KontemplationZum aktuellen Heft von COMMUNIO

Francisco de Zurbarán, Heiliger Franziskus im Gebet
Francisco de Zurbarán, Heiliger Franziskus im Gebet © Wikimedia Commons/gemeinfrei

Erstmals in ihrer gut fünfzigjährigen Geschichte befasst sich eine Ausgabe dieser Zeitschrift mit dem Thema Kontemplation. Folgt man der Lehre des heiligen Thomas von Aquin in der Deutung Josef Piepers, dann ist der Mensch «von solcher Beschaffenheit, dass er sein Wesen am reinsten darlebt als ein Sehender: in der Kontemplation.» Wenn diese Rede aber wahr ist, so fährt Pieper fort, «dann bedeutet sie für den durchschnittlichen Menschen dieser unserer Zeit nicht weniger, als dass er ‹sein Leben ändern› müsse.»1 Damit stellt sich nicht nur die Frage nach dem, was Kontemplation ist, sondern auch, ob es so etwas wie eine kontemplative Übung, eine kontemplative Lebensform gibt, die Menschen unserer Zeit hilft, Sehende zu werden.

Simon Peng-Keller stellt im ersten Beitrag die gemeinantiken Quellen der Kontemplation vor und zeigt, dass mit der Herausbildung einer kontemplativen Praxis im frühen Christentum von einer platonischen Überfremdung der biblischen Botschaft nicht die Rede sein kann. Im allgemeinen Sprachgebrauch der griechisch-römischen Antike bezeichnete theōria «eine weitverbreitete, im kultischen Kontext verortete spirituelle Praxis: die visuelle Partizipation am Heiligen. Zu dieser gehörte auch eine Pilgerreise, das Heraustreten aus der alltäglichen Lebenswelt, welches es ermöglichte, in einen liminalen Zeitraum einzutauchen und sich auf einen transformativen Prozess einzulassen. Den Höhepunkt bildete die schauende Teilnahme an einer religiösen Feier. […] Als gemeinantike Praxis ist kultische Kontemplation auch biblisch belegt: als Pilgerreise nach Jerusalem, die von der Sehnsucht geleitet wird, am dortigen Heiligtum Gott zu ‹schauen› (Ps 84, 8; 42, 2f).» Die antike Vorstellungswelt kennt keine scharfen Grenzen zwischen Ideellem und Materiellem. «Die göttliche Wirklichkeit erscheint als Tiefendimension dessen, was sinnlich wahrnehmbar ist.» In den kontemplativen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden die drei Grundgestalten der Kontemplation neu erschlossen: die Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes in der (1) liturgischen Kontemplation, (2) in den vielfältigen Formen der Meditation und (3) im Heraustreten aus vertrauten Lebensformen.

Ludger Schwienhorst-Schönberger geht auf die zweite der von Peng-Keller angeführten Praxisformen näher ein. Ausgehend von der ursprünglich engen Verbindung von Lesung der Heiligen Schrift (lectio), Meditation, Gebet und Kontemplation in der Scala Claustralium (12. Jh. n. Chr.) zeigt er, wie sich in der spätmittelalterlichen Wolke des Nichtwissens die Kontemplation als eine eigenständige Übungsform etablierte. Er stellt die wesentlichen Elemente der kontemplativen Übung vor und plädiert dafür, diesen ebenso offenen wie anspruchsvollen Weg geistiger Übung im Rahmen moderner und spätmoderner Lebensformen innerhalb wie außerhalb der Kirche neu zu entdecken.

Eine der wohl maßgeblichsten Gestalten innerhalb der zeitgenössischen kontemplativen Bewegungen ist der Dominikaner Meister Eckhart (1260–1328). Reiner Manstetten zeigt anhand einer dichten Auslegung von Texten dieses «Lehrers der Kontemplation», wie eine sich auf ihn berufende kontem-plative Praxis zu verstehen ist: «Gebet als Ledigwerden bedeutet, dass sich das Gemüt von der Macht alles dessen, was von außen oder durch Stimmungen, Gefühle und Gedanken das Bewusstsein besetzt, zu lösen vermag. Versunkensein ist der dem ledigen Gemüt entsprechende Zustand – man könnte sagen: sein wesentlicher Bewusstseinszustand. Diese Versenkung lässt es aus allem, was das persönliche Ich ausmacht, herausgehen, sie löst es vom Eigenwillen und öffnet es für das, was aus dem Innersten einfließt: den liebsten Willen Gottes.»

Kristina Kieslinger stellt die vor allem in den USA äußerst einflussreiche Praxis des von dem Trappisten Thomas Keating (1923–2018) (neu) entdeckten Centering Prayer vor. Sie zeigt, wie Keating in den turbulenten nachkonziliaren Suchbewegungen diese einfache und zugleich tiefe transformative Gebetspraxis für sich und seine Ordensgemeinschaft neu entdeckte und damit vielen suchenden Zeitgenossen einen Zugang zur kontemplativen Lebensform – innerhalb wie außerhalb einer monastischen Gemeinschaft – ermöglichte.

Alexander Löffler SJ stellt zwei kirchliche Dokumente vor, die sich mit der Frage nach Möglichkeiten der Integration nichtchristlicher Meditationsformen in die christliche Gebets- und Glaubenspraxis befassen. Eines der Dokumente plädiert für das intrareligiöse Dialog-Modell, «das beherzte Hinübergehen und Eintauchen in die Glaubenslehre und Glaubenspraxis einer anderen religiösen Tradition.» Dabei «wird der Versuch unternommen, in den Schuhen des Anderen zu gehen und seine Welt von innen heraus selbst zu erkunden und zu erleben – soweit dies möglich und gewollt ist.» Diese Form des intrareligiösen Dialogs, der in kirchlichen Dokumenten als «Dialog der religiösen Erfahrung» firmiert, so Löffler, «ist ohne Frage anspruchsvoll und herausfordernd, für die Praktizierenden in spiritueller Hinsicht aber zugleich auch sehr gewinnbringend, weil sie eine direkte Teilhabe an der Geisterfahrung der Anderen ermöglicht.» Bei diesem «inneren Dialog kommt es zu einem fortschreitend tieferen Verständnis beider religiöser Weltsichten. […] Wenn nun Zazen praktizierende Christen mit fortschreitender Übung und ersten Satori-Erlebnissen lieber und bevorzugt vom transpersonalen statt vom personalen Charakter des Göttlichen sprechen oder das Verhältnis von phänomenaler und absoluter Wirklichkeit nondualer begreifen als zuvor, dann muss in solchen Verschiebungen nicht gleich eine Deformation oder Infragestellung des authentischen christlichen Gottesverständnisses gesehen werden.»

Hans Urs von Balthasar hatte schon in den 1950er Jahren den Verlust der Kontemplation in Theologie und Kirche beklagt. Damals gründete er eine Publikationsreihe mit dem Titel Adoratio («Anbetung»), die er mit seinem viel gelesenen Buch «Das betrachtende Gebet» (1955) eröffnete. Als dann in den 1970er Jahren eine breite Meditationswelle katholische Bildungshäuser und Klöster erfasste, sah er sich allerdings zu einem scharfen Protest herausgefordert und sprach von «Meditation als Verrat». Karl-Heinz Menke stellt die philosophischen und theologischen Hintergründe des von Balthasar erhobenen Einspruchs vor und erörtert deren Validität. In Anspielung an ein viel zitiertes Wort Karl Rahners schreibt Menke: «Ob der Christ auch erfährt, was er glaubt, entscheidet nicht über die Qualität seines Christseins. Ein Christ kann Mystiker sein oder nicht. In der Regel ist er es nicht. Entscheidend ist sein Gehorsam gegenüber dem in Christus geschichtlich konkret handelnden und anredenden Gott.»

Seit einigen Jahren beobachten wir bei jungen Leuten ein neues Interesse an Formen der Stille und des Gebetes «vor dem ausgesetzten Allerheiligsten.» Andreas Bieringer gibt einen Einblick in diese Bewegung und zeigt, dass sich die Liturgiewissenschaft mit dieser neuen Suche nach religiösem Erleben im Rückgriff auf traditionelle Formen der Anbetung schwer tut: «Nightfever, wo junge Menschen in dunklen Kirchen bei Kerzenlicht schweigend auf die ausgesetzte Hostie schauen, stößt bei liberalen Stimmen auf Skepsis. Ihnen erscheint diese Praxis häufig als ein liturgischer Rückschritt, der die persönliche Innerlichkeit über die gemeinschaftliche Beteiligung am Gottesdienst stellt.» Andreas Bieringer empfiehlt seinen Kollegen, diese Entwicklungen mit Nüchternheit und Offenheit zu begleiten und falsche Frontstellungen zu überwinden. Er fragt «aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive nach der heutigen Bedeutung der eucharistischen Anbetung und nach Brücken zum kontem-plativen Gebet.» Was aus Sicht der Liturgiewissenschaft nicht selten als «Schaufrömmigkeit» kritisiert wird, erweist sich dem historisch versierten Kenner als einer der Ursprünge kontemplativer Praxis. Aktive Teilnahme (participatio actuosa) an der Liturgie bleibt äußerlich, wenn sie nicht von innerer Anteilnahme begleitet wird. So können «Formen kontemplativen Betens Brücken zwischen der äußeren und der inneren Dimension des Gottesdienstes eröffnen.»

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