In den vergangenen 15 Jahren habe ich mich immer wieder gefragt, was Michel Foucault wohl denken würde, wenn er in einer pastoraltheologischen oder moraltheologischen Zeitschrift zufällig eine Variante des nachfolgenden Leitsatzes lesen würde:
"Das römisch-katholische Lehramt betreibt Fundamentalopposition gegen das humanwissenschaftliche Wissen über die Vielfalt menschlicher Geschlechtlichkeit."
Würde Rauch aufsteigen aus seinem Grab? Würde der mit "Professeur Michel Foucault" beschriebene Grabdeckel verrutschen, unter dem der Wegbereiter spätmoderner Gender-Studies neben seinem katholischen Vater beerdigt liegt?
Das Paradox der Humanwissenschaften
Im Brennpunkt von Foucaults Studien zur Geschichte der Sexualität steht das Paradox "humanwissenschaftlicher Vernunft", das Foucault bereits in seinem frühen Hauptwerk Die Ordnung der Dinge (1966) beschäftigte: Das Paradox, dass die modernen Humanwissenschaften, indem sie ein Bild des Menschen konstruieren, zugleich die Wirklichkeit hervorbringen, die sie zu beschreiben vorgeben.
Der berühmteste Satz Foucaults steht in der letzten Zeile dieses Werks. Er prognostiziert, der Mensch werde verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." Man versteht diesen Satz allerdings falsch, wenn man ihn auf den real existierenden Menschen bezieht. Er bezieht sich nicht auf ein prosaisches Wesen wie du und ich, sondern auf ein theoretisches Konstrukt: "den Menschen" als Gegenstand vermeintlich wertneutraler wissenschaftlicher Disziplinen. Dieses Konstrukt, so Foucault bereits 1966, wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.
Als Schüler von Descartes und Newton fällt es uns schwer, die Tragweite dieser desillusionierenden Einsicht zu fassen. Es ist leicht, die Fiktion einer wertneutralen Wissenschaft aufrechtzuerhalten, solange der wissenschaftliche Beobachter, wie bei der klassisch newtonschen Physik, nicht selbst Teil der Welt ist, die er oder sie beobachtet. Doch selbst die Quantenphysik lässt diese Unterstellung heute als fragwürdig erscheinen.
Wenn der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung identisch ist mit dem beobachtenden Subjekt, weil dieses zugleich Akteur im zu beobachtenden Forschungsfeld ist, sind wir nicht länger in der Position neutraler Beobachter.
In den weniger beobachterneutralen Humanwissenschaften zeigt sich, was daran problematisch ist. Wenn der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung identisch ist mit dem beobachtenden Subjekt, weil dieses zugleich Akteur im zu beobachtenden Forschungsfeld ist, sind wir nicht länger in der Position neutraler Beobachter. Willentlich oder unwillentlich werden wir zu Akteuren, die die Verhaltensweisen hervorbringen, die sie zu beschreiben vorgeben und dabei Machkalküle bedienen, die Formen biopolitischer Verhaltenssteuerung zuarbeiten.
Es gibt demzufolge eine gerade Linie, die von Foucaults wissenschaftsgeschichtlichem Frühwerk zu den machtkritischen Studien der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre führt. All diese Schriften drehten sich um das performative Paradox, dass dann entsteht, wenn man Teil der Welt ist, die man beobachtet und auf diese Weise daran mitwirkt, die Welt zu erzeugen, die man neutral zu beschreiben vorgibt.
Die sexuelle Insektenkunde des 19. Jahrhunderts
Exemplarisch für Foucaults machtkritisches Spätwerk ist eine Passage aus dem ersten Band seiner "Geschichte der Sexualität." Foucault erinnert dort an "jene kleinen Perversen, die die Psychiater des 19. Jahrhunderts wie Insekten aufreihen und auf seltsame Namen taufen: Es gibt die Exhibitionisten von Lasegue, die Fetischisten von Binet, die Zoophilen und Zooerasten von Krafft-Ebing, die Auto-Monosexualisten von Rohleder; es wird die Mixoskophilen, die Gynekomasten, die Presbyophilen, die sexoästhetisch Invertierten und die dyspareunistischen Frauen geben" (59).
Foucault beschäftigt sich in dieser Passage nicht mit der Frage, ob die Insektenkunde der frühen Psychiatrie eine empirische Wirklichkeit beschreibt. Ihn interessiert vielmehr die machtpolitische Agenda, die Menschen antreibt, wenn sie penible Klassifizierungssysteme erstellen, um anschließend identitäts- oder psychopolitische Normabweichungen in der "Mikropolitik des Alltags" aufzuspüren.
Die "humanwissenschaftliche Vernunft" des 19. und 20. Jahrhunderts war Katalysator von Technologien biopolitischer Verhaltenssteuerung, die Menschen dazu anleiteten, sich selbst und einander wechselseitig zu überwachen und zu disziplinieren.
Foucaults berühmte These, dass das 19. Jahrhundert eine biopolitische Diskurspolitik heraufbeschwor, die die schwarz gewandeten Priester des ancien régime durch die weißen Priester einer humanwissenschaftlichen Pastoralmacht ersetzte, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die "humanwissenschaftliche Vernunft" des 19. und 20. Jahrhunderts war Katalysator von Technologien biopolitischer Verhaltenssteuerung, die Menschen dazu anleiteten, sich selbst und einander wechselseitig zu überwachen und zu disziplinieren: Bin ich bereits auf dem Weg, mich in einen Exhibitionisten zu verwandeln? Und mein Freund von nebenan, ist der vielleicht schon ein typischer Widergänger des Fetischisten von Binet? Sollte ich vielleicht eine pastorale Autorität aufsuchen, um meine kleinen Sünden zu gestehen und meiner Sorge um meinen Nächsten Ausdruck zu verleihen – einen Arzt, einen Psychiater oder auch, sofern ich mir professionelleren Rat nicht leisten kann, den ortsansässigen Pfarrer?
Klassifizierungsexzesse
Das führt mich zurück zu meinem Ausgangsproblem, zum "humanwissenschaftlichen Wissen über die Vielfalt menschlicher Geschlechtlichkeit." Es ist nicht leicht, über die Komplexität dieser Vielfalt auf dem Laufenden zu bleiben. Diesbezügliche Glossare werden immer länger.
Wer sich bei den dort praktizierten Klassifizierungsexzessen an die aufgereihten Insekten aus Foucaults Monographie Der Wille zum Wissen erinnert, wird sich früher oder später fragen müssen, welche machtpolitische Agenda durch das angeführte humanwissenschaftliche Wissen bedient wird. Wer, durch das machtkritische Denken Foucaults sensibilisiert, der Aufforderung der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechen möchte, die "Zeichen der Zeit" zu lesen, sollte hier zweierlei im Blick haben:
Die spätmoderne Agenda, Menschen als cisgender, transgender, demigender, lesbisch, gay, bisexuell, pansexuell, asexuell, monoamor, polyamor und so weiter zu klassifizieren, hätte Foucault amüsiert. Doch als Wissenschaftler hätte er allenfalls das "+" im Kürzel LGBTQIA+ oder den Stern im Kürzel LSBTIQ* als Platzhalter für ein qualifiziertes philosophisches Problem durchgehen lassen.
Evolutionsgeschichtlich unstrittig ist, dass es Grenzfälle gibt, die die in unserer biologischen Natur fundierte Demarkationslinie zwischen Männern und Frauen verschwimmen lassen. Zugleich gilt der Satz des heiligen Thomas, Gratia supponit et perficit naturam: Gnade unterfängt und vollendet unsere Natur. Was die Natur heranreifen lässt, muss sich auch segnen lassen. Hier stellen wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte die Theologie vor Fragen, die Thomas von Aquin noch nicht im Blick hatte. Das sollte aber nicht dazu verleiten, die philosophische Besonnenheit zu verlieren und sich in die Agenden kopfloser Machtdispositive hineinziehen zu lassen.
In der amerikanischen Rezeption der Schriften Foucaults wurde die Praxis skeptischer "Zurückhaltung" ignoriert. So konnte sich der politische Aktivismus third-wave-feministischer und queer-theoretischer Denkerinnen und Denker hemmungslos mit ihrer humanwissenschaftlichen Forschungsarbeit vermischen.
Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass selbst philosophisch disziplinierte Denker wie Foucault an diesem – aus heutiger Sicht – neuralgischen Punkt einen blinden Fleck hatten. Foucault hatte Probleme, seinen Rang als "Professeur au Collège de France" zu rechtfertigen. Sägte seine Dekonstruktion der "humanwissenschaftlichen Vernunft" nicht an dem Ast, auf dem er selbst als Humanwissenschaftler saß? Foucault war sich dieser Problematik bewusst und reagierte darauf, indem er scharf zwischen seinen Aktivitäten als politischer Aktivist und seiner Forschungstätigkeit unterschied. Nicht ohne Grund fokussierte er in seiner professoralen Publikationstätigkeit so gut wie ausschließlich auf Forschungsfelder, die bereits Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurücklagen. Diese in der Phänomenologie begründete methodische "Zurückhaltung" (epoché) erlaubte ihm, das performative Paradox humanwissenschaftlicher Vernunft zu umgehen.
In der amerikanischen Rezeption seiner Schriften hingegen wurde die Praxis skeptischer "Zurückhaltung" ignoriert. So konnte sich der politische Aktivismus third-wave-feministischer und queer-theoretischer Denkerinnen und Denker hemmungslos mit ihrer humanwissenschaftlichen Forschungsarbeit vermischen. Das war fatal.
Sophismus statt Philosophie
Exemplarisch für diese abschüssige Bahn ist die wohl bekannteste Repräsentantin spätmoderner Gender-Studies, Judith Butler. Die feministische Philosophin Martha Nussbaum hat das Problem, das im Zuge von Butlers methodisch undisziplinierter Fortschreibung phänomenologischer Forschungspraxis aufbrach, präzise auf den Punkt gebracht. Unter der Überschrift "The Professor of Parody" fragte sie sich bereits 1999, ob Judith Butlers Werk noch zur philosophischen Tradition gehöre. Die amerikanische Aristotelikerin drückte sich vorsichtig aus, bezog aber doch klar Position. Sie vermutete, dass Butler nicht als Philosophin zu betrachten, sondern "den eng verwandten, aber doch dazu gegenläufigen Traditionen von Sophismus und Rhetorik zuzurechnen" sei.
Exemplarisch für die Tradition des Sophismus ist das Sorites-Paradox, das auch "Paradox des Haufens" genannt wird. Wie viele Sandkörner braucht man, um vor einem Sandhaufen zu stehen? 100 Körner? Und was, wenn da nur 99 oder gar 89 Körner liegen? Das lässt sich so weitertreiben, bis man vor dem letzten Sandkorn steht. Folglich, so schließt der Sophist, gibt es keine Haufen. Die spätmoderne Argumentation, Geschlechtlichkeit sei plural, weil es im Zwischenraum zwischen männlichen und weiblichen Lebewesen Unschärfen gibt, operationalisiert einen ähnlichen Sophismus. Dass man sich anschließend auf die Autorität der Humanwissenschaften beruft, macht das nicht besser. Mit gutem Grund wurde diese ausgerechnet von demjenigen Philosophen in Zweifel gezogen, den man heute als Begründer humanwissenschaftlicher Genderstudies feiert.
In der egalitären Kontrollgesellschaft
Das führt mich zurück zum machtkritischen Werk Foucaults. Welche machtpolitische Agenda hätte Foucault wohl hinter den Sophismen des 21. Jahrhunderts vermutet?
Wir bevölkern nicht mehr funktional differenzierte Institutionen, die unsere autonomen Entscheidungen durch biopolitische Normen reglementieren. Wir bewohnen jetzt ein fluides Netz, das unsere spontanen Triebregungen mittels digitaler Management- und Marketingtechnologien elastisch kanalisiert und synchronisiert.
Diese Frage lässt sich nicht beantworten, ohne an eine Notiz des berühmtesten philosophischen Weggefährten Michel Foucaults, Gilles Deleuze, zu erinnern, die dieser nach Foucaults Tod unter dem Titel "Notiz über die Kontrollgesellschaft" veröffentlicht hat. Wie Deleuze dort konstatiert, haben sich die Machtsysteme unserer Zeit verwandelt. Im Gegensatz zu den biopolitischen Disziplinargesellschaften von Foucaults Spätwerk, die von hierarchischen Institutionen und pastoralen Autoritäten regiert wurden, sind wir in einer egalitären "Kontrollgesellschaft" angekommen, die unserer Autonomie keinerlei Grenzen setzt.
Wir bevölkern nicht mehr funktional differenzierte Institutionen, die unsere autonomen Entscheidungen durch biopolitische Normen reglementieren. Wir bewohnen jetzt ein fluides Netz, das unsere spontanen Triebregungen mittels digitaler Management- und Marketingtechnologien elastisch kanalisiert und synchronisiert.
Nach Deleuzes Diagnose war der Aufstieg dieser neuen Macht bereits 1990 am allgegenwärtigen Zusammenbruch der institutionalisierten Strukturen klassischer Disziplinargesellschaften (Kliniken, Schulen, Gefängnissen, Kasernen, Kirchen, etc.) ablesbar:
"Jeder weiß, dass diese Institutionen am Ende sind, unabhängig davon, wie lange ihre Laufzeit noch dauert. Es geht nur noch darum, ihnen die letzte Ölung zu geben und die Menschen bis zur Installation der neuen Kräfte, die an die Tür klopfen, in Beschäftigung zu halten. Das sind die Kontrollgesellschaften, die dabei sind, die Disziplinargesellschaften zu ersetzen."
Aus heutiger Sicht – wir leben im Jahr 2025 – hat sich diese Prophezeiung mit schockierender Durchschlagkraft und Breitenwirkung bewahrheitet. Von daher entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass katholische Theologinnen und Theologen sich auf Foucault berufen, wenn sie sich an den klerikalen Hierarchien der Disziplinargesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts abarbeiten.
Die Mächte unserer Zeit erwarten von uns, dass wir uns unermüdlich – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – den unvorhersehbaren "Modulationen" eines globalen digitalen Netzwerks anpassen, das sich stündlich neu verformt.
Die neuen "Kontrollgesellschaften" bauen nicht mehr auf den stabilen "Einfriedungen" oder "Formen" hierarchischer Institutionen auf. Vielmehr erwarten die Mächte unserer Zeit von uns, dass wir uns unermüdlich – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche – den unvorhersehbaren "Modulationen" eines globalen digitalen Netzwerks anpassen, das sich stündlich neu verformt. Der weiß gewandete Priester der Foucault'schen Pastoralmacht, der für uns entscheidet, wie unsere Ernährung aussehen soll, wurde durch die Fitness-Tracking-App ersetzt; die Schule durch die allgegenwärtigen Ranking-Technologien sozialer Netzwerke, die unsere Verhaltensdispositionen mit den Vorhersagen künstlicher Intelligenzen abgleichen; das Gefängnis durch Shaming- und Cancellation-Policies in den Sozialen Medien.
Welches Verlangen treibt den Menschen in die eigenen Versklavung?
Foucault wäre der Erste gewesen, der diese Wende nüchtern protokolliert. Zugleich hätte er sich gefragt, welche soziale Dynamik die durch solche Umbruchserfahrungen provozierten Ängste wachrufen und sie mit früheren Umbrüchen wie dem Übergang von den juridisch regierten Gesellschaften der frühen Moderne zu den biopolitischen Disziplinargesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts verglichen.
Übergangsphasen wie diese lösten regelmäßig Foucaults berüchtigtes Staunen über die Instinktsicherheit aus, die Menschen in der Überzeugung, den Mächten dieser Welt zu trotzen, in ihre eigene Versklavung treibt.
Das führt mich zurück zu meiner Ausgangsfrage: Was würde Foucault wohl denken, wenn er heute einen theologischen Essay zur Geschlechtervielfalt lesen würde? Vermutlich würde ihn diese Lektüre an den Hölleneingang von Dantes Göttlicher Komödie erinnern. Dante befragt dort seinen heidnischen Führer Vergil über das rätselhafte Verlangen, das die Verdammten über den Höllenfluss Acheron ihrer eigenen Versklavung zu treiben scheint:
Und als ich weiterhin den Blick gelenkt,
Sah ich an einem großen Strom sich scharen
Viel Volk, und fragte: "Herr, warum gedenkt
Der Schwarm eilfertig durch den Strom zu fahren?
Was sind sie und was treibt sie? Deute mir,
Was ich nur schlecht im Zwielicht kann gewahren."
"Mein Sohn," der Meister gütig sprach, "sie alle,
Die unter Gottes Zorn dahingegangen,
Strömen hierher vom ganzen Erdenballe
Und eilen fluthinüber zu gelangen,
Gespornt von ewiger Gerechtigkeit,
So dass sich in Begierde kehrt ihr Bangen."
(Inf. 3,73.124).