Stress und SpiritualitätJeden Tag 20 Minuten in die Kirche

Der Alltag zwischen Arbeit und Familienleben ist anstrengend. Was tun, wenn die Fitnessuhr meldet: "Achtung, Überlastung! Sorgen Sie für Entspannung!"?

Alina Oehler
© Carsten Schütz

Wissen Sie, was ein Wearable ist? Ich wusste das nicht, bis mir am Arm meines Mannes etwas aufgefallen ist, was sich dort sonst nie findet: so was wie Schmuck. In dem Fall ein schwarzes Armband. Das misst Gesundheitsdaten, wie bekannte Fitnessuhren, nur ohne Display und mit Jahresabo. Die passende App auf dem Smartphone verrät einem dann, wie man geschlafen hat, was das Herz macht, die Atmung und so weiter. Kann man ja mal ausprobieren, fand er. Ich fand den Gedanken auch ganz reizvoll, unseren Stresspegel während der täglichen Rennerei rund um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mal zu vergleichen und trage meine Fitnessuhr seitdem durchgehend – im Rahmen eines kleinen, privaten Experiments.

Dass zu viel Stress nicht gesund ist, ist eine Binsenweisheit. Doch was tun, wenn in dem Fall die Uhr den roten Bereich anzeigt und warnt: "Achtung, Überlastung! Sorgen Sie für Entspannung!"? Mit ein paar schnellen Atemübungen ist es zumindest bei mir nicht getan, um die Anzeige wieder auf Grün zu bekommen.

Die Kirchen-Meditation

Ich erinnerte mich an einen Tipp aus einem berühmten Fitnessratgeber des deutschen Fitness-Gurus Dr. Ulrich Strunz. Sein Buch "forever young" lag in den Nullerjahren in vielen Haushalten im Regal. Unter anderem riet er neben dem Joggen zur Meditation und berief sich dabei auch auf Untersuchungen mit Magnetresonanztomografen, in die tibetische Mönche geschoben und deren Frontalcortex im Hirn dort viel stärker ausgeprägt erschien, als das beim Normalprobanden der Fall ist. Heißt: mehr Platz für Heiterkeit, Ausgeglichenheit, Optimismus. Weil laut Dr. Strunz der Normal-Deutsche mit fernöstlicher Meditation aber nichts anfangen kann, hatte der Arzt einen Tipp parat, den er "die Kirchenmeditation" nennt. Er riet dazu, sich täglich 20 Minuten in eine Kirche zu setzen. Das schaffe jeder. Nach zwei Wochen würde man verstehen, warum. Mehr Anleitung bekam man nicht, nur eine Kirche müsse es sein, weil sie ein "heiliger Ort" ist. Und die hat in Deutschland ja jeder irgendwo in Laufweite.

Das habe ich ausprobiert – mit meiner Fitnessuhr am Arm. Immer wieder liest man, dass meine Generation zunehmend dopaminsüchtig sein soll, also ständig der nächsten News auf einem Display hinterherjagt, und tatsächlich ist so ein stiller, handyfreier Raum wie eine Kirche ohne Liturgie erst mal eine Herausforderung. Man weiß gar nicht, was tun, wohin man schauen soll. Als Katholikin fällt mein Blick dann irgendwann auf das "ewige Licht", vorn im Altarraum, das anzeigt, dass im Tabernakel Hostien aus einer Heiligen Messe aufbewahrt werden. Eine Erinnerung an die Realpräsenz Jesu Christi in diesem Raum. Mich animiert das zum Beten, zu einem inneren Gespräch mit Gott.

Auch wenn ich nicht ins Gebet finde, tut es gut, einfach nur in diesem Raum zu sitzen, in dem niemand etwas von einem will und der durch seine Architektur Distanz zum Alltag schafft.

Ich muss an Teresa von Avila denken. Eine Heilige. Beten war für sie "nichts anderes als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt." Das spüre ich in einer Kirche. Und auch wenn ich nicht ins Gebet finde, tut es gut, einfach nur in diesem Raum zu sitzen, in dem niemand etwas von einem will und der durch seine Architektur Distanz zum Alltag schafft. Pascal Merciers "Nachtzug nach Lissabon" kommt mir in den Sinn, in dem ein Protagonist sagt: "Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt."

Meine Gedanken schweifen mal hierhin und dorthin. Geht so Meditation? Die eigenen Gedanken beobachten und wie Wolken vorüberziehen lassen? So oder so ähnlich habe ich das mal in einem Yoga-Kurs gehört. Das passiert mir in der Kirche tatsächlich. Dr. Strunz hat einen Punkt.

Und ist die Kirche nicht auch Hüterin des spirituellen Erbes unserer Kultur, das zunehmend verschüttet ist? Wer betet noch den Rosenkranz? Wer geht zu einer eucharistischen Anbetung? Mich entspannt das mehr als irgendeine Mantra-Mediation, wie sie mittlerweile wahrscheinlich mehr junge Menschen kennen und wie ich sie auch schon mitgemacht habe.

Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich glaube, die Kirche in Deutschland versteckt ihre spirituellen Schätze häufig aus falscher, aufklärerischer Scham. Dabei machen diese sie zu dem Raum, in dem man intuitiv spürt: hier ist mehr, hier kann man heil werden.

Meine Fitnessuhr vibrierte dann schon nach wenigen Minuten. Der Marker war vom orange-roten Überlastungsbereich in den blau-grünen "alles ok"-Modus gerutscht. "Ausgezeichnete Verfassung. Ihr Echtzeit-Stress war in den letzten Minuten niedrig, was auf ein entspanntes Herzfrequenzniveau und kontrollierbaren Stress hinweist".

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