Auf der schiefen EbeneBeschlüsse zum Schwangerschaftsabbruch als gefährliche Türöffner

Beim Deutschen Ärztetag wurden vier Beschlüsse zum Schwangerschaftsabbruch gefasst – mit teils gegensätzlichen Stoßrichtungen. Besorgniserregend ist der tiefgreifende Wertewandel, der im Hintergrund sichtbar wird – und der auch auf die Debatte um die Sterbehilfe ausstrahlen könnte.

Luftballon mit der Aufschrift
© Unsplash

Der Umstand, dass sich der gerade zu Ende gegangene 129. Deutsche Ärztetag in Leipzig unter anderem auch mit Fragen des Schwangerschaftsabbruchs beschäftigt hat, ist aus zwei Gründen ebenso wenig überraschend wie bedeutsam. Erstens geht der massive gesellschaftliche Wertewandel mit seiner Begünstigung immer entgrenzterer Vorstellungen individueller Selbstbestimmung auch an den Repräsentanten der Gesundheitsberufe nicht spurlos vorbei. Und zweitens sind die Ärztinnen und Ärzte direkt für die fachgerechte Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verantwortlich, so dass sie zwangsläufig ein Interesse an transparenten Regelungen dieses besonders sensiblen Themas haben.

Entgegen der massenmedialen Berichterstattung, die fälschlicherweise den Eindruck erweckt, als lasse sich die Positionierung der Delegierten auf nur eine einzige Forderung reduzieren, ist zunächst einmal zu betonen, dass dort vier verschiedene Beschlussanträge zum Thema Abtreibung angenommen wurden, die im Wesentlichen zwei unterschiedlich akzentuierte Stoßrichtungen besitzen.

Vier Beschlussanträge

Der erste, vom Vorstand der Bundesärztekammer eingebrachte und mit großer Mehrheit angenommene Antrag fordert "die politisch Verantwortlichen auf, die Debatte um die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs mit Augenmaß zu führen", wobei "Ausgangspunkt aller Reformüberlegungen … aus ärztlicher Sicht [sein müsse], sowohl das Recht der Frauen auf reproduktive Selbstbestimmung als auch das Recht des Ungeborenen auf Leben zu beachten". Gegenüber der einseitigen Perspektive der von der früheren Ampelregierung eingesetzten Kommission, die das Lebensrechtes des Nasciturus völlig marginalisierte, ist hier zunächst einmal anzuerkennen, dass man sich weder diesen extremen Reduktionismus noch die daraus abgeleiteten normativen Konsequenzen einfach unkritisch zu eigen macht.

Statt die weibliche Verfügungsmacht über das Kind über den derzeitigen rechtlichen Status quo bis hin zur extrauterinen Lebensfähigkeit auszuweiten, fordert dieser Antrag dazu auf, die derzeit "im Rahmen der Beratungsregelung geltende Fristenlösung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche post conceptionem … beizubehalten" und für eine "flächendeckende Bereitstellung qualifizierter Beratungs- und Hilfsangebote für Frauen in Schwangerschaftskonfliktsituationen" zu sorgen. Beides ist wichtig: Da im gegenwärtigen Regelungsmodell die zielorientierte – wenn auch selbstverständlich ergebnisoffene – Pflichtberatung der wichtigste Baustein zum Schutz des Lebens des Kindes ist, kommt es entscheidend darauf an, ein wirklich qualitativ hochwertiges Beratungsangebot vorzuhalten und auskömmlich zu finanzieren. Nicht weniger bedeutsam sind konkrete sozial- und familienpolitische Hilfsangebote, die es Betroffenen in ökonomischen Notlagen oder prekären Beziehungskonstellationen überhaupt erst ermöglichen, sich auch in schwierigen Situationen für ihr Kind zu entscheiden.

"Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren"

Einen deutlich anderen Akzent setzen drei weitere Beschlussanträge, die den derzeitigen rechtlichen Status quo ausdrücklich problematisieren. Unter der Überschrift "Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren" fordert ein zweiter – mit noch größerer Mehrheit angenommener – Antrag "die politisch Verantwortlichen dazu auf, eine zeitgemäße Anpassung des Abtreibungsrechts zügig umzusetzen". Konkret wird verlangt, der Gesetzgeber möge "Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch unter Beibehaltung der Beratungspflicht für betroffene Frauen außerhalb des Strafgesetzbuches treffen". Begründet wird diese Forderung damit, dass eine Handlung allein dadurch, dass sie im Strafrecht verortet sei, eine problematische Wirkung erziele: sie werde "als rechtswidrig, unmoralisch und gesellschaftlich nicht akzeptiert wahrgenommen". Die Entkriminalisierung entlaste sowohl Schwangere als auch Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und könne "so zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Schwangeren führen".

In dasselbe Horn stößt ein dritter Antrag, der die "im aktuellen Koalitionsvertrag … formulierte Absicht zur Verbesserung der Versorgung ungewollt Schwangerer zur Kenntnis" nimmt und die Bundesregierung dazu auffordert, "diesen Ankündigungen verbindlich Taten folgen zu lassen", wofür eine "gesetzliche Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches … unumgänglich" sei.

Da die hier ins Feld geführten rechtlichen Unsicherheiten und Risiken in Ermangelung entsprechender Strafverfahren objektiv gar nicht existieren, drängt sich der Eindruck auf, dass es weniger einer Gesetzesänderung als vielmehr einer juristischen Fortbildung für diejenigen Ärztinnen und Ärzte bedarf, die mit der herrschenden Rechtslage offenkundig nur von Ferne vertraut sind.

Im Blick auf die in beiden Anträgen zentrale Forderung der Entkriminalisierung ist zunächst einmal nüchtern festzustellen, dass diese auf einem (politisch gezielten?) Missverständnis der herrschenden Rechtslage beruht. Bekanntlich formuliert § 218 StGB den strafbewährten Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs, der in der Realität im Wesentlichen nur noch dann relevant ist, wenn der Täter "gegen den Willen der Schwangeren handelt oder leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht" (Abs. 2). In § 218 a StGB heißt es dagegen ausdrücklich, dass der strafbewährte Tatbestand des § 218 StGB "nicht verwirklicht [ist], wenn 1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und 3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind".

Unter diese Bestimmung fallen derzeit ca. 96 % aller Abbrüche, bei denen weder die Schwangeren selbst noch die den Abbruch vornehmenden Ärztinnen und Ärzte irgendwelche rechtlichen Sanktionen zu befürchten haben. Die restlichen Fälle fallen unter die in Deutschland auch im internationalen Vergleich extrem weit gefasste medizinische und die kriminologische Indikation, die in Abs. 2 und Abs. 3 ausdrücklich als "nicht rechtswidrig" qualifiziert werden.

Da die hier ins Feld geführten rechtlichen Unsicherheiten und Risiken in Ermangelung entsprechender Strafverfahren objektiv gar nicht existieren, drängt sich der Eindruck auf, dass es weniger einer Gesetzesänderung als vielmehr einer juristischen Fortbildung für diejenigen Ärztinnen und Ärzte bedarf, die mit der herrschenden Rechtslage offenkundig nur von Ferne vertraut sind.

Es bleibt ein zwiespältiger Eindruck

Man möchte dem Schwangerschaftsabbruch endlich den Charakter einer normalen Gesundheitsleistung beilegen, obwohl dies der Teleologie ärztlichen Handelns widerstreitet.

Tatsächlich dürfte die populäre Entkriminalisierungs-Forderung jedoch gar nicht primär auf den juristischen, sondern auf den vorgelagerten moralischen Bereich abzielen: Man möchte dem Schwangerschaftsabbruch endlich den Charakter einer normalen Gesundheitsleistung beilegen, obwohl dies der Teleologie ärztlichen Handelns widerstreitet. Genau darauf zielt die Forderung der "gesellschaftlichen Entstigmatisierung" eines vierten Antrags mit dem Titel "Schwangerschaftsabbruchs aus ärztlicher Perspektive", der jedoch insofern nur mit einer gewichtigen Änderung beschlossen wurde, als die – der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widersprechende – entscheidende Begründung für den Vorrang der weiblichen Selbstbestimmung vor dem Lebensrecht des Kindes im ersten Trimenon keine Mehrheit gefunden hat.

Überschaut man die einzelnen Anträge in ihrer Gesamtheit, dann bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Auch wenn die Radikalität der Vorschläge der 2024 vorgelegten Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin von der verfassten Ärzteschaft ganz offensichtlich nicht geteilt wird, zeichnen sich doch deutliche Veränderungen in ihrem professionsethischen Selbstverständnis ab, die umso besorgniserregender sind, als sei kaum auf den Bereich des Umgangs mit dem vorgeburtlichen Leben beschränkt bleiben. Sogenannte liberale Regelungen im Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen wirken mittel- und langfristig als Türöffner auch für entsprechende Lockerungen im Bereich der Sterbehilfe, da der Preis ihrer Rechtfertigung die massive Umdeutung unserer zentralen moralischen Orientierungsbegriffe – von der ‚Autonomie‘ über die ‚Gerechtigkeit‘ bis hin zur ‚Menschenwürde‘ – ist. Deswegen ist hier äußerste Wachsamkeit geboten.

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen