Johannes der Täufer war bis vor Kurzem beinahe täglich im Supermarkt Pam an der Chiesa Nuova anzutreffen. Er kann nirgendwo lange inkognito bleiben, man erkennt ihn sofort, nicht nur am Zottellook und dem Hirtenstock. Leider war er in keiner guten Verfassung. Die spärliche Langhaarfrisur war ungut verklebt und das zerfetzte Gewand entblößte den abgemagerten Körper mehr, als dass er ihn verdeckte. Seine Haut war dreckverkrustet. Es wirkte, als wäre er von dunklen Algen bewachsen. Im vergangenen Herbst musste er barfuß – er war es noch immer – die Alpen überquert haben, denn ich kannte ihn noch aus Berlin. Dort wohnte er eine Weile am Ende eines U-Bahn-Schachts am Hermannplatz. Wenn ich ihn nun im historischen Stadtzentrum beim Einkaufen traf, fröstelte ich. Rom kann sehr kalt sein, auch im Frühling.
Am kältesten ist es morgens zwischen vier und fünf. Im Hochsommer sollte man um diese Zeit die Fenster öffnen, um noch einmal kurz durchzuatmen, bevor man von der südlichen Sonne wieder unbarmherzig gegrillt wird. Das Frühjahr in Italien war bisher aber ähnlich kühl wie in Deutschland, nur deutlich verregneter. Unsere Fenster blieben nachts meistens geschlossen, und das Federbett war noch lange im Einsatz.
Landstreicher, nicht Wohnungslose
Es gibt ein römisches Grau, das einen beinahe noch trübsinniger stimmt als das deutsche, weil es die rosarote Erwartung an den Süden in besonderer Weise enttäuscht. Neulich weckte mich mein Hund im Morgengrauen. Er müsste dringend hinunter auf die Straße, bedeutete er mir mit flehentlichem Blick Richtung Wohnungstür. Auch der Nieselregen hielt ihn nicht davon ab, mich zu dem einzigen Baum in unserer Gegend zu ziehen. Bei Tagesanbruch ist es nicht nur die Temperatur, die einem auf den Straßen Roms eine Gänsehaut bereitet, sondern auch der Anblick touristischer Verwüstung und menschlichen Elends.
Obdachlose soll man inzwischen Wohnungslose nennen, doch beide Bezeichnungen treffen auf die Barbone im historischen Stadtzentrum von Rom nicht zu. Sie sind in klassischer Weise Landstreicher. Fast ausschließlich männlich, fast immer betrunken, leicht verdreckt und tagsüber friedlich. Nie betteln sie aggressiv, verlassen sich eher entspannt auf Almosen.
Ganz besonders die schmale Via del Governo Vecchio wirkte um fünf Uhr wie die Filmkulisse zu "Bladerunner". Unheimlich farblos, still und andererseits in allen Ecken bewohnt. In der Ferne konnte man jedoch schon die kleinen LKW der Müllabfuhr hören, die anrückten, um die von Möwen aufgefetzten Müllbeutel, die Pizzahälften, Kotelettknochen und Fäkalien zu beseitigen. Diejenigen, die zusammengerollt in ihren Schlafsäcken in den Nischen der Kirchen, unter Baugerüsten und Supermarkteingängen schliefen, würden in Kürze mit rotierenden Bürsten verjagt werden, wie die Tauben, Mäuse und Ratten. Die obdachlosen Menschen versammelten sich dann wieder auf den Stufen der Kirche des heiligen Filippo Neri, wo sie die Nacht unter grölenden Gesängen oder lärmendem Streit beendet hatten. Und so wie der letzte Tag ausgeklungen war, würden sie auch den neuen wieder beginnen, mit ein paar Tetrapack Rotwein, sobald der Supermarkt um acht Uhr wieder seine Pforte öffnete. Die Kirche, auf deren Vorplatz sie vornehmlich lagern, kann ihnen kein Dach bieten, wohl aber einen imaginären Schutz, denn es wird kein Zufall sein, dass sich die Herumstreunenden stets um die Gotteshäuser versammeln.
Mehr Menschlichkeit täte Not
Obdachlose soll man inzwischen Wohnungslose nennen, doch beide Bezeichnungen treffen auf die Barbone im historischen Stadtzentrum von Rom nicht zu. Im Gegensatz zu den unzähligen Gestrandeten, die in dem labyrinthartigen Tunnelsystem am Bahnhof Termini vegetieren, stammen sie nicht aus dem Globalen Süden und sind auch nicht Opfer harter Drogen. Sie sind in klassischer Weise Landstreicher. Fast ausschließlich männlich, fast immer betrunken, leicht verdreckt und tagsüber friedlich. Nie betteln sie aggressiv, verlassen sich eher entspannt auf Almosen. Nachts jedoch können sie im Vollsuff erschreckend grausam werden, sich mit Schnapsflaschen blutig zurichten und auf ihre Hunde einschlagen. Die vorherrschende Sprache auf der Piazza della Chiesa Nuova ist im Übrigen, wie auch am Bahnhof Zoo: polnisch.
Beim Anblick der nächtlichen Kämpfe fühle ich mich manchmal ins finstre Mittelalter versetzt, die zerschlagenen Visagen verfolgen mich bis in die Träume. Dann liege ich wach und grüble. Kann man diesen Menschen nicht helfen? Also richtig, nicht nur mit einer Tasse dünnem Kaffee an der Chiesa Santi Silvestro e Martino oder den drei öffentlichen Duschen am Petersplatz, die sich die Straßenmenschen mit einer Mehrzahl an Pilgern teilen müssen. Nachdem ich an Santa Maria Maggiore eine Ordensfrau mit stoischer Miene über einen auf der Straße Liegenden hinweg steigen sah, die nach ihr ausgestreckte Bettlerhand nicht beachtend, äußerte ich dem Redaktionsleiter dieser Plattform meinen Unmut über die mangelnde Nächstenliebe der katholischen Kirche. Der protestierte: Die Caritas und zahlreiche katholische Wohlfahrtsorganisationen würden einen Großteil der humanen Hilfe leisten. Das bezweifle ich nicht. Manchmal würde ich mir nur noch etwas mehr Menschlichkeit wünschen. "Buon coraggio", hörte ich neulich einen römischen Signore im eleganten blauen Zwirn zu einem Bettler sagen, den er, ganz Realist, nicht nur mit guten Wünschen, sondern auch mit einer Flasche Wein, einem belegten Brötchen und einem Päckchen Tabak versorgte.
"Achtung, hier nie Gulasch"
Beschäftigt man sich mit dem Sozialphänomen der Wohnungslosigkeit, stößt man auf jede Menge Ressentiments. Und wie es mit Vorurteilen ist, entsprechen viele der Wahrheit. Sogar Robert Habeck, ein Politiker, der gemeinhin als sympathisch wahrgenommen wird, hat vor einiger Zeit das hässliche Wort "Pull-Effekt" ausgesprochen. Je reichhaltiger das Hilfspaket gefüllt wird, desto zahlreicher werden sich die Armen aufmachen, um im gelobten Land der Sozialleistungen von eben dieser Versorgung zu profitieren.
Während einer Recherche, die ich einmal in der Berliner Bahnhofsmission machte, erfuhr ich von einer App, die den Speiseplan gemeinnütziger Tafeln teilte und bewertete: "Achtung, hier nie Gulasch. Schmeckt gar nicht."
Damals hatte ich versucht herauszufinden, was das Andersartige an den Lebensläufen der Menschen ist, die auf der Straße landen und die nicht selten keinerlei Interesse mehr an einer eigenen Wohnung haben und damit an einer Rückkehr in ein Leben mit bürgerlichen Verpflichtungen. Letztlich scheiterten meine Bemühungen, mich mit ihnen zu verständigen, aus vielen Gründen, aber vor allem daran, dass man sich mit ihnen nicht verabreden konnte. Wohnungslose bleiben immer nur für eine bestimmte Zeit an einem Ort. Selbst wenn sie sich mit ihren Besitztümern, die mit Wochen und Monaten an Umfang gewinnen, auf der Straße häuslich eingerichtet haben, sind sie doch eines Tages urplötzlich verschwunden. Spurlos, im wahrsten Sinne.
Auf gepacktem Koffer
Johannes den Täufer traf ich unlängst im Übrigen an der Piazza Barberini wieder. Er war gerade dabei, in seinem Jutebeutel nach seinem Smartphone zu suchen. Wen er wohl anrufen wollte?
Ich habe in Rom einen alten Bekannten, der diesbezüglich eine Ausnahme macht. Wir kennen uns nicht gut, aber immerhin grüßen wir uns, seit über zehn Jahren. Der kleine bärtige Mann sitzt am Esquilino, vor einer eher unbedeutenden Kirche auf seinem Rollkoffer. Er kann, das habe ich gesehen, wie der heilige Franziskus mit den Vögeln reden. Ich glaube, er ist ein guter Mensch. Es ist schon ein paar Jahre her, da waren wir einmal Nachbarn. Wenn meine Kinder und ich, wir, die chronisch Zuspätkommenden früh morgens vor unserem Palazzo auftauchten, rief er uns zu, ob wir den Schulbus bereits verpasst hätten, oder es sich noch lohnen würde zu warten. Noch heute ist der freundliche Mann von Montag bis Freitag von Sonnenaufgang bis zum Mittagsläuten zuverlässig an eben dieser Stelle anzutreffen. Für jeden Cent, den man ihm gibt, bedankt er sich mit einer segnenden Geste. Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, sagt er: Sempre come vuole dio. Immer so, wie Gott es will.