Gerne bin ich seit meiner Studienzeit bei Reisen nach Rom alleine oder mit Gruppen zur Gemeinschaft Sant'Egidio gegangen. Durch meine Tätigkeit am Pontificio Ateneo Sant'Anselmo konnte ich in den letzten fünf Jahren auch von meiner Tätigkeit her Sant'Egidio besser kennenlernen, schickt die Gemeinschaft doch gerne ihre Seminaristen an die Benediktinerhochschule auf dem römischen Aventin. Aufgrund der Verortung in der Ortskirche zeichnet diese internationalen Studenten eine gute Kenntnis der italienischen Sprache aus sowie eine starke Verbindung von pastoraler Praxis und theologischem Eros.
Freunde der Armen
Im für Römer wie Touristen beliebten Viertel Trastevere hat die internationale Gemeinschaft Sant'Egidio ihren Hauptsitz und betreibt mehrere Häuser für arme Menschen. Auch erfolgreiche Friedensverhandlungen für Mosambik wurden im früheren Frauenkonvent hinter der kleinen Kirche Sant'Egidio geführt. Dort nahm die Gemeinschaft 1968 ihren Anfang. Studenten wollten radikal christlich leben. Sie lasen fleißig in der Bibel, beteten gemeinsam und nahmen sich um arme Migranten aus Süditalien an, die in der Hauptstadt auf ein besseres Leben hofften.
Vor dem Kirchlein Sant'Egidio liegt auf einer Bank eine Skulptur, die Darstellung eines Obdachlosen. Sie fällt auf, denn in Rom begegnet man sonst nur Skulpturen von Göttern, Heroen oder Heiligen. Der verhüllte Obdachlose auf der Bank macht auf ein sehr präsentes Thema von Rom aufmerksam: Personen am Rande der Gesellschaft. Und wer genau hinsieht, entdeckt an seinen Händen und Füßen die Wundmale Jesu.
Wer zur weltweiten Gemeinschaft Sant'Egidio gehört, muss einen Armen zum Freund haben. Ja, zum Freund! Ich habe von Sant'Egidio gelernt, dass der Gefangene, die einsame alte Frau oder der Obdachlose nicht bloß Objekt meiner Fürsorge sein sollen, sondern zur Kirche gehören wie ich, Subjekt des heiligen Volkes Gottes, auf gleicher Ebene mit Papst, Politikern und Ärztinnen. Die Laien-Gemeinschaft macht das deutlich, wenn sie jedes Jahr zum Christtag die Kirchenbänke von Santa Maria in Trastevere ausräumt und dort ein Festmahl für die Armen der Stadt serviert.
Lebendige Liturgie
Nach Sant'Anselmo, wo die internationale Benediktiner-Gemeinschaft täglich um 19:15 eine Vesper im schönen Gregorianischen Choral singt, ist mir Santa Maria in Trastevere zur zweiten Heimat geworden. Täglich treffen sich dort – wie in über 50 anderen Gotteshäusern Roms – Mitglieder von Sant'Egidio um 20:00 zum Abendgebet. Ans Herz gewachsen ist mir die Eucharistiefeier am Samstag um 20:00. Man kann einwenden, dass es nicht ideal ist, wenn dort fast immer die gleichen Lieder mit einem Hauch der 1970er Jahre gesungen werden, aber es passt einfach zu Sant'Egidio. Leben und Liturgie bilden hier eine Einheit. Und so sehen erfahrungsgemäß selbst aufgeklärte Studierende der Theologie aus dem deutschen Sprachraum nach, dass ganz selbstverständlich die hohe Kanzel für die Verkündigung des Evangeliums verwendet wird.
Liturgisch nicht vorgesehen, aber im Kontext von Sant'Egidio ebenso stimmig ist, wenn während des Gloria vom hinteren Teil der Kirche feierlich der Diakon begleitet von Kerzenträgern die Heilige Schrift zum Ambo trägt. Am von Papst Franziskus eingeführten "Tag des Wortes Gottes" habe ich erlebt, wie am Ende der Zelebrant die Gläubigen aufgefordert hat, ihre Bibel hervorzuholen. Ein eindrucksvolles Bild bot sich mir dar: Fast alle hielten ihre Bibel hoch, während der Priester sie segnete. Bemerkenswert auch, wie die Diakonie in der Liturgie von Sant'Egidio allgegenwärtig ist. Die ständige Bezugnahme auf die poveri, die Armen, mag durchaus inflationär wirken, aber sie ist jedenfalls Ausdruck tiefen religiösen Erlebens und erstaunlichen Engagements.
Martyrium der Gegenwart
Sant'Egidio hat in den letzten Jahrzehnten einen weiteren Ort geprägt, der einen Besuch wert ist: San Bartolomeo auf der Tiberinsel. Dort werden auf den Seitenaltären nach Weltregionen geordnet Gegenstände gezeigt, die auf Märtyrer unserer Zeit verweisen. Da findet sich das Messbuch, das Erzbischof Romero verwendet hatte, als er bei der Eucharistiefeier erschossen wurde, oder ein Brief von Franz Jägerstätter. Im neuen Museum neben der Kirche finden sich weitere Gegenstände, die wie Reliquien verehrt werden und packend die Geschichte verfolgter Christen von heute erzählen. Wer diese Sammlungen sieht, bekommt eine Ahnung, wie radikal die Gemeinschaft Sant'Egidio das christliche Zeugnis in der Welt von heute sieht: von der Wurzel her. Und man bedauert, dass diese Gemeinschaft mit 70.000 Mitgliedern in 70 Ländern noch nicht überall im deutschen Sprachraum angekommen ist.