Beim Lesen der Tagebücher von Julien Green stieß ich auf eine Notiz vom 14. Juni 1972: "Zum dritten- oder viertenmal lese ich mit ganzer und tiefer Bewunderung The Turn of the Screw. Jede Seite ist erschreckend. Es heißt von diesem Buch, es hätte nicht geschrieben werden dürfen." Ich hatte diese Novelle von Henry James, 1898 erschienen, schon zweimal gelesen, doch die Bemerkung, sie hätte nicht geschrieben werden dürfen, animierte mich dazu, sie abermals zu lesen. Es geht darin um das Böse.
Die Geschichte (auf deutsch: "Das Durchdrehen der Schraube") spielt auf einem ländlichen Schloss irgendwo in England. Dort leben zwei Waisenkinder, der zehnjährige Miles und seine achtjährige Schwester Flora. Ihr Onkel, ein reicher Mann, der sich gerne seinen Interessen widmet, ist nicht imstande, sich um die Kinder zu kümmern, und engagiert dafür eine Gouvernante. Von ihr wird gesagt, sie sei jung und hübsch, sei die Tochter eines Landpfarrers und komme aus ärmlichen, aber gebildeten Verhältnissen. Sie freundet sich mit der Hausbesorgerin an, einer älteren, sympathischen Frau.
Sanftmut und Wohlerzogenheit entpuppen sich als Fassade
Die Gouvernante fühlt sich anfangs durchaus wohl. Vor allem ist sie von ihren Zöglingen begeistert, von ihrer Intelligenz, ihrer Schönheit, ihrer Unschuld, und sie wird nicht müde, den Liebreiz der Kinder zu bewundern. Den ersten Schatten auf dieses Idyll wirft ein Brief aus dem Internat, den die Erzieherin bei ihrer Ankunft vorfindet. Dort wird mitgeteilt, der Knabe Miles sei der Schule verwiesen, weil er einen verderblichen Einfluss auf seine Mitschüler ausübe. Die Hausbesorgerin, die ihn schon länger kennt, ist entsetzt und hält den Rausschmiss für einen schrecklichen Irrtum. Die Erzieherin wiederum hat dem Onkel versprochen, ihn unter keinen Umständen mit solchen Problemen zu behelligen. So hält sie also still und wartet ab.
Für den Leser bleibt die Sache insofern dunkel, als alles, was nun passiert, aus der Perspektive der Gouvernante geschildert wird. Zwei Geister der Vergangenheit begegnen ihr leibhaftig, zwei widerwärtige Wiedergänger: die Vorgängerin sowie der frühere Kammerdiener. Die beiden seien vor ungewisser Zeit gestorben, sagt man. Sie seien ein Liebespaar gewesen und hätten die Kinder auf üble Weise beeinflusst. In der Tat bemerkt die junge Frau allmählich, dass deren Sanftmut und Wohlerzogenheit bloße Fassade ist. Dahinter verbirgt sich etwas abgrundtief Böses.
Zuweilen liest man von unbegreiflichen Untaten halbwüchsiger Mädchen oder Jungen, oft Kinder noch, die sie an ihresgleichen begehen, und man fragt sich: Woher kommt das Böse? Worin besteht seine Verführungskraft?
Was ist es? Der Kunstgriff von James besteht darin, dass er das nicht sagt. Zwar gibt es Andeutungen, dass etwas Grauenhaftes im Hintergrund wirkt. Was das sein könnte, überlässt er der Fantasie des Lesers. Würde er es konkret benennen, dann würde das Böse erkennbar und verdaulich. Die Personifizierung des Bösen, etwa als Mephisto in Goethes "Faust" oder als gefallener Engel in Miltons Paradise Lost, hat auch etwas Entlastendes. Doch eigentlich, das jedenfalls scheint der Gedanke von Henry James, ist das Böse nichts als Lüge, nichts als schiere Gemeinheit. Es taucht auf wie aus dem Nichts, und wahrscheinlich ist es eben das: das Nichts.
Kennen wir das? Zuweilen liest man von unbegreiflichen Untaten halbwüchsiger Mädchen oder Jungen, oft Kinder noch, die sie an ihresgleichen begehen, und man fragt sich: Woher kommt das Böse? Worin besteht seine Verführungskraft? Das wahrhaft Beunruhigende an dieser Erzählung (deren Ende ich übergehe) ist dies: Dass sie an die Rede von den "unschuldigen Kindern" nicht glaubt. Dahinter steckt ja eine Art Rousseauismus: Der Mensch sei von Hause aus gut und werde nur durch die Zwänge der Zivilisation verdorben.
Erlöse uns von dem Bösen!
Nein, so ist es nicht, lehrt die Novelle. Flora und Miles können gar nicht so "rein", so unschuldig sein, wie die Erzieherhin, diese arglose und etwas überspannte Pfarrerstochter, es glauben möchte. Gerade weil die Kinder eine ungewöhnliche Intelligenz und einen bezaubernden Charme besitzen, sind sie dem Bösen zugänglich.
War das der Grund, weshalb Green andeutet, die Geschichte hätte nicht geschrieben werden dürfen? Er selbst hatte eine starke Neigung, das grundlos Böse zur Antriebskraft seines Erzählens zu machen. Man denke nur an seinen ersten Roman Mont-Cinère (1929). Oder war es die kalte Virtuosität, mit der James den Fall präsentiert?
Auch die dritte Lektüre dieser Novelle hat mich bewegt. Sie brachte mich auf den Gedanken, dass die letzte Bitte des Vaterunsers vielleicht die wichtigste ist: Erlöse uns von dem Bösen.
Die Rahmenhandlung schildert eine Runde, die sich, der damaligen Mode folgend, mit Gespenstergeschichten die Zeit vertreibt. Von einem solchen Kaminabend wird erzählt – sowie von einem Mann, der behauptet, eine besonders gruselige Geschichte zu kennen. Er besitzt den nachgelassenen Bericht der mittlerweile verstorbenen Gouvernante und liest ihn vor. Was wirklich der Fall war, ist ebenso unklar wie die Frage, was James darüber dachte. Klar ist nur, dass sich das Böse in den tückischsten Verkleidungen verbirgt.
Auch die dritte Lektüre dieser Novelle hat mich bewegt. Sie brachte mich auf den Gedanken, dass die letzte Bitte des Vaterunsers vielleicht die wichtigste ist: Erlöse uns von dem Bösen.