Politik kann den Menschen nicht erlösenZur politischen Identität der Christdemokratie

Die Union tut sich im Moment schwer damit, über die Tagesaktualität hinauszudenken. Dabei wäre es wichtig für die Christdemokratie, ihr Profil wiederzuentdecken. Dass sie keine utopischen Entwürfe zu bieten hat, ist dabei kein Hindernis, sondern macht eigentlich ihre Stärke aus.

Konrad-Adenauer-Haus Berlin
© CDU / Tim Hoffmann

Mit welcher strategischen Grundsatzfrage auch immer die deutsche Christdemokratie konfrontiert wird, sie zeigt sich im Umgang mit ihr unrühmlich überfordert. Dass die Union im dritten Jahr nach der katastrophalen Performance rund um die Bundestagswahl 2021 hier weder inhaltlich noch strategisch erkennbare Fortschritte vorzuweisen hat, offenbart ihr eigentliches Tiefenproblem: strukturelle Orientierungslosigkeit.

Nun ist die These einer jahrelangen Verdrängung inhaltlicher Selbstvergewisserungsarbeit unter den Merkel-Jahren eher eine politologische Binsenweisheit. Die Grenzen zwischen notwendiger Anpassungsfähigkeit an strukturelle Veränderungen einerseits und Opportunismus um des Friedens willen andererseits sind verschwommen. Friedrich Merz sollte es im dritten Anlauf richten und die CDU gleichzeitig profilieren und einen. Über Führungsstile lässt sich streiten. Der klare Kompass mag vom gegenwärtigen Generalsekretär zwar energisch beschworen werden, doch die Partei auf eine verlässliche Position festzunageln, gestaltet sich schwierig – von Personalfragen ganz zu schweigen.

Die intellektuelle Reflexion von Politik hat sich verflacht

Man kann die Pflege des eigenen intellektuellen Unterbaus in sämtlichen politischen Parteien grundsätzlich kritisch betrachten. Allgemein hat sich, wenn der Schein nicht trügt, die intellektuelle Reflexion von Politik grundsätzlich verflacht. Man muss dem ehemaligen zurückgetretenen Vorsitzenden der CDU-Grundwertekommission, Andreas Rödder, mitnichten in allen Positionen zustimmen. Der Professor für Zeitgeschichte besitzt allerdings eine handwerkliche Fähigkeit, die kaum noch honoriert wird: Er kann tiefgehende Fragen zum Werte- und Paradigmenwandel in Politik und Gesellschaft zwischen zwei Buchdeckeln analysieren. Damit stand er in asymmetrischer Konkurrenz zu jenen, die das Zeitgeschehen in berechenbarer Manier zur Tag- und Nachtzeit im Twitter-Schlagwortformat mit 280 Zeichen kommentieren können. Sein Rücktritt mag inhaltlich durch seine auf vielerlei Ebenen unsensiblen Aussagen zu möglichen Tolerierungskonstellationen geschuldet sein. Formal wird sich die Erkenntnis eingestellt haben, dass die Union kaum willig und fähig ist, über das operative Geschäft hinaus größere Linien des politischen Nachdenkens zu kultivieren.

Den aktuellen und künftigen Herausforderungen wird die Union weder durch strategische Kasuistik noch durch Rückfall in die Welt polemischer Reflexe eines in die Jahre gekommenen Besitzstandsbürgertums gerecht werden.

Das ist ein prekärer Zustand. Den aktuellen und künftigen Herausforderungen wird die Union weder durch strategische Kasuistik noch durch Rückfall in die Welt polemischer Reflexe eines in die Jahre gekommenen Besitzstandsbürgertums gerecht werden. Ihr Erfolg steht und fällt mit dem Bewusstsein ihrer genuinen politischen Herkunft und Identität. Was die Christdemokratie – nicht nur in Deutschland – mehr als nötig hat, ist ein Ressourcement, eine Besinnung auf die Quellen und eine organische Beziehung zum Grund der eigenen politischen Existenz. Darin liegt gar ihre politisch-philosophische Sonderstellung im Parteiensystem. Sie verfügt im Vergleich zu den etablierten politischen Mitbewerbern über keine deduzierbare, leichtfertig in Schlagworte übersetzbare, Ideologie.

Sozialistische Bewegungen fundieren mehr oder weniger auf der marxistischen Idee einer sukzessiven Egalisierung der Gesellschaft. Parolen wie "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" definieren noch keinen verbindlichen Inhalt, aber sie bilden ein konsistentes und erfolgreiches Narrativ. Die liberale Agenda in ihrer Betonung individueller Freiheiten mag gegenwärtig zwar an einem Überzeugungsproblem leiden, an grundsätzlicher Erklärbarkeit mangelt es ihr dennoch nicht. Für grüne Bewegungen ist das Streben nach einem buchstäblichen ökologischen Heilszustand konstitutiv, nach welchem sich gute Politik zu messen habe. Und die Neurechten sehen die Lösung wesentlicher Probleme in einer völkischen Homogenität, die ihnen sämtliche Unordnung stiftende Herausforderungen vermeintlich vom Leibe hält. All diesen politischen Strömungen liegt eine utopische Grundgrammatik zugrunde. Sie alle sind im eigentlichen Sinne progressiv, weil sie ihren Sinngehalt von einem angestrebten Zustand her empfangen, den zu erreichen das höchste Ziel ihres ideologischen Fundaments ist. Damit können sie auf pathetische und ästhetisierbare Motive und Narrative zurückgreifen.

Was die Überforderung der Christdemokratie mit der Krise der Kirchen zu tun hat

Auf welches Narrativ sollte nun die Christdemokratie zurückgreifen? Gegen das ästhetische Pathos von Fortschritt, Freiheit, Gerechtigkeit kann sie nicht mithalten. Die Christdemokratie verliert sich selbst, wenn sie sich auf Schlagwortdebatten einlässt. Sie hat ihrem eigenen Selbstverständnis nach schlichtweg keine Parolen zu bieten; versucht sie sich trotzdem daran, wird es schnell reaktionär.

Ihren ideologischen Unterbau bilden keine eindeutig deduzierbaren Ideen oder Begriffe. Sie lebt, mehr als andere politische Strömungen, aus der organischen Beziehung zu ihren Wurzeln, den dahinterstehenden Erfahrungen, Überzeugungen und Biografien. Sie kann sich daher auch niemals "neu erfinden", ohne dass sie sich gleichzeitig fundamental von sich selbst entfremden würde. Sie kann sich lediglich immer wieder neu von ihrer Herkunft ausgehend in die gegenwärtige Zeit hinein aktualisieren. Das macht im Übrigen auch ihren "Konservativismus" aus. Nicht das Hängen am Kontingenten und Gewohnten macht sie konservativ, sondern das Bewusstsein, dass sich Identitäten nicht einfach neu verhandeln lassen, ohne dabei das Verständnis ihrer selbst zu riskieren.

Hierin ist auch das genuin Christliche der Christdemokratie zu vermuten: Es liegt in der grundlegenden Überzeugung, dass der Mensch und die Gesellschaft, die er formt, auf keinen systemischen Entwurf der Welt zurückgeführt werden kann oder auf eine wie auch immer verstandene politische Ordnung hingeordnet werden darf. Das legitimiert im Umkehrschluss keinen in Gestaltungs- und Ideenverweigerung mündenden Fatalismus. Zu oft diente in den letzten 20 Jahren der vorgeschobene Pragmatismus als Euphemismus für weitgehenden ideologischen Opportunismus.  Christdemokratie gründet in der Überzeugung, dass die Politik den Menschen nicht erlösen kann. Bedenkt man die Überforderung der Kirchen, die Grundüberzeugung sprachfähig zu halten, dass das zentrale Erlösungswerk bereits von jemandem anderen vollbracht worden ist, so lässt sich den Eliten der Union kaum ein qualifizierter Vorwurf machen. Vielleicht hängt die identitäre Überforderung der Christdemokratie mit der identitären Krise der Kirchen stärker zusammen, als beide intuitiv vermuten würden.

Die Gründung der CDU fußt auf der Erfahrung des moralischen Zusammenbruchs utopischer Erlösungssysteme und der Überzeugung, dass utopische Systeme in unterschiedlichem Ausmaß die Wirklichkeit des Menschen verfehlen.

Die Gründung der CDU fußt auf der Erfahrung des moralischen Zusammenbruchs utopischer Erlösungssysteme und der Überzeugung, dass utopische Systeme in unterschiedlichem Ausmaß die Wirklichkeit des Menschen verfehlen. Ihre gesellschaftspolitische Ausrichtung fand sie nach 1945 in der kirchlichen Soziallehre. Ihr politisches Menschenbild trug ideengeschichtlich Züge des philosophischen Personalismus – einer christlich orientierten, realistischen Anthropologie. Diese Orientierung gilt es heute wiederzuentdecken. Auf dem Markt zunehmender politischer, weltanschaulicher, posthumanistischer Überbietungskämpfe in Sachen Erlösungskompetenz bestünde ihre Rolle daher in einer diesbezüglich desillusionierenden Sachlichkeit. Sie darf sich in keiner Weise von den Parolen links und rechts provozieren, locken oder beeindrucken lassen. Solange die CDU weiß, wer sie ist, wird sie auch in problematischen parlamentarischen Konstellationen Verantwortung mittragen können, ohne sich daran zu zerreiben.

Gerechtigkeit, Ökologie, individuelle Entfaltungsräume, identitätsstiftende Grundlagen einer Gemeinschaft – nichts steht absolut für sich, nichts darf gegen das andere ausgespielt werden, alles gehört integral zum politischen Geschäft. Alles zusammenzudenken nennt man Verantwortung. In Zeiten sich bahnbrechender, destruktiver Kulturkämpfe braucht es eine integrale Vernunft in der Politik mehr denn je. Und dabei gilt vor allem anderen eines: Politik verhandelt nicht die letzten, sondern lediglich die vorletzten Fragen des Menschen. Diese entscheidende Klarstellung muss eine christdemokratische Partei gegenüber dem Bürger immer wieder wiederholen.

Ihre zentrierende Dimension ist daher eine zweifache: Horizontal entzieht sie sich den Extremen politischer Ränder. Vertikal hält sie das Bewusstsein am Leben, dass der Mensch einen Transzendenzbezug hat und in den Weltbezügen nicht absolut aufgeht. Diese Form von politischem Zentrismus erdet und hebt gleichermaßen.

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