrei gefangen. Es nieselt leicht. Kalt ist es nicht. Die Temperaturen verharren in einem undefinierbaren Dazwischen. Winter in Mitteldeutschland.

Ich stecke mir meine Earbuds in die Ohren. Irgendwie diesem verunglückten Zustand entkommen. Es ist immerhin erster Advent. Doch kein Bote weit und breit, der davon künden würde. Noch nicht einmal neonfarben blickende Lichterketten oder Menschen mit billigen Weihnachtsmann-Zipfelmützen. Also krame ich in der unendlichen Musikbibliothek meines Streaming-Anbieters auf der Suche nach etwas …ja, nach was eigentlich?

Ich muss diese nassgraue Umgebung mit irgendeinem Trick davon abhalten, sich in mein Gemüt zu graben. Die Membran zwischen ihr und meinem Inneren spannt sich schon halb zerreißend. Eine Stimmung muss her. Schnell. Wenn schon von außen kein Advent zu erwarten ist, dann wenigstens einer, den ich mir in mein Inneres hinein produziere.

Alles war bereitet für die große Ankunft

Da, inmitten dieses vorweihnachtlichen Seelenkampfes, überfällt mich plötzlich eine Stimmung aus der Kindheit. Aufgewachsen in einem kleinen Bergdorf; oft noch Schnee in der Adventszeit. Der frühen Dunkelheit dort oben trotzten stimmungsvolle Beleuchtungen an den Häusern. Kein Kitsch, kein Gefunkel, kein schreiendes Geklimper – ruhiges und warmes Licht, das die schneegedämpfte Stille optisch widerspiegelte. Die Gesichter der Dörfler erleichtert, dass die Welt ihrer inneren Erwartung entgegenkommt. Der weiße Teppich ausgerollt. Alles bereitet für die große Ankunft.

Man bereitete sich auf etwas vor, das von außen hereinbrach. Alle Vorbereitungen standen in einem Dienstverhältnis, nicht unterwürfig, sondern erwartungsvoll und ehrfürchtig gegenüber diesem, das ganze Dorf übersteigenden Etwas. 

Dort oben gab es sie noch, die Heilige Nacht. Man bereitete sich auf etwas vor, das von außen hereinbrach. Alle Vorbereitungen standen in einem Dienstverhältnis, nicht unterwürfig, sondern erwartungsvoll und ehrfürchtig gegenüber diesem, das ganze Dorf übersteigenden Etwas. Der Weihnachtsbaum, der Wunschzettel auf der Fensterbank, die Musikproben für die Christmette, die Übungsstunden fürs Krippenspiel. Die Alten verstanden keinen Spaß, wenn es um Advent und Weihnachten ging. Trotzdem kam der Spaß bei uns Kindern nie zu kurz, er spielte sich aber immer innerhalb eines Rahmens ab, einer allen vorgegebenen Ordnung, die selbst der Dorfpfarrer nur vorgefunden hatte.

Sanfte Resonanz

Dieses Etwas trat allmählich in sanfte Resonanz mit unserem Dorf, bis zu jenem Abend, an dem irgendwann ein goldenes Glöckchen läutete, das uns Kindern verkündete, dass sich das Etwas auf magische Weise für einen unscheinbaren Bruchteil eines Augenblicks in unserem Haus niedergelassen hatte und genauso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war. Selbst als wir längst wussten, dass die Geschenke einen profanen Weg unter den Baum fanden, büßte das Etwas nichts ein von seiner Erhabenheit. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Adventsstimmung zu machen, sie irgendwie technisch herzustellen. Alles Tun war Antwort auf eine Schwingung, in die das Dorf sich hineinbegeben hatte. Nicht einmal der Kirchverweigerer konnte sich ihr entziehen.

Spätabends die Christmette, beginnend in vollkommener Dunkelheit. Die kleine Bergkirche bis zum letzten Platz gefüllt. Und dann löste der kleine Kirchenchor die Stille behutsam ab mit einem verhaltenen und aus der dunklen Tiefe aufsteigenden: "Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft…". Die Heilige Nacht war da. Niemand zweifelte daran. Es war offensichtlich. So sehr, dass selbst Menschen aus der Stadt den Weg hinauf in die weiße Nacht auf sich nahmen für diesen heiligen Augenblick. 

Vieles von dem, was Advent und Weihnachten heute für mich bedeuten, muss ich mir selbst zusammenbauen. Weihnachten ist zu einem Termin im Terminkalender geworden.

Ich bin inzwischen fündig geworden und lege mir Adventsmusik von German Brass auf die Ohren. Die technische Krücke zur künstlichen Stimmungsaufhellung hilft ein wenig.

Vieles von dem, was Advent und Weihnachten heute für mich bedeuten, muss ich mir selbst zusammenbauen. Nichts wird mir vorgegeben, kein Etwas, dass sich – von allen bemerkt – äußerlich ankündigt, außer vielleicht durch die Notwendigkeit der Jahreszeit. Weihnachten ist zu einem Termin im Terminkalender geworden. Dabei zweifle ich nicht daran, dass das Etwas nach wie vor in die Wohnzimmer unserer Zeit hineinkrabbeln kann. Nur es fällt mir schwer, gleichzeitig für den Rahmen zu sorgen und mich ihm entsprechend vorzubereiten. Ich bin heute zwangsläufig eine eierlegende Weihnachts-Wollmichsau. Manchmal ist das befreiend, manchmal bedrückend.

Ich bin woanders ein anderer geworden, die Welt ist eine andere geworden, das Dorf hat sich verändert.

Nichts wird mir das Weihnachten meiner Kindheit zurückbringen. Nicht einmal dann, wenn man alle Umstände exakt wiederherstellen würde. Ich bin woanders ein anderer geworden, die Welt ist eine andere geworden, das Dorf hat sich verändert. Manchmal spürt man ihn dort noch: den alten Rahmen des weihnachtlichen Etwas, durch den die Stimmung von damals hineinschlich in die dörfliche Umgebung.

Aber der weiße Teppich wird kaum noch ausgerollt. Den Kirchenchor gibt es nicht mehr. Viele Alte sind gestorben, und mit ihnen die Resonanzkörper und Türöffner für das Etwas, das einst am ersten Advent leise an die Türen klopfte. Nur an manchen Häusern zeigen die warmen Lichter der Weihnachtsbeleuchtung noch den Pfad, auf dem die stillen und großen Nächte einst Einlass fanden. Kleine leuchtende Zeugen, die sich tapfer mit dem neonfarbenen Blinkekram vergleichen müssen, der inzwischen den Weg auf den Berg gefunden hat und nun spaßig durch die Nächte quietscht.

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