Zu den berühmtesten und zugleich vergessensten Werken der Weltliteratur zählt Der Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 bis 1803): ein zwanzig Gesänge und zwanzigtausend Verse umfassendes Lehrgedicht, das die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu behandelt, diese dabei aber nicht bloß nacherzählt, sondern anhand einer eigentümlichen Theologie neu und umfassend deutet.
Kindlers Literatur Lexikon vermerkt die "extrem geschachtelte Syntax, die Vorliebe für Partizipialkonstruktionen, Genetivmetaphern und eine ins Bombastische gesteigerte alttestamentarische Bildlichkeit." Eben daran bin ich bei meinem Leseversuch gescheitert und fühlte mich bestätigt, als ich bei dem allzeit frechen Georg Christoph Lichtenberg über den "Messias" las: "Mit größerer Majestät ist wohl noch nie ein Verstand stillgestanden."
"Da band ich Sie mit Rosenbändern"
Das aber war eine gottlose Minderheitsmeinung, denn als 1748 die ersten drei Gesänge erschienen, waren die gebildeten Leser außer sich vor Begeisterung. Zu ihnen zählte auch die Hamburgerin Margarete (Meta) Moller. Als Klopstock 1751 nach Hamburg kam, lernten die beiden einander kennen und lieben. 1754 heirateten sie (da war er 30 Jahre alt, sie 26) und lebten in Kopenhagen, wo Klopstock ein Stipendium des dänischen Königs erhielt. Es muss eine wahre Liebesehe gewesen sein. Umso heftiger wurde Klopstock vom Tod seiner Frau getroffen. Sie starb 1758 bei der Entbindung des tot geborenen Sohnes.
Der Grund, weshalb ich auf Klopstock komme, ist dieses 1752 entstandene Liebesgedicht:
Cidli
In Frühlingsschatten fand ich Sie,
Da band ich Sie mit Rosenbändern;
Sie wust' es nicht, u schlummerte.
Ich sah Sie an. Mein Leben hing
Mit diesem Blick an Ihrem Leben!
Ich fühlt' es wohl, u wust' es nicht.
Doch lispelt' ich ihr sprachlos zu,
Und rauschte mit den Rosenbändern,
Da wachte Sie vom Schlummer auf.
Sie sah mich an. Ihr Leben hing
Mit diesem Blick an meinem Leben!
Und um uns ward's Elysium!
Erkenntnis und Hingabe
Der Dichter findet die schlafende Geliebte "in Frühlingsschatten". Mit "Frühling" assoziieren wir erwachendes Leben, mit "Schatten" etwas Verborgenes, nicht weithin Sichtbares. Der Ort bleibt also unbestimmt. Und nun bindet der Dichter die Geliebte mit Rosenbändern. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Ein "Rosenband", so sagt uns das Grimmsche Wörterbuch, ist "ein rosenfarbenes oder mit rosen verziertes band (plur. rosenbänder), als strumpfband, haarband, hutband u.s.w. getragen".
Der geradezu psychoanalytisch intelligente Witz des Gedichts beginnt mit der dritten Zeile: "Sie wust' es nicht, und schlummerte." Das korrespondiert mit der sechsten Zeile: " Ich fühlt' es wohl, und wust' es nicht." Offensichtlich gewinnt hier das Ungewusste die Oberhand, was sicherlich bedeutet: das Unbewusste.
In den Liebenden besiegt das Gefühl die Ratio, und das übliche Mittel der Verständigung, die Sprache, versagt jetzt: "Doch lispelt' ich Ihr sprachlos zu." Worte werden nicht mehr benötigt. Es genügt die Bewegung der Lippen, es rauschen die Rosenbänder, bis beide berauscht im Elysium sich wiederfinden.
Und so, wie den beiden im Vollzug ihrer Liebe das Bewusstsein schwindet, so fallen die Blicke ineinander. Sie erkennen sich, und dieses Erkennen hat hier die alte Bedeutung erotischer Erfüllung.
Echo einer biblischen Wundertat
Die dialektische Bewegung des gewussten Nichtwissens, des wechselseitigen Sichverlierens im Auge des Gegenübers ist meisterhaft. Sie ist ein Vorgriff auf das Denken und Empfinden der Moderne. Dem entspricht die Form. In ihrer aphoristischen Lakonie, die dem Entrücktwerden Halt bietet, ist sie unübertrefflich. Beim mehrfachen Lesen wird klar, dass sich fast alle Zeilen wiederholen, ineinander spiegeln – mit Ausnahme der ersten, die als Ouvertüre dient, der siebten in der Mitte ("Doch lispelt' ich Ihr sprachlos zu") und der letzten, die den Gipfel der Liebesbegegnung erklimmt.
Klopstock gab seiner Meta das Pseudonym Cidli. So heißt eine Figur seines "Messias", jene im Neuen Testament namenlose Tochter eines Synagogenvorstehers, die im Sterben liegt. Markus (5,41) erzählt, Jesus habe, als die Nachricht kam, gesagt, das Mädchen schlafe nur. Er sei deshalb verspottet worden. "Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! Sofort stand das Mädchen auf und ging umher." Ein Echo der Wundertat finden wir hier: Der Liebende erweckt die Geliebte zum Leben.
"Eine Zeit, da ich sehr glücklich durch die Liebe war"
Als Klopstock sein Drama "Hermanns Schlacht" dem Kaiser Joseph II. widmete, erhielt er auf Vermittlung seines Gönners, des Reichsgrafen Welsperg, eine kaiserliche "Gnadenmedaille". Dafür bedankt sich Klopstock in einem Brief an den Grafen, datiert vom 28. Dezember 1768, und fügt die eigenhändige Abschrift von "Cidli" bei (ihr entspricht die hier abgedruckte Fassung). In seinem Brief heißt es: "Die Ode ist von einer Zeit, da ich sehr glücklich durch die Liebe war."
Lichtenberg hat die Ode wohl nicht gekannt. Andernfalls hätte er Klopstock den "Messias" sicherlich verziehen.