Der Advent ist heute für viele Menschen die große Zeit des Heimkommens. Kaum eine andere Zeit des Kirchenjahres berührt unsere Gegenwart so unmittelbar wie diese Wochen vor Weihnachten. Sie wecken Erinnerungen an Kindheit und Geborgenheit, an vertraute Rituale, an Lichter, Düfte und Lieder, in denen Menschen sich selbst wieder näherkommen. Inmitten einer Welt, die uns oft überfordert, entsteht so ein Moment, in dem die Aufmerksamkeit sich verändert.
Erwartungsdruck und Unruhe
Gleichzeitig erweist sich der Advent für viele ebenso als ambivalent. Zu den vertrauten Bildern gesellen sich Erfahrungen von Erwartungsdruck und Unruhe. Diese Entfremdung verschwindet nicht, sie tritt gerade in den Tagen und Wochen vor Weihnachten noch deutlicher hervor als sonst. Umso notwendiger sind Orte, an denen solche Erfahrungen nicht verdrängt werden, sondern angenommen und gedeutet werden können. Die Liturgie kann ein solcher Ort sein. Sie nimmt das Leben auf und gibt ihm eine Form, die über das eigene Empfinden hinausweist. Gerade hier zeigt sich die subjektive Seite der Liturgie, die mehr ist als bloße Innerlichkeit.
Ein Schlüssel dafür sind die alten Excita-Orationen. Der Imperativ excita heißt wörtlich "wecke auf" oder "rüttle auf". So begannen bis zum Missale Romanum von 1962 die Tagesgebete des ersten, zweiten und vierten Adventssonntags (außerdem am Quatember-Freitag im Advent). Diese Gebete existieren zwar weiterhin, wurden im Messbuch Pauls VI. jedoch weitgehend auf die Werktage verlegt und sind damit, wie Alex Stock schreibt, "dem Ohr des gemeinen Kirchenvolkes zumeist entzogen" – obwohl sie schon wegen ihres theologischen Gewichts nicht in Vergessenheit geraten sollten (Orationen. Die Tagesgebete der Festzeiten, Regensburg 2014, 26).
Das Tagesgebet des zweiten Adventssonntags lautet in der alten Liturgie:
"Excita, Domine, corda nostra ad praeparandas Unigeniti tui vias: ut, per eius adventum, purificatis tibi mentibus servire mereamur: Qui tecum vivit."
"Rüttle auf, o Herr, unsre Herzen, auf dass wir Deinem Eingeborenen die Wege bereiten und Dir zu dienen vermögen mit einem Herzen, geläutert durch die Ankunft Dessen, der mit dir lebt." (Übersetzung: Schott-Messbuch 1956)
Der kurze Imperativ excita enthält ein ganzes Programm des Advents. In ihm verdichtet sich die alte Kunst der römischen Liturgie, Wesentliches in einen einzigen Ruf zu fassen: "Rüttle auf!" Gemeint ist keine moralische Ermahnung, sich endlich zusammenzureißen, sondern die Bitte, dass Gott selbst unser Inneres in Bewegung bringt. Die Oration des zweiten Adventssonntags beschreibt nicht unseren Aufbruch, sondern vertraut darauf, dass Gott die Herzen so aufrüttelt, dass nichts dem Kommen seines Sohnes im Wege steht.
Die Liturgie als Schule des Herzens
Alex Stock hat darauf hingewiesen, dass diese Bitte keinen Aktivismus verlangt. Die Kollekte nimmt den Ruf des Täufers aus dem Tagesevangelium auf, "Bereitet den Weg des Herrn!" (Mt 3,3), ohne ihn in ein Programm frommer Selbstoptimierung zu übersetzen. Die Betenden bitten schlicht darum, dass Gott mit seiner schöpferischen Kraft das Herz erneuert. Der Advent zeigt sich hier als eine Zeit, in der die Seele aus Verwirrung und Schwermut herausgeführt werden soll. Ziel ist jene Reinheit des Herzens, der die Verheißung gilt, Gott schauen zu dürfen.
Auffällig ist, wie stark die Oration zunächst auf der Seite des Betenden bleibt. Sie nimmt ernst, dass der Mensch im Advent nur dann bestehen kann, wenn er sich seiner Unruhe stellt und sich reinigen lässt. Advent erscheint damit als eine "heilige Unruhe", die sich von der nervösen Getriebenheit unserer Tage unterscheidet. Nicht die nächste Aufgabe, nicht das nächste Projekt steht im Vordergrund, sondern die Frage, ob das Herz durchlässig wird für den, der kommt. Die Liturgie lässt diese innere Bewegung zu und spricht sie aus, statt sie zu übertönen.
Doch der Text bleibt nicht im Inneren stehen. Das aufgerüttelte Herz bereitet "die Wege des Eingeborenen" und mündet in den Satz: "tibi servire mereamur, purificatis mentibus". Die Frucht des Advent wird nicht als Gefühl beschrieben, sondern als Befähigung zum Gottesdienst. Wegbereitung heißt hier: so gereinigt zu werden, dass wir Gott in rechter Weise dienen können. Das scheinbar verdienstorientierte mereamur verweist gerade nicht auf Leistung, sondern darauf, dass dieser Dienst nur möglich ist, weil Gott selbst das Herz geläutert hat.
In dieser Oration zeigt sich exemplarisch die Dynamik römischer Liturgie. Sie hilft dem Menschen zuerst, zu sich selbst zu finden, indem sie seine Unruhe und Zersplitterung vor Gott bringt. Gerade darin aber öffnet sie ihn auf Gott hin. Das aufgerüttelte, gereinigte Herz bleibt nicht bei sich selbst stehen, sondern wird fähig, dem kommenden Herrn zu dienen. Advent ist so nicht bloß eine Stimmungsvorgabe, sondern eine liturgische Schule des Herzens, in der der Einzug des Sohnes vorbereitet wird. Nicht durch noch mehr Aktivität, sondern dadurch, dass Gott selbst Raum gewinnt.
Gott handelt
An diesem Punkt setzt der vierte Adventssonntag an und dreht den Blick. Die Kollekte greift den excita-Ruf erneut auf und richtet ihn nicht mehr auf das Herz des Menschen, sondern auf die Macht Gottes selbst.
"Excita, quaesumus, Domine, potentiam tuam, et veni: et magna nobis virtute succurre, ut per auxilium gratiae tuae quod nostra peccata praepediunt, indulgentia tuae propitiationis acceleret: Qui vivis."
"Biete Deine Macht auf, o Herr, und komm, wir bitten Dich; eile uns zu Hilfe mit starker Macht, damit Dein verzeihendes Erbarmen durch den Beistand Deiner Gnade das Heil beschleunige, was unsre Sünden noch aufhalten: der Du lebst." (Übersetzung: Schott-Messbuch 1956)
Nachdem in der Oration des zweiten Adventssonntags das excita das Herz des Betenden meint – "excita, Domine, corda nostra" –, richtet sich am vierten Adventssonntag der Ruf direkt an Gott selbst: "Excita… potentiam tuam, et veni". Die Vokabel bleibt dieselbe, doch die Blickrichtung ändert sich fundamental. Zunächst bitten die Gläubigen noch darum, innerlich aufgerüttelt zu werden; jetzt rufen sie Gott zu, er möge endlich seine Macht aufbieten. Advent wird hier konsequent von Gottes Handeln her verstanden. Nicht mehr das Bereitsein der Gläubigen steht im Vordergrund, sondern das Erwachen göttlichen Handelns.
Diese Verschiebung hat einen biblischen Hintergrund. Der Eingang der Oration zitiert wörtlich Psalm 79 in der Fassung der Vulgata: "Excita potentiam tuam et veni". Dieser Psalm gehört zu den großen Klagepsalmen Israels. Im Hintergrund stehen die assyrische Vernichtung des Nordreichs und die babylonische Zerstörung Jerusalems: Israel erlebt seinen von Gott gepflanzten "Weinstock" verwüstet, Jerusalem und den Tempel zerstört und fragt, ob Gott sein Volk endgültig preisgegeben hat. Vor diesem Hintergrund ist der Ruf "Excita potentiam tuam et veni" der Schrei eines Volkes, das Gott bittet, sich seiner Geschichte neu zuzuwenden.
Die Oration holt diesen Ton in die Adventsliturgie hinein und lässt die Betenden aus der Erfahrung einer bedrängten Welt heraus zu Gott rufen. In einer Zeit, die von Kriegen, Krisen und Unsicherheit geprägt ist, kann man dieses Rufen kaum überhören. Die Betenden lassen sich nicht trösten mit ein wenig Lichterglanz, sondern rufen Gott in die Verantwortung. Advent heißt hier: Gott beim Wort nehmen, dass er sich der Not seiner Welt nicht entzieht.
Sünden: Das, was lähmt und aufhält
Gleichzeitig benennt die Oration erneut, was dem Kommen Gottes im Weg steht: "quod nostra peccata praepediunt". Die Sünde wird nicht in moralischen Einzelheiten ausgemalt, sondern schlicht als das benannt, was lähmt und aufhält. Das lateinische Verb praepedire beschreibt ursprünglich etwas, das sich vor die Füße legt und den Schritt hemmt. In diesem Licht erscheint der Adventus Domini, die Ankunft des Herrn, wie ein Schritt, der ansetzt und ins Stocken gerät. Die Oration nimmt ernst, dass der Mensch solche Hindernisse nicht aus eigener Kraft beseitigt. Zur Erfahrung der Sünde gehört beides: Sie zeigt sich als persönliche Verfehlung und als gemeinsame Verstrickung. Sie belastet das eigene Leben und prägt zugleich die Geschichte, in die wir hineingestellt sind.
Die Hilfe der Gnade
Darum setzt der Text auf eine andere Logik. Er bittet um die Hilfe seiner Gnade (auxilium gratiae) und um das verzeihende Entgegenkommen seines Erbarmens (indulgentia tuae propitiationis). Entscheidend ist nicht die individuelle Anstrengung, sondern dieses Entgegenkommen Gottes. Seine Gnade bringt wieder in Bewegung, was festgefahren ist; sein Erbarmen wendet sich zu und trägt nicht nach; seine Vergebung nimmt der Vergangenheit nicht ihr Gewicht, öffnet aber einen neuen Weg. Advent heißt hier: Gott zuzutrauen, dass er selbst an die Schuldzusammenhänge herangeht, in denen wir uns verfangen haben.
Damit wird deutlich, wie sehr die Oration des vierten Adventsonntags den Horizont der zweiten überschreitet und zugleich vollendet. Zunächst steht das Herz im Blick, seine Unruhe, seine Trübung, seine Reinigung. Advent erscheint als "heilige Unruhe", in der die Seele aus Dunkelheit herausgeführt wird, damit sie Gott schauen kann. Dann dreht sich der Blick: derselbe excita-Ruf richtet sich nicht mehr auf das Innere des Menschen, sondern auf das Eingreifen Gottes in eine blockierte Geschichte.
Beide Orationen folgen dennoch derselben Grundbewegung römischer Liturgie. Zuerst wird der Mensch ernst genommen, mit seiner Unruhe und seiner Schuld. Dann wird diese Wirklichkeit aus der Hand gegeben und Gott überantwortet. Die zweite Adventsoration zeichnet die erste Hälfte dieser Bewegung: das Aufrütteln des Herzens, die Bereitschaft, sich reinigen zu lassen. Die vierte setzt an der Grenze dieser Bewegung an: dort, wo menschliche Anstrengung nicht mehr weiterführt und der Ruf laut wird, Gott möge selbst aufstehen, seine Macht aufbieten und das Heil beschleunigen, das wir uns nicht selbst verschaffen können.
Die ambivalente Erfahrung des Advents
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet diese excita-Gebete im Messbuch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von den Adventssonntagen auf Werktage verschoben wurden. Man wollte Wiederholungen vermeiden und den Advent weniger von der Drohung der Sünde als von der Hoffnung auf Christus her profilieren. Heute, da die Verletzlichkeit der Welt kaum noch zu übersehen ist, wirken diese Gebete fast prophetisch. Sie geben Worte für die ambivalente Erfahrung des Advents: für das heimliche Bedürfnis nach Heimkehr und Geborgenheit, aber ebenso für das Erschrecken vor einer Geschichte, die aus den Fugen geraten ist.
Das doppelte excita bewahrt beide Seiten. Am zweiten Adventssonntag bitten die Betenden darum, dass ihr eigenes Herz aufgerüttelt wird, damit es dem Kommen Christi nicht passiv gegenübersteht. Am vierten Adventssonntag rufen sie Gott selbst an: er möge aufstehen, seine Macht aufbieten, sein Schweigen brechen und lösen, was feststeckt. Advent ist so weder bloße Innerlichkeit noch eschatologische Weltflucht. Er ist die Zeit, in der die Kirche lernt, beides zusammenzuhalten: das Aufrütteln des eigenen Herzens und das Aufrütteln Gottes. Wer diese Orationen betet, verlässt die romantische Komfortzone. Er stellt sich der Not der Welt und legt zugleich sein Herz in Gottes Hand. Der Ruf bleibt derselbe: Excita, Domine… Rüttle uns auf, und rüttle dich selbst auf, damit das, was unsere Sünden und unsere Geschichte aufhalten, durch dein Erbarmen beschleunigt wird.