Seit dem Ersten Weltkrieg bis heute hat sich der überlieferte Begriff des Martyrers stark erweitert – so stark wie wohl noch nie in seiner langen Geschichte.* Man spricht heute von Martyrern der Befreiung, der Emanzipation, des gewaltlosen Widerstands, der Demokratie, der Frauen-, Männer-, Kinderrechte, der Umwelt usw. Und in jüngster Zeit kommen Erweiterungen des Begriffs ins Militante, Kriegerische hinzu – das Martyrium, verstanden als Selbstopfer und zugleich als Waffe; Soldaten, Partisanen, Attentäter, Kamikazekämpfer, die sich selbst als «Martyrer» bezeichnen oder die von anderen mit diesem Namen belegt werden.
Im Blick auf die große Schar historischer Martyrer spricht die kirchliche Tradition mit anschaulichen Worten von der «Wolke der Zeugen» (Hebr 12, 1), der «großen Schar» (Offb 19), dem «strahlenden Heer» (Ambrosius). Die heutige Martyrer-Vielfalt (und die heutige weit ausgreifende und diffuse Martyrer-Terminologie!) gleicht dagegen eher einem wuchernden Tropenwald. Im Folgenden versuche ich ein paar Schneisen durch das Dickicht zu ziehen.
1. Martyrer des Glaubens – Martyrer der Welt
Das griechische Wort martyrion bedeutet Zeugnis vor Gericht.1 Der es ablegt, heißt martys, der Zeuge. Im christlichen Verständnis handelt es sich freilich nicht einfach um ein beliebiges Zeugnis in einer beliebigen Sache. Vielmehr ist der martys = Martyrer ein Zeuge, der bereit ist, mit seinem Zeugnis bis zum Äußersten, bis zum Opfer seines Lebens zu gehen – ohne dass er dieses Opfer leichtfertig riskiert oder gar sehnsüchtig danach strebt. Er wird zum Opfer, weil er eine Wahrheit bezeugt. Er geht für seinen Glauben in den Tod. Aus einem Zeugen wird er – wie das deutsche Wort anschaulich sagt – zu einem Blutzeugen.
Dabei sind zwei Dinge entscheidend: einmal die von außen gesetzte, nicht selbstgeschaffene oder gar selbstprovozierte Verfolgungssituation – und sodann die Verbindung des Martyrers mit Christus und mit der Kirche, welche die Legitimation für das Blutzeugnis schafft. Es handelt sich um ein «Martyrium gemäß dem Evangelium», wie es in einer frühchristlichen Quelle, dem «Martyrium des Polykarp», heißt. Welchen Tod der Martyrer stirbt, wie die Umstände seines Martyriums im Einzelnen beschaffen sind, welche Qualen ihm zugefügt werden, dies alles spielt dabei erst in zweiter Linie eine Rolle: entscheidend ist die aus dem Glauben erwachsende Bereitschaft zum Blutzeugnis in der Nachfolge Jesu, des «treuen Zeugen» (Offb 1, 5). Wie es Augustin ausdrückt: Christi martyrem non facit poena sed causa.2 Nicht «die Pein», die ihm angetan wird, macht den Martyrer, sondern «die Sache», für die er steht und Zeugnis ablegt – eine Sache, die zugleich Ursache (causa) seiner Verfolgung vonseiten der «Feinde Christi» ist.
Die neueren Sprachen haben den Martyrerbegriff aus dem Lateinischen übernommen (das ihn wiederum aus dem Griechischen entlehnte). Im Deutschen ist er bis heute ein gebräuchliches Lehnwort. Dabei betonte das Deutsche weniger den alten Sinn der Zeugenschaft – es setzte vielmehr eigene Akzente, indem es das Leiden, die Qualen, das bittere Sterben des Opfers betonte. In keiner anderen Sprache ist aus Martyrium zugleich das Wort für absichtlich und planmäßig zugefügtes Leiden («Marter») abgeleitet worden. Wer im Deutschen Martyrium sagt, hört immer auch die Marter mit: der Martyrer (martrer, mertrer) ist der Gemarterte schlechthin. Christus erstand vom Kreuzestod – er erstand, wie es im Lied heißt, «von der Marter allen». Noch heute bezeichnet Marter südostdeutsch eine Tafel mit Kruzifix zur Erinnerung an einen Unglücksfall (üblicher das besonders im Süddeutschen weitverbreitete Diminutivum Marterl). Das Deutsche nimmt sich das Martyrium im Wortsinn «zu Herzen», stellt es anrührend und mitleidend dar – freilich werden dabei Augustins Akzentsetzungen in die Gegenrichtung gekehrt: die Pein steht im Vordergrund, nicht mehr das Zeugnis (poena non causa).
Dass Martyrium, Marter, Martyrer im Deutschen zum Krongut religiöser Sprache gehören, dass sie einen festumschriebenen eigenen Bedeutungskreis bilden, das hat dazu geführt, dass sie nicht, wie andere, in der Aufklärung und in der klassischen Literatur säkularisiert worden sind. Einzig die vielgeschmähte Literatur des «katholischen Milieus» versuchte seit dem Vormärz die barocken Sujets fortzuschreiben und reicherte sie mit neuen exotischen und indigenen Zügen an.3
Daneben gewinnen die Martyrer in der katholischen Bewegung nach dem «Kölner Ereignis» (1837) neue Bedeutung. Görres’ Athanasius (1838) ist der vielbeachtete Auftakt: hier wird den Katholiken eine Zeit der Verfolgung, aber auch ein Wachstum in der Freiheit vorausgesagt.4
Es ist bezeichnend, dass nach 1871, in der Zeit des Kulturkampfs, im katholischen Milieu eine Renaissance des Martyrerdramas beginnt, vor allem im Theaterspiel der Gesellen- und Arbeitervereine.5 Es handelt sich gewiss nicht um große Literatur – aber man darf die Breite und Intensität der Wirkung nicht unterschätzen. Auch in der expressionistischen Dichtung vor und nach dem Ersten Weltkrieg kehrt das Martyrerthema wieder, nunmehr auf höherem literarischen Niveau: Man denke an Franz Herwigs «St. Sebastian vom Wedding» (1921) oder an Franz Johannes Weinrichs «Spiel vor Gott» (1922).
In der Zeit nach 1918 gewinnt dann der Martyrerbegriff die uns geläufige Verbreitung. Er überschreitet die alten konfessionellen Grenzen. Die kirchliche Bedeutung des Wortes, in der katholischen Liturgie beharrlich tradiert und im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder aktuell erneuert – erinnert sei an das Fest der «Martyrer der Französischen Revolution»6 – nimmt nun auch im evangelischen (und später im orthodoxen) Sprachraum immer mehr zu. So sind etwa die während des russischen Bürgerkriegs von Rotarmisten ermordeten evangelischen Pfarrer im Baltikum schon früh als «Martyrer» bezeichnet worden.7 Später kommen – in beiden Konfessionen – die Blutzeugen des Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus hinzu. Und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tritt die Martyrerkategorie in allen christlichen Kirchen in neuer und umfassender Weise hervor.8 Das Wort wird zunehmend «global» verwendet, auf Menschen in aller Welt bezogen.
Aber nicht nur der kirchliche Martyrerbegriff festigt und verbreitet sich in der Gegenwart – auch der allgemeinere Gebrauch des Wortes Martyrer nimmt zu. Es «passt» zum Epochenklima – zu der fordernden, drängenden, oft brutalen Art, mit der die modernen Despotien auf den Menschen eindringen und ihn vor unwiderrufliche Entscheidungen stellen.
Wer sich heute in der Literatur und in den Medien umsieht, dem begegnet das Wort Martyrer fast auf Schritt und Tritt. Das Spektrum reicht weit: von den neuentdeckten «alten Martyrern» aus historischer Zeit bis zu den «politischen Martyrern» des 20. (und schon des 19.!) Jahrhunderts; von den «Martyrern der Philosophie» (Urbilder: Sokrates, aber auch Giordano Bruno) bis zu den «Martyrern des freien Glaubens»; von christlichen Zeugen bis zu jüdischen und muslimischen Kämpfern; von den assyrischen Martyrern der christlichen Frühzeit bis zu Partisanen und Attentätern im Nahen und Mittleren Osten; von den Martyrern der Katakomben bis zu «nationalen», «politischen», «revolutionären» Martyrern, Martyrern des «gerechten Kampfes» , des «Friedens» oder des «Sieges».9
Kein Zweifel: das Wort «Martyrer» ist zu einem Schlüsselwort der Zeit geworden. Dabei hat es freilich im Zug einer immer breiteren und allgemeineren Verwendung auch an Schärfe und Klarheit eingebüßt. Seine Herkunft, sein Hintergrund, seine ursprüngliche Bedeutung sind vielfach verblasst. Es gibt heute die unterschiedlichsten Martyrerbegriffe. Viele stehen in Konkurrenz zueinander. Vor allem die politische Entgrenzung des Martyrerbegriffs hat zu Verständnisschwierigkeiten und Widersprüchen geführt.
2. Veränderungen der Martyrer-Semantik
Fragen wir nun genauer, wohin sich die Martyrer-Semantik in jüngster Zeit bewegt hat. In welche Richtungen hat sich der überlieferte Martyrerbegriff erweitert, und in welchem Zusammenhang (oder in welchem Widerspruch) steht diese Erweiterung mit kirchlichen Traditionen?
(1.) Zunächst wird man feststellen, dass die Worte Martyrer und Martyrium im 20. Jahrhundert ihre religiöse Zentralität behauptet, ja verstärkt haben. Freilich liegt diesem Sachverhalt ein weitgefasster Religionsbegriff zugrunde: die Skala reicht von Religionen des «leidenden Gehorsams» bis zu aktiven und militanten Religionen, von gewaltfreien bis zu gewalttätigen Optionen – und dementsprechend auch von passiven Opfern bis zu aktiven Tätern. Stehen auf der einen Seite die rings von Gewalt umstellten, dem Vernichtungswillen ihrer Gegner rettungslos preisgegebenen «passiven» Martyrer-Menschen, die gar keine Gelegenheit hatten, dem Lebensopfer auszuweichen –, so auf der anderen diejenigen, die dieses Opfer bewusst selbst wählten, um gegen religiöse, aber auch gegen politische, soziale, militärische Unterdrückung anzukämpfen.
Verglichen damit sind die Martyrerbegriffe, die in den christlichen Kirchen institutionell etabliert sind (oder theologisch diskutiert werden) natürlich strenger und konziser gefasst. Das gilt vor allem für die katholische Kirche, in der seit Papst Benedikt XIV. (1740–1758) drei Kriterien für die Anerkennung als Martyrer maßgebend sind: die Tatsache des gewaltsamen Todes (martyrium materialiter), Glaubens- und Kirchenhass bei den Verfolgern (martyrium formaliter ex parte tyranni) und das Zeugnis des Glaubens auf Seiten der Opfer (martyrium formaliter ex parte victimae).10 Auch die Heiligsprechungen der Martyrer in der Orthodoxie – in Russland in der Sowjetzeit unterbrochen, jedoch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen «Neu-Martyrern» wieder aufgenommen – folgen alterprobten Traditionen: hier steht nach den Darlegungen Vladimir Ivanovs die «Wahrnehmung der theophanischen und thaumaturgischen Natur der Heiligkeit» im Vordergrund, die «Unterordnung des allgemein Privaten in der menschlichen zu Gunsten der verherrlichten Person» (Georgij Fedotov).11 Das evangelische Martyrerverständnis knüpft an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisschriften an: entscheidend ist der fundamentale «Bezug zum gekreuzigten Jesus, dem Christus». Ich zitiere Wolf-Dieter Hauschild: «Märtyrer/Märtyrerinnen sind einerseits die Wortzeugen in der Bezeugung des Christusbekenntnisses bzw. der Wahrheit Gottes, andererseits die Tatzeugen der göttlichen Gerechtigkeit bzw. der Gebote Gottes.»12
Diese Kriterien sind zwar nicht identisch, aber sie berühren, überschneiden und ergänzen sich. Das hat dazu geführt, dass die christlichen Kirchen in ihren Martyrern ein gemeinsames ökumenisches Erbe entdeckten. Dies gilt vor allem für die Blutzeugen des 20. Jahrhunderts, die bei weitem größte Schar seit den Verfolgungen der frühen Kirche; es gilt aber auch für die ihnen vorausgehenden und folgenden «Zeugen für Christus» in allen Teilen der Welt. Dass Martyrium nicht etwas Historisches, sondern etwas Gegenwärtiges ist, nämlich der Ernstfall des Christentums, dass er daher immer wieder in neuen Formen auftritt – dieses Gefühl ist heute allgemein verbreitet.
(2.) Bildet so die christliche Erfahrung den Identitätskern dessen, was wir Martyrium nennen, so ist doch festzuhalten, dass sich der Begriff im Lauf des 20. Jahrhunderts mit neuem Inhalt gefüllt hat. Das Martyrium, das lassen die Zeugnisse erkennen, wird heute gegenüber früheren Zeiten weniger als passive Hingabe, als leidende Aufopferung verstanden – es ist für viele eine beispielhafte Tat, ein anfeuerndes Beispiel, ein Zeugnis für Wahrheit und Gerechtigkeit. Oft trägt das Martyrium heute ein individuelles, ja individualistisches Gesicht. Es artikuliert den personalen Protest gegen anonyme Mächte. Auch wenn der Martyrer gegen despotische Gewalt wenig auszurichten vermag, so versucht er doch etwas auszudrücken, das zu gegebener Zeit gehört und verstanden werden kann. Seine Tat ist ein Zeichen und keineswegs nur eine ohnmächtige Verwahrung. Oft bekommen ja Besiegte nachträglich unerwartet recht.
Aber kann der «aktive», der «politische» Martyrer dem oben geschilderten Dilemma entgehen: dass er zuletzt doch nur eine Partei in einem Kampf ist, in dem Recht gegen Recht steht (und «Martyrer» auf allen Seiten auftreten!)? Nun, er kann es unter heutigen Umständen dann am besten, wenn er nicht für «eine Seite» streitet, sondern gegenüber den Partikularinteressen der am Kampf Beteiligten ein universelles Prinzip zur Geltung bringt: Menschenrecht und Menschenwürde, das Humanum schlechthin. Darin ist die Lage im Zeitalter eines menschenrechtlichen Universalismus in der Tat eine andere als vor dem Ersten (und noch vor dem Zweiten) Weltkrieg. Warum hatten die Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche im Vietnamkrieg ein weltweites Echo? Warum enthüllten Jan Pallach und Oskar Brüsewitz durch ihre Selbsttötung das Unerträgliche der politischen Zustände – und das Versagen ihrer Kirchen? Warum verneigen wir uns vor dem von der polnischen Geheimpolizei ertränkten Priester Popieluszko in Warschau und vor den von Panzern überrollten chinesischen Studenten am Tiananmen-Platz in Peking? Weil sie Unrecht offenbar machten – und weil es ihnen gelang, die Stille der Despotie zu durchbrechen und, wenigstens einen Augenblick lang, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken. Noch im Dritten Reich, im Realsozialismus war das anders: Kommunisten wie Nationalsozialisten versuchten den Widerstand nicht nur zu brechen – sie suchten ihn vor allem in die Anonymität und Isolierung, die Wirkungslosigkeit und Echolosigkeit zu drängen. Die altchristliche Martyria war noch am Zeugnis im öffentlichen Gerichtsverfahren orientiert: Der neronische Zirkus und das Kolosseum waren öffentliche Plätze. Demgegenüber dürften die Martyrer des 20. Jahrhunderts überwiegend in Anonymität und Einsamkeit gestorben sein.13
In mancher Hinsicht, so scheint mir, ist das nach-totalitäre Zeitalter im Begriff, die alten Bedingungen des christlichen (und übrigens auch des jüdischen!) Martyriums wieder herzustellen: die Sichtbarkeit und Beispielhaftigkeit; das weiterwirkende Zeugnis; den Bezug zur Gemeinde, welcher der Martyrer ebenso vorausgeht, wie sie ihm nachzufolgen strebt. Von hier gesehen tritt das Öffentliche, Politische des Martyrers in der Gegenwart stärker in Erscheinung als im Zeitalter der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und ihrer Machtapparate. Das berührt sich mit dem frühchristlichen Verständnis. Der Martyrer ist ein öffentlicher Zeuge, er bricht den Bann irdisch-geschichtlicher Macht – so wie Christus, mit dem er gekreuzigt ist, die Mächte und Gewalten «zur Schau gestellt» und ihre Allmacht als Blendwerk (pompa diaboli) enthüllt hat.14
Die zentrale Kraft des Martyrers ist der Glaube – freilich ein Glaube, der mehr ist als bloßes «Fürwahrhalten»; ein Glaube, der «getan» werden will und der nichts anderes ist als die Vollendung der bedingungslos liebenden Hingabe nach dem Beispiel Christi. Deshalb intervenierte Johannes Paul II. zurecht, als die Kurie im Heiligsprechungsverfahren für Maximilian Kolbe dem polnischen Franziskaner «nur» den Status des Bekenners zuerkennen wollte (weil er, so lautete die Begründung, nicht «aus Hass auf den Glauben» ermordet worden sei!); der Papst erreichte, dass der Tod Kolbes im Hungerbunker in Auschwitz (zur Rettung eines Familienvaters) als wirkliches «Martyrium» bezeichnet und bestätigt wurde.15 Hinter diese Neuakzentuierung und «Auffüllung» konnte und kann nun auch bei künftigen Kanonisationen von Martyrern nicht mehr zurückgegangen werden – immer mehr tritt an die Stelle einer nur noetisch-intellektuellen Prüfung des Glaubens der Blick auf die «ganze Existenz» des Zeugen.
(3.) Vor allem die Katholische Kirche hat aus der öffentlichen Bedeutung des Martyrerbegriffs, aus der stärkeren Betonung der Existenz des Zeugen und seiner freien Liebestat ihre Folgerungen gezogen. Die seit dem 18. Jahrhundert normierten, im 20. Jahrhundert ergänzten Martyrer-Kriterien sind im Licht moderner Erfahrungen neu ausgelegt und aktualisiert worden. Was heißt das für das Phänomen des Martyriums? Gerät etwa die alte Bedingung ins Wanken, dass der Glaubenszeuge auf keinen Fall das Martyrium aktiv suchen oder gar herbeiführen darf? In der Zeit der frühen Christenverfolgungen gab es bekanntlich eine lebhafte Diskussion darüber, ob man sich zum Martyrium «drängen darf».16 Das wird natürlich abgelehnt – aber ebenso gut bezeugt ist auch die Sehnsucht nach dem Martyrium und die Sorge vieler Zeugen, sie könnten dieses «Opfer der Liebe» versäumen. So schrieb Ignatius von Antiochien als Gefangener auf dem Weg nach Rom an die römische Gemeinde: «Gestattet mir, Nachahmer des Leidens meines Gottes zu sein!»... «Gewährt mir nicht mehr, als Gott geopfert zu werden, solange noch ein Altar bereitsteht.»17 Kehren solche Bitten und Wünsche in modernen Martyrien wieder? Weisen etwa die freiwillige Meldung Maximilian Kolbes in Auschwitz oder die Aufforderung Edith Steins in Echt an ihre Schwester «Komm, wir gehen für unser Volk!» in diese Richtung?
(4.) Das Problem wird heute in der öffentlichen Diskussion überlagert (und zum Teil verdrängt) durch zwei Phänomene, die im Rahmen dieser Bestandsaufnahme nicht übergangen werden dürfen. Da ist einmal die Politisierung des Martyrerbegriffs im Gefolge aktueller theologischer Strömungen – vor allem im Zusammenhang mit der heute geläufigen Imperialismus-, Kapitalismus- und Globalisierungskritik. Und da ist auf der anderen Seite die Verbindung des Wortes mit islamischen Selbstmordattentätern, die sich Martyrer nennen – und die dadurch hervorgerufene «Schlagseite», die der Begriff Martyrer in jüngster Zeit in der Öffentlichkeit aufweist.
Zusammenfassend: Es waren zuerst die Opfer der totalitären Regime, die «Martyrer des 20. Jahrhunderts», die den Anstoß zu einer umfassenden Renaissance des Martyrerbegriffs nach 1945 gaben. Diese Martyrer waren damals bei vielen noch in persönlicher Erinnerung; später wurden ihre Biographien von Wissenschaftlern erforscht, ihre Namen in Katalogen und Martyrologien gesammelt, ihr Andenken durch Gedenkschriften und Denkmäler geehrt. Diese Martyrer der Gegenwart wiederum lenkten den Blick auf die «historischen Martyrer», von denen der Martyrerbegriff herstammte – diese wurden nun ihrerseits entdeckt, erforscht, gewürdigt, aus ihrer Verborgenheit in Krypten, Akten, legendarischen Überlieferungen herausgeholt. Über beide Überlieferungen, die der Ur-Martyrer und die der Gegenwarts-Martyrer, beginnt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine dritte, rasch wachsende Schicht zu legen: die Schar der «Martyrer des bewaffneten Kampfes» im Islam.
3. Die Martyrer: Fragen an Theologie und Religion
Das führt uns im dritten, abschließenden Teil zu den Fragen des Anfangs zurück. Was bedeutet die Ausweitung des Martyrerbegriffs in unserer Zeit für Theologie, Kirche, Religion? Was sind die Folgerungen für den interkonfessionellen, den ökumenischen, aber auch den interreligiösen Diskurs? Ich beschränke mich auf einige wenige Feststellungen.
Festzuhalten ist zunächst, dass die große Schar der Martyrer des 20. Jahrhunderts innerhalb der christlichen Kirchen zu einem vermehrten Nachdenken über Martyrer und Martyrium, über Zeugenschaft und Lebensopfer in und mit Christus geführt hat.18 Die Thematik reicht in zentrale Fragen des Kirchenverständnisses hinein. Warum gibt es überhaupt Martyrer? Was bedeuten Martyrer für die Kirche? Ist das Martyrium ein charismatischer Ausnahmezustand für wenige einzelne – oder ist die Bereitschaft zum Martyrium im Christentum ein «Ernstfall» für viele, wenn nicht gar für alle? Und was bedeutet dieser Ernstfall für die Gemeinden? Wie gedenken sie auf richtige und gültige Weise der Martyrer in actu (Fürbitten)19 und in memoria (Gebete, Feste)? Wie wirkt sich das Gedenken an die Martyrer im Aufbau des kirchlichen Lebens und seiner «regulären» Strukturen aus, in Liturgie, Gebet, Predigt, Festkalender, Kirchenjahr?
Diese Fragen betreffen zunächst einmal die christlichen Kirchen – also Orthodoxie, Katholiken und Kirchen der Reformation. Sie bemühen sich heute um die Pflege, Erneuerung, Revitalisierung eigener Martyrer-Traditionen – und sie suchen zugleich den Austausch mit den Erfahrungen der anderen. Die unterschiedlichen Profile, die dabei sichtbar werden, müssen den Prozess wechselseitigen Lernens nicht stören – vorausgesetzt, die Gesamterscheinung der «großen Schar aus allen Völkern» bleibt im Blick. Gegenwärtige und künftige Verfolgungen werden dem Martyrium als Prüfung und Probe christlichen Lebens gewiss weiterhin Aktualität verschaffen, so dass die ökumenische Perspektive einer «Martyrerkirche», welche die konfessionell Getrennten im Gedenken neu zusammenfügt, auch im 21. Jahrhundert nicht untergehen dürfte.
Aber die Existenz islamischer «Martyrer» zeigt, dass das Problem längst über die christlichen Kirchen hinausreicht. Es betrifft auch das Verhältnis des Christentums zur nichtchristlichen Welt – insbesondere zum Islam. Sind die – unzweifelhaft vorhandenen – Gemeinsamkeiten der «abrahamitischen Religionen» tragfähig genug, um mögliche Konflikte zu entschärfen? Oder muss man konstatieren, dass die Gegensätze auch bei größter Anstrengung im interreligiösen Dialog nicht auflösbar sind?
Auch der Islam kennt Wortzeugen wie auch Blutzeugen des Glaubens. Auch hier hat sich – möglicherweise unter jüdisch-christlichem Einfluss – der Begriff des Martyrers aus dem des Zeugen vor Gericht entwickelt. Doch neben der Rechtssprache spielt hier von Anfang an auch die militärische Sprache eine Rolle. In der Hadith-Literatur ist Martyrer der, der im Djihad, der heiligen Schlacht, den Opfertod erlitten hat und damit für Allah gestorben ist – und das ist zuallererst der muslimische Soldat. Gott belohnt einen solchen Einsatz. «Durch seine Verdienste und seinen Opfertod ist der Martyrer von seiner Schuld befreit, das Reinigungsfeuer wird ihm erlassen, und der Tag des Gerichts wird ihm erspart. Er darf die höchste Stufe im Paradies einnehmen und neben Gottes Thron stehen. […] Sein Opfer hat sühnende Kraft.»20 Seit jeher besteht im islamischen Denken eine enge Verbindung von Martyrium und Paradies. Die modernen Djihadisten greifen hier auf alte Glaubensüberlieferungen zurück, die sie zuspitzen und radikalisieren.21
Das wirft ein letztes Mal die Frage auf: Darf man das Martyrium suchen? Darf man mit dem islamischen Mystiker Al-Halaj ausrufen: «Tötet mich, damit ihr belohnt werdet und ich Ruhe finde»?22 Die direkte Suche nach dem Tod ist für jeden gläubigen Muslim ein Tabu. Kommt sie doch dem Selbstmord nahe, der im Islam wie im Judentum wie im Christentum verboten ist. In allen drei «abrahamitischen Religionen» haben Gemeinde, Recht und Tradition den Begriff des Martyriums gegen den Subjektivismus charismatischer Einzelner (und häretischer Extremisten) abgegrenzt. Diese Grenzen sind in langen Erfahrungen mit den Blutzeugnissen der Gemeindeglieder sorgfältig abgewogen worden und gehören zu den gemeinsamen Prinzipien von Judentum, Christentum, Islam.23 Wanken sie heute? Hat der Djihadismus24 die Grenzen zwischen Martyrium und Selbstmord, Blutzeugnis und mörderischem Kampf verwischt? Wird aus Sterben für den Glauben Töten für den Glauben? Verliert der Begriff des Martyrers, indem er jahrhundertalte Grenzen überschreitet, das ihm gesetzte theologische Maß?
Das sind auch Fragen an den heute vielbeschworenen interreligiösen Dialog. Soll er gelingen, muss ein Minimum gemeinsamer Begriffe, Konzeptionen, Wertvorstellungen vorhanden sein. In der jüdischen, christlichen wie islamischen Überlieferung ist der Martyrer einer, der bereit ist, für seinen Glauben zu sterben. Er ist jedoch kein selbstmächtiger Täter im eigenen Auftrag, er sucht das Lebensopfer nicht – und schon gar nicht reißt er andere mit sich in den Tod. An diesem Martyrerverständnis sollte man auch im christlich-islamischen Dialog festhalten und nicht rütteln lassen. Sonst droht «Martyrium» zu einem Schreckenswort zu werden, zum Synonym für die schrankenlose Ermächtigung zum Töten für den Glauben. Dies aber wäre eine perverse Verzerrung am Ende einer ehrwürdigen und langen gemeinsamen Tradition.