Ungarn steht auf einmal im Mittelpunkt der literarischen Neugier: einerseits, weil László Krasznahorkai den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, andererseits, weil der Roman "Lázár" des 22 Jahre jungen Nelio Biedermann Auflagenrekorde erzielt. Er erzählt darin die Geschichte der ungarischen Adelsfamilie, aus der er stammt.
Der Ungar Péter Nádas, der, was den Rang seines Werks betrifft, gleichfalls den Nobelpreis verdient hätte, war ebenso jung wie Biedermann, als er seine erste Erzählung veröffentlichte: "Die Bibel", erschienen 1965. Schon der Titel musste die kommunistische Zensur hellhörig machen. Folglich erhielt er ein sieben Jahre währendes Publikationsverbot.
Gyurka – so heißt die Hauptfigur – ist ein Junge mitten in der Pubertät. Die Eltern sind Funktionäre des kommunistischen Regimes, haben Anspruch auf Dienstwagen mit Chauffeur und wohnen in einer der herrschaftlichen Villen in Budapest, deren Besitzer enteignet wurden.
Der Junge, hauptsächlich von der Großmutter versorgt, hängt an seiner Mutter, doch die hat für ihn nicht viel mehr als einen Gute-Nacht-Kuss übrig, wenn sie spät aus dem Ministerium heimkehrt. Auch der Vater hat wenig Zeit für ihn: "Im Vorübergehen strich er mir mit der Hand über den Kopf und fragte jeden Abend dasselbe: Was gibt's, alter Junge? Wie war's in der Schule?"
Der Junge langweilt sich. Er versucht, Freundschaft mit dem Nachbarmädchen zu schließen, aber die ist ein Stück größer, älter und entsprechend arrogant. Stattdessen spielt er mit der Hündin und provoziert sie so lange, bis sie zubeißt. Außer sich vor Schmerz und Wut schlägt der Junge mit der Hacke auf sie ein, bis sie am Ende den Verletzungen erliegt. "Sie ist tot, sagte ich und begann zu weinen."
Um die schon etwas gebrechliche Großmutter zu entlasten, stellen die Eltern ein Dienstmädchen ein. Szidike kommt vom Land und trägt ein kleines Kreuz am Hals. "Glaubst du an Gott?", fragt der Junge. Aus Furcht vor politischen Konsequenzen leugnet sie zunächst. Aber der Junge sagt, er glaube an Lenin und den Kommunismus, da könne sie doch zugeben, dass sie an Gott glaube.
Sie gibt es zu, und jetzt treibt der Junge ein übles Spiel mit ihr. Er holt die prächtige Bibel der Mutter aus dem Regal, reißt Seiten heraus und wirft sie dem Mädchen vor die Füße. Sie ist entsetzt, bricht in Tränen aus und rettet das Buch in ihr Zimmer. Darüber vergisst sie das Bügeleisen auf dem Nachthemd der Großmutter. Die wiederum, ohnehin eifersüchtig wegen ihrer Entmachtung, beschuldigt Szidike nicht allein, das Hemd absichtlich verbrannt zu haben, sondern auch des Diebstahls. Das Mädchen packt seine Habseligkeiten und verwindet in ihr Heimatdorf.
Die reumütige Mutter lässt sich dorthin fahren und findet Szidike in einer ärmlichen Hütte beim Kartoffelschälen. Auf der Kommode liegt die Bibel. Die Mutter erkennt sie und fragt danach. Da ergreift der Junge zum ersten Mal die Partei des Mädchens und sagt, er habe ihr die Bibel geschenkt. Die Mutter: "Weißt du, was für ein Andenken das für mich ist?" Der Junge: "Ich weiß … aber ich dachte, wir brauchen sie nicht mehr."
Die mit kühler Sachlichkeit vorgetragene Erzählung ist spannend bis zur letzten Seite.
Die Mutter hatte die Bibel 1944 gekauft, als sie im Untergrund gegen die Nazis kämpfte. Sie hatte die vom Vater heimlich gedruckten Flugblätter in einen Korb gesteckt und die Bibel als Tarnung darüber gelegt. Das war nun erledigt, die Kommunisten hatten einstweilen gesiegt und niemand in der Familie braucht mehr eine Bibel. Anders Szidike. Sie ist gläubige Christin und rettet die Heilige Schrift vor dem Vandalismus des Jungen.
Die mit kühler Sachlichkeit vorgetragene Erzählung ist spannend bis zur letzten Seite. Sie entlarvt die Verlogenheit der Nomenklatura. Im Namen des Gleichheitsgebots wird das Mädchen getadelt, wenn sie die Mutter mit "Gnädige Frau" anspricht. Sie muss lernen, "Genossin" zu sagen. Was sie aber in Wahrheit lernt, ist die demütigende Tatsache, dass die Klassenunterschiede nur scheinbar aufgehoben sind. Man behandelt sie nicht anders, als Dienstmädchen immer behandelt wurden. Und der Junge lernt, dass den kommunistischen Parolen nicht zu trauen ist.
Wann spielt die Geschichte? Irgendwann Anfang, Mitte der fünfziger Jahre, als Mátyás Rákosi auf Geheiß und mithilfe der Sowjetunion die Opposition ausgeschaltet hatte. Die kleinen Bauernhöfe wurden zwangskollektiviert, mit der Folge, dass die Ungarn Hungersnot litten. 1956 versuchten sie, die russischen Besatzer loszuwerden und wurden brutal niedergemacht.
Péter Nádas, Jahrgang 1942, hat dies alles erlebt und überlebt. Nach dem Publikationsverbot arbeitete er als Fotograf. Erst 1991 erschien sein gewaltiges, bahnbrechendes "Buch der Erinnerung".