Werner Bergengruen, 1892 in Riga geboren und ein Mitglied einer deutsch-baltischen Aristokratenfamilie, erlebte den Ersten Weltkrieg; die Revolutionen und der Verlust seiner Heimat prägten seinen Lebensweg und seine literarische wie geistliche Haltung. Nachdem er sich 1936 bewusst zum katholischen Glauben bekehrte und diesen Schritt gemeinsam mit seiner Frau ging, wandte er sich auch politisch explizit gegen den aufkommenden Nationalsozialismus.
Sein erstmals 1935 erschienenes Werk Der Großtyrann und das Gericht ist eine Allegorie auf die Geschehnisse seiner Zeit. Die Handlung spielt im fiktiven Stadtstaat Cassano in der italienischen Renaissance. Das Buch ist ein mutiger Entwurf, der von den Nationalsozialisten zunächst unbemerkt blieb und gefeiert, dann aber verboten wurde. Es geht um einen Mordfall an einem Karmeliten, der im Dienste des Tyrannen steht. Der Sicherheitschef Napoli muss diesen innerhalb von drei Tagen aufklären. Im Laufe der Ermittlungen begegnen dem Leser einige Charaktere, die in die Geschichte verwickelt sein könnten – nur um am Ende festzustellen, dass der Großtyrann selbst den Mord begangen hat. Bergengruens Fokus liegt weniger auf der Erzählung der politischen Ereignisse, sondern auf den existenziellen und moralischen Fragestellungen, die jede Form der Macht, der Versuchung und des Widerstands begleiten. Als Motto stellt er dem Werk eine Vater-Unser-Bitte voran: "Und führe uns nicht in Versuchung".
Macht und innere Leere
Im Zentrum von Der Großtyrann und das Gericht steht der titelgebende Tyrann, ein Herrscher, dessen Macht nicht nur die Ordnung in seinem Stadtstaat, sondern auch seine eigene Seele zerstört. Bergengruen lässt ihn über sich selbst sprechen: "Sein schlimmstes Herzleid aber war, Gott gleich sein zu wollen." Hier wird das Herzstück des Romans erkennbar: die Hybris des Machtmenschen, der sich über alle menschlichen und göttlichen Maßstäbe hinwegsetzen will. Die Tragik des Großtyrannen, der das Göttliche im Menschen für sich beansprucht, entblößt die moralische Leere, die hinter seiner äußeren Stärke verborgen liegt. Die Isolation, die mit Macht einhergeht, wird von Bergengruen prägnant zusammengefasst: "Macht aber will mit Einsamkeit bezahlt sein." Macht trennt den Tyrannen nicht nur von den anderen Menschen, sondern auch von sich selbst. Seine innere Leere führt zu einer verzweifelten Suche nach Bestätigung und Anerkennung – was den Großtyrannen in einen gefährlichen inneren Konflikt stürzt. Er wird zum Versucher aller anderen Protagonisten.
So etwa für die zweite Hauptfigur, den Sicherheitschef Massimo Nespoli. Als jemand, der zwischen moralischer Klarheit, Selbstzweifel und Sehnsucht schwankt, wird er als Opfer seiner eigenen inneren Zerrissenheit beschrieben:
"Eine Unwahrheit oder Lüge sei bei ihm aber nicht in der Schlechtigkeit des Gemüts begründet, sondern in der Versuchung eines Selbstbetrugs, der er erlegen sei."
Bergengruen entwirft hier ein Bild des Menschen, der nicht aus einer grundlegenden Boshaftigkeit heraus handelt, sondern aus vermeintlicher Notwendigkeit: "Es ist mir bekannt, dass der Mensch manchmal nicht bestehen kann ohne einen Selbstbetrug." In Nespoli zeigt sich die Fragilität des Menschen, der oft in der Versuchung steht, sich selbst zu betrügen, um das eigene Überleben oder auch nur das eigene Selbstbild zu sichern, das doch immer wieder zerbrochen wird.
Im Gegensatz zu Nespoli steht Sperone, der einfache Färber, "von dem die Leute sagten, dass er in der Nachahmung Christi stehe". Er bezichtigt sich aus Liebe zu einem anderen fälschlich der Tat, um einen friedlichen Ausweg aus der Gewaltspirale zu finden. Sperones stellvertretendes Opfer ist ein Akt christlicher Barmherzigkeit und Liebe, der eine starke Gegenposition zu den dunklen Aspekten der Macht bildet. Klar sieht er die Folgen des Mordes für die Gesellschaft:
"Vielleicht sind dies Anzeichen dafür, dass alles Böse, was gefesselt war, sich losgebunden hat. […] Da habe ich mir sagen müssen: ist es nicht besser, dass ein Mensch sterben müsse, als dass die ganze Stadt umkommen müsse? […] Es ist von Zeit zu Zeit notwendig, dass jemand um des Volkes willen aus freien Stücken ein Leiden auf sich nimmt."
Zerrissen zwischen Liebe, Angst und Schuld
Die Familie Confini bildet eine der komplexesten und zugleich aufschlussreichsten Erzählstränge des Romans. Die Witwe Vittoria und ihr Sohn Diomede verkörpern die Zerrissenheit zwischen Liebe, Angst, Schuld und dem Streben nach Gerechtigkeit. Vittoria, getrieben von einem tiefen Wunsch, ihren Geliebten Nespoli zu schützen, lenkt den Verdacht auf ihren verstorbenen Mann, um Nespoli zu entlasten. Die Entscheidung ist tragisch, da sie den verzweifelten Versuch Vittorias zeigt, die eigene Moralität in einer durch Korruption und Macht zerstörten Welt zu rechtfertigen – was ihr nicht gelingt. Am Ende bekennt sie Nespoli:
"Es ist meine Versuchung gewesen, um deinetwillen Böses zu begehen, und ich bin ihr erlegen. Es ist meine Versuchung gewesen, um meinetwillen dich preiszugeben, und ich bin ihr erlegen. […] Ich weiß, dass ich handeln werde, als sei meine Schuld erwiesen."
Diomede hingegen steht exemplarisch für die Verführbarkeit des Machtwillens. Zunächst bewundert er den Tyrannen, doch mit der Zeit merkt er, dass seine Bewunderung auf dem Versuch basiert, die Familienehre zu retten. Diomedes Entwicklung ist ein Spiegelbild des inneren Kampfes, dem jeder Mensch ausgesetzt ist, wenn er sich mit der Macht konfrontiert sieht. Er beginnt sich selbst zu verabscheuen für die "Dinge, die er getan hatte gegen sein Gewissen und gegen sein Wesen."
Geistlicher Widerstand
Inmitten dieser moralischen Verwirrung und der Machtspiele tritt Don Luca, der Priester, als Symbol für den geistlichen Widerstand gegen das Unrecht auf. Auch wenn er mit dem Tod bedroht wird, bleibt er standhaft und betont: "Sein Geheimnis wird er nicht brechen. Auch wenn es ihn das Leben kostet." Don Lucas Unerschütterlichkeit und Treue zu seinem Gewissen sowie das Festhalten am Beichtgeheimnis sind ein Bekenntnis, das in der Hoffnung des Widerstands gegen Tyrannei und Verfolgung liegt.
Das große Gericht
Am Ende des Romans steht das große Gericht, in dem der Großtyrann all die Versuchungen schildert, in welche er seine Untergebenen durch den von ihm begangenen Mord geführt hat. Er schließt: "Und dennoch graut mir vor allem, das ich euch habe tun sehen, euch und alle anderen Einwohner meiner Stadt." Die Versuchungen aller Beteiligten liegen offen, und auch, dass ein jeder der seinen erlegen war. Das Opfer Sperones – auch wenn aufgedeckt wurde, dass er die Tat nicht begangen hat – bringt den Tyrannen zu einer ihn erschütternden Erkenntnis:
"'Es ist also einer gewesen in Cassano, der aus Liebe hat sterben wollen auch für mich.' Er wollte noch sprechen, aber es versagte ihm die Stimme; dies hatte keiner an ihm erlebt, wie lange sie ihn auch kannten. […] Endlich ließ er die Hände sinken. 'Vergebt mir', sagte er in die Stille hinein, 'denn ich bin der Schuldige'.
Das Buch schließt mit seinen Worten: "Geht jetzt ruhig in eure Häuser. Es wird manches sein, das ihr noch untereinander werdet in seine Ordnung zu bringen haben. Dies mögt ihr in der Stille tun, jeder nach seinem Gewissen. Und auch ihr sollt euch ja gegenseitig vergeben. […] Und dann werden wir trachten, unser Leben weiterhin zu ertragen, ein jeder nach seiner Weise. Denn dies wird ja von uns gefordert."
Bergengruen erinnert im Großtyrann eindringlich daran, dass die wahre Hoffnung auf Erlösung im Akzeptieren der eigenen Versuchbarkeit und des eigenen Schuldigwerdens und der je größeren Hoffnung auf Vergebung liegt. Das Opfer des einen, der wie Christus aus reiner Liebe die Schuld der anderen auf sich genommen hat, löst die ganze Gemeinschaft von der Verstrickung und befähigt sie auch untereinander der Vergebung.
Der gesamte Roman steht unter dem Leitmotiv der Vaterunser-Bitte: "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen." Sie spiegelt die menschliche Existenz in ihrer ganzen Ambivalenz: zwischen der Gefahr der Versuchung und der Hoffnung auf Erlösung.
"Erlöse uns von dem Bösen"
In Cassano ist die Versuchung allgegenwärtig – sie tritt nicht nur in Form von äußerem Druck oder politischer Gewalt auf, sondern als tief sitzender innerer Konflikt. Fast jede Figur im Roman wird mit einer Form der Versuchung konfrontiert: der Tyrann mit dem Drang, gottgleich zu sein; Nespoli mit der Versuchung zur Selbsttäuschung; Vittoria mit dem Wunsch, durch eine Lüge Liebe zu retten; Diomede mit der Bewunderung der Macht; Sperone mit der Entscheidung, ein schuldloses Opfer zu bringen; Don Luca mit der Versuchung, unter Druck das Beichtgeheimnis zu brechen.
Doch gerade, weil die Versuchung in so vielfältiger Form erscheint, wird die zweite Hälfte der Bitte – "erlöse uns von dem Bösen" – umso bedeutungsvoller. Erlösung ist hier keine abstrakte Hoffnung, sondern ein konkreter geistlicher Vorgang, der sich in Vergebung, Opferbereitschaft, Glaubenstreue und der Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit vollzieht. Bergengruen versteht Erlösung nicht als äußeren Akt, sondern als innere Wandlung – als das Geschenk, inmitten der Schuld dennoch auf Gnade hoffen zu dürfen.
Die Figuren, die diesem Ruf zur Erlösung folgen – allen voran Sperone und Don Luca –, zeigen, dass moralische Größe dort beginnt, wo der Mensch seine Versuchung erkennt, sie nicht verleugnet, sondern sich mit ihr auseinandersetzt. Wer betet, "führe uns nicht in Versuchung", erkennt damit auch an, dass er ihr nicht aus eigener Kraft gewachsen ist – und dass wahre Erlösung nur durch etwas Größeres, durch göttliche Gnade, möglich ist. In Der Großtyrann und das Gericht wird diese Bitte literarisch lebendig – nicht als fromme Formel, sondern als existenzielle Wahrheit.