Was weiß man über das Böse und die Hoffnung?László Krasznahorkais Nobelpreisrede

Wie Imre Kertész im Jahr 2002 spricht László Krasznahorkai von der Wiedergutmachung, diesmal jedoch von deren Unmöglichkeit. Gibt es wirklich keine Hoffnung?

Lázló Krasznahorkai 2016 in Köln
Lázló Krasznahorkai 2016 in Köln© Hpschaefer www.reserv-art.de/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Als Christ könnte man mit Erleichterung – oder sogar mit Stolz – reagieren, dass der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai am Sonntag in seiner Nobelpreisrede über den "himmlischen Schneider" sprach, über den zu Gebärenden, über Treppen, auf denen man hinauf- und hinabsteigt, über die Auserwählten und über den Allerhöchsten, und dass er auch das Alte Testament und den Herrn der Himmel erwähnte.

Doch schnell wird deutlich, dass es sich nicht um einen religiösen Diskurs handelt, denn Krasznahorkai lässt keinen Zweifel daran, dass die "Seele" der gegenwärtigen Menschen nicht mehr imstande ist zu glauben und es nicht mehr "so scheint", dass es überhaupt noch jemanden "da oben" gibt. Aber die Rede, deren Bogen sich von Hoffnungslosigkeit über Engel und Menschen bis hin zur Rebellion spannt, zeigt, dass der Autor sich mit Fragen der Barmherzigkeit, Hoffnung und Menschlichkeit beschäftigt, die nicht unabhängig von diesem Hintergrund zu verstehen sind.

Bestimmte Elemente der Rede sind eindeutig, andere sind auf ganz besondere Weise mehrdeutig, und es gibt auch versteckte Anspielungen auf die edelsten jüdischen und christlichen Traditionen.

Die neuen Engel

Ganz eindeutig scheint die Wende von den Engeln zu den Menschen, die als Opfer erscheinen – während die Engel der biblischen Religion mit ihrer Botschaft identisch waren, sind die "neuen Engel", also die Opfer der Gegenwart, auf eine andere Weise schrecklich (um es mit Rilke zu sagen): Ihre Anwesenheit verursacht Erschütterung und Zusammenbruch, aber nicht, weil sie sich für uns opfern (wie einst der zu Gebärende, den ein Engel verkündete), sondern weil sie zu Opfern geworden sind, Opfern menschlicher Ungerechtigkeit und Grausamkeit, ausgesetzt den unterschiedlichsten Formen von Gewalt.

Diese neuen Engel scheinen keine Botschaft mehr zu haben. Aber glücklicherweise begnügt sich der Autor nicht mit der platten Feststellung, dass die Engel ohne Botschaft unter dem leeren Himmel nur noch Verkörperungen der Leere seien.

Ungerechtigkeit, Gewalt und unwürdige Behandlung stehen im Widerspruch zu dem, was der Mensch bei seiner Geburt für sich selbst erhofft – und man braucht nicht zu beweisen, dass diese Sicht auf den Menschen sich nicht in irgendeiner oberflächlichen Defizitrhetorik erschöpft.

Krasznahorkai spricht sehr schön darüber, dass die Opfer unserer Zeit deshalb so erschütternd sind, weil sich der Mensch bei seiner Geburt auf etwas anderes einstellt. Ungerechtigkeit, Gewalt und unwürdige Behandlung stehen im Widerspruch zu dem, was der Mensch bei seiner Geburt für sich selbst erhofft – und man braucht nicht zu beweisen, dass diese Sicht auf den Menschen sich nicht in irgendeiner oberflächlichen Defizitrhetorik erschöpft.

Ein Anflug von literarischem Humanismus

Der Autor scheut sich nicht einmal davor, solche altmodisch anmutenden humanistischen Fragen zu stellen wie: "Wer bist du, erstaunlicher Mensch?" Von William Faulkner wäre eine solche Frage nicht überraschend, aber seit seiner Nobelpreisverleihung sind fast siebzig Jahre vergangen.

Doch dann verabschiedet sich Krasznahorkai schnell von diesem traditionellen – und keineswegs unpathetischen – literarischen Humanismus und schließt seine Rede mit einer Geschichte, die Unsicherheit darüber hervorruft, was gut und was böse ist, ob wir Grund zur Hoffnung haben, wo Mitgefühl angebracht ist und ob wir heute feste Anhaltspunkte haben.

Gut und Böse

Wir befinden uns in einer Berliner U-Bahnstation: Ein Landstreicher verstößt gegen die öffentliche Ordnung und wird von einem Polizisten verfolgt. Doch aufgrund der Gestaltung der Station kann der Polizist, der auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig steht, ihn nicht unmittelbar erreichen, sodass der Mann Zeit zur Flucht gewinnt. Der Autor bezeichnet den Polizisten als Verkörperung des Guten und den Landstreicher als Verkörperung des Bösen. Doch seine Darstellung des letzteren ist so von Erbarmen geprägt, dass man die Zuschreibung kaum glauben kann und eher die Empörung einer kleinbürgerlichen Ordnungvorstellung dahinter vermutet.

Was also bedeutet die Behauptung des Autors, das Gute könne das Böse niemals einholen? Was bedeutet der festgehaltene Augenblick, in dem der Polizist den zu Tode erschrockenen Landstreicher verfolgt? Und was bedeutet schließlich die Aussage, er – Krasznahorkai – werde diesen Moment nun für immer vor sich sehen und wisse nicht, ob die vorbeirauschenden Bahnhöfe ihm noch Orientierung bieten?

Die Rede beginnt damit, dass der Schriftsteller über Hoffnung sprechen wollte, aber nun völlig hoffnungslos ist. Der literarische Humanismus à la William Faulkner spiegelt sich noch in den Beobachtungen wider, dass Wissen, Schönheit und das Gute leicht im Sumpf der Geschichte verschwinden. Aber dann verbirgt sich im Text ein Ausdruck, der uns doch von der hoffnungsvollen Perspektive des Allmächtigen und des "himmlischen Schneiders" der Engel entfernt. Man liest das Folgende: "Es reicht schon eine Gemeinheit, eine zynische Grausamkeit gegen eine Unschuld und Jungfräulichkeit, eine Tat, aber schon ein einziges böses Wort reicht aus, um ihn (den neuen Engel, das Opfer) für immer zu verletzen, und das kann ich mit zehntausend Worten nicht wiedergutmachen, denn es ist unwiedergutmachbar."

Hoffnung

Im Jahr 2002 sprach Imre Kertész ebenfalls anlässlich der Entgegennahme des Nobelpreises davon, dass "aus der nicht wieder gut zu machenden Wirklichkeit" auf dem Wege des Geistes Wiedergutmachung, Katharsis gezeugt werden kann. Es kann kein Zufall sein, dass 23 Jahre später ein anderer ungarischer Schriftsteller erneut von Wiedergutmachung spricht, diesmal jedoch von deren Unmöglichkeit.

Kann jemand, der um die Unschuld weiß, wirklich an Unwiedergutmachbarkeit glauben? Kann jemand, den das Leid der Unschuldigen schmerzt, an die endgültige Unheilbarkeit glauben?

Die Frage ist nur, wie wir die Worte eines Schriftstellers verstehen sollen, der es wagt, von Unschuld und Jungfräulichkeit zu sprechen. Kann jemand, der um die Unschuld weiß, wirklich an Unwiedergutmachbarkeit glauben? Kann jemand, den das Leid der Unschuldigen schmerzt, an die endgültige Unheilbarkeit glauben? Vielleicht liegt in dieser Spannung selbst ein Hoffnungszeichen.

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