Am 2. Februar 2015 wurden am libyschen Mittelmeerstrand in der Nähe der Stadt Sirte einundzwanzig junge Männer ermordet. Die Täter waren Mitglieder der dschihadistischen Miliz «Islamischer Staats», die sich dem heiligen Krieg gegen die nicht-islamische Welt der «Ungläubigen» und insbesondere gegen den christlichen Westen verschrieben hatte. Die Opfer waren zwanzig ägyptische Wanderarbeiter, die sich in Libyen verdingt hatten, und ein junger Schwarzer aus Ghana. Sie mussten sterben, weil sie Christen waren, Angehörige der koptischen Kirche Ägyptens, ausgenommen den jungen Schwarzafrikaner, der sich aber ausdrücklich auch als Christ bekannte. Die Dschihadisten hielten die abscheuliche Mordtat in einem Video fest, das sie zwei Wochen später, am 15. Februar, unter dem Titel «Botschaft an die Nation des Kreuzes, geschrieben mit Blut» ins Internet stellten. Es ist heute nicht mehr abrufbar, aber Martin Mosebach beschreibt es im dritten Kapitel seines 2018 erschienenen Buches Die 21 auf elf Seiten (29–40) mit größter medienästhetischer Präzision als erschütterndes Dokument eines propagandistisch inszenierten Martyriums, das an die öffentlichen Hinrichtungen zu Zeiten der römischen Christenverfolgungen denken lässt.
Die einundzwanzig jungen Männer starben entschieden als Martyrer (Mosebach verwendet die alte Wortform, die – anders als die jüngere Form «Märtyrer» – den gewichtigeren Klang der griechischen und kirchenlateinischen Formen «mártyrion» und «mártyr» bewahrt). Sie wurden von den Dschihadisten auf der Heimfahrt nach Ägypten aus einem Omnibus heraus gezielt verhaftet, einige Wochen lang gefoltert und, da sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwuren, auf ebenso zeremoniöse wie brutale Weise zu Tode gebracht: In orangefarbene Overalls gekleidet, wurden sie, die Hände auf den Rücken gefesselt, von je einem schwarzgewandeten und maskierten Begleiter in einer langen Reihe an den Strand geführt und nebeneinander zum Niederknien gezwungen. Nachdem der Leiter der Exekution auf Englisch seine «Botschaft» oder eigentlich Kriegserklärung «an die Nation des Kreuzes» in die Videokamera gesprochen hatte, wurden sie von ihren Begleitern mit einem Schwung und die Gesichter voraus in den Sand gestoßen. Danach knieten sich die Schergen auf den Rücken der Gefesselten, rissen ihre Köpfe an den Haaren nach oben, schnitten ihnen mit Messern die Kehlen durch und trennten in einer blutigen und keineswegs «glatt» verlaufenden Prozedur die Köpfe vollends von den Körpern, um sie den Ermordeten schließlich auf den Rücken zu setzen.
Diesen, den Martyrern, gilt das Hauptinteresse Mosebachs, und mit zunehmendem Staunen registriert er, mit welch unerschütterlicher Fassung die Einundzwanzig in den Tod gingen. Nicht das geringste Zeichen von Wankelmut oder Verzweiflung ist auf dem Video zu erkennen, kein Klagen oder Flehen ist zu hören, auch kein Schrei, als die Männer in den Sand gestoßen werden, «nur ein Gewirr leiser Stimmen: ‹Jarap Jesoa! – Herr Jesus!› – das Stoßgebet der Sterbenden» (36). Es scheint, dass das Martyrium für die Einundzwanzig nicht – man gestatte die etwas ungehörige Formel – der GAU war, nicht der «größte anzunehmende Unfall» (GAU) des Lebens, sondern ein Endpunkt, mit dem zu rechnen war und auf den man sich eingestellt hatte, ein Abschluss, der nicht etwa als eine alles zunichte machende Katastrophe gesehen und erfahren wurde, sondern als letzte und definitive, unüberbietbare und unwiderrufliche Bewährung im christlichen Glauben und zugleich als Moment des unmittelbaren, das persönliche Seelengericht überspringenden (125) Eintritts in die höhere Sphäre des vollkommenen Heils. Dem entspricht die wenige Wochen nach dem Martyrium erfolgte Kanonisierung der Einundzwanzig durch den Patriarchen Tawadros II. und ihre im Mai 2023 durch Papst Franziskus verkündete Aufnahme ins römische Martyrologium. Am 15. Februar 2018 wurde ihnen in dem oberägyptischen Dorf El-Or, dem Geburtsort der meisten von ihnen, eine auf Staatskosten (68) erbaute Wallfahrtskirche geweiht.
Die Bestürzung über das schreckliche Video und das Erstaunen über die Haltung der einundzwanzig Mordopfer trafen Mosebach anscheinend mit solcher Wucht, dass er sich entschloß, nach Ägypten zu reisen, um Näheres über den religiösen Hintergrund dieser Männer erfahren. Das emphatisch geschriebene und bewegende Buch, das daraus hervorging, trägt deswegen den Untertitel Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer. Es verbindet skizzenhafte Porträts der «Blutzeugen», deren Familien Mosebach in El-Or aufsuchte, mit längeren Ausführungen über den gegenwärtigen Zustand und die Geschichte der koptischen Christenheit in Ägypten.
Die Porträts der einundzwanzig Martyrer fallen überraschenderweise etwas blaß aus. Das liegt zunächst einmal an der kommunikativen Situation: Mosebach war auf Übersetzer angewiesen, und überdies wollte er keine zudringlichen Fragen stellen, sondern gegenüber den Angehörigen – Eltern, Geschwistern, Ehefrauen – die durch Höflichkeit und Pietät gebotene Zurückhaltung gewahrt haben. Seine Informationen blieben begrenzt. Zum andern liegt es aber auch an dem Umstand, dass die Ermordeten, wie der Pfarrer von El-Or dem Besucher mehrfach versicherte, «ganz normale Jungens» waren (114.102), von denen letztlich nichts Besonderes zu berichten war. Zu dieser «Normalität» gehörte freilich ein nun doch außergewöhnlich wirkendes Verwurzelt- oder Verhaftet-Sein im christlichen Glauben, das so unerschütterlich und mutig war, dass es die Bereitschaft zum Martyrium, das in jener Region keineswegs außerhalb des realistisch Denkbaren lag, einschloss und sich durch Hinweise auf die Gefährlichkeit eines Arbeitseinsatzes in Libyen nicht erschrecken ließ. Diese Bereitschaft und Entschlossenheit, für den Glauben notfalls auch den Tod zu erleiden, wurde von den Angehörigen geteilt und über das Martyrium der Einundzwanzig hinaus bewahrt: Sie werden nicht beklagt und bejammert, sondern verehrt und gefeiert, und ihr Tod wird nicht als Unglück betrachtet, sondern als Beweis und Triumph des Glaubens. «Dies», schreibt Mosebach, «war das Gemeinsame in allen Häusern [der Martyrer]: Ich betrat kein Trauerhaus, Beileids- und Mitleidsbekundungen waren fehl am Platz. Die Bewohner schienen auf eine andere Ebene gehoben. Ein Blitz von sengender Gewalt war auf sie niedergegangen, ihm war ein majestätischer Donner gefolgt, der langsam leiser wurde und doch nicht verhallte» (100). Dieser Erhebung entspricht, dass «nicht ein einziges Mal die Forderung nach Vergeltung oder Rache oder wenigstens nach einer Bestrafung der Mörder» erhoben wurde (111). Die geistige Teilhabe an der heiligenden Blutzeugenschaft lässt für dergleichen keinen Raum.
Auf der Suche nach dem Fundament dieser erstaunlichen Bereitschaft zum Martyrium sieht sich Mosebach, wie schon gesagt, in der Sphäre der ägyptischen Christen um, besucht neben den oberägyptischen Dörfern ihre Klöster und ihre modernen städtischen Zentren mit großen Kirchen, Bildungseinrichtungen und Kliniken, läßt sich über die Geschichte der koptischen Kirche informieren und rekapituliert sie in groben Zügen. Die entsprechenden Passagen, die einen guten Teil des Buches ausmachen, sind gewissermaßen ein Grundkurs in koptischer Kirchengeschichte, der aber nicht losgelöst von der Geschichte der jüngsten Martyrer ist, sondern eine spezifische Bedeutung für sie gewinnt und darüber hinaus für Leser, die der römischen oder westlichen Kirche angehören, eine gewisse Brisanz bekommt.
Die Bedeutung für das Martyrium der Einundzwanzig besteht darin, dass die Geschichte einer Kirche, die eintausendvierhundert Jahre im Zustand der Verfolgung lebte, als mentales Fundament jener frappierenden Bereitschaft zum Martyrium, die den Einundzwanzig und ihren Angehörigen anscheinend ganz selbstverständlich war, erkennbar wird. Die koptische Kirche ist die «Kirche der Martyrer», wie der Metropolit von Samalout Mosebach beschied (59), und Verfolgung und Martyrium gehören nicht einer fernen Vergangenheit an, sondern dem Erfahrungshorizont der Lebenden. Die Brisanz der kirchengeschichtlichen Exkurse für Angehörige der römischen oder westlichen Kirche liegt darin, dass ihnen eine heute demographisch junge und «enthusiastische» (191) Kirche vor Augen geführt wird, deren leidgeprüfte Festigkeit «ein Geschenkt für die Welt und die ganze Christenheit» ist. In Mosebachs Worten: «Die koptische Kirche hat in ihrer Abgeschlossenheit die Eigenschaften der frühen Christenheit rein bewahrt. [...] Was die lateinische Welt in den Jahrhunderten ihrer freien Entfaltung gewonnen und was sie schließlich wieder verloren hat, eine erregende Geschichte von Aufstieg und Fall – es wirkt seltsam blaß, wenn man auf die Kopten sieht, die geblieben sind, was sie waren, und die deshalb den Ausgangspunkt der christlichen Religion immer im Blick behalten haben» (188). Indem Mosebach einige dieser «Eigenschaften» der koptischen Kirche benennt und beschreibt, ihre formenreiche und ausgedehnte, in den Alltag eindringende Liturgie (163ff), ihr Geltenlassen von Tradition, Hierarchie und Autorität (191ff), bietet sein Bericht über die «Reise ins Land der koptischen Märtyrer» mehrfach Anlass, über den Weg, den Zustand und die Zukunft der westlichen Kirche nachzudenken.