60 Jahre "Dignitatis humanae": Kaum ein Konzilsdokument war so umstritten. Nun interpretieren postliberale Denker die Lehre von der Religionsfreiheit neu.

Kaum etwas hat die katholische Theologie in den letzten Jahrzehnten so beschäftigt, wie die Frage nach Wandel und Kontinuität – wie die Frage also, welche Aspekte der kirchlichen Lehre und Praxis unveränderlich zu bewahren sind und welche sich ändern können und müssen. Die Geschichtlichkeit der Lehre trat ins Bewusstsein. Die Entwicklung der Dogmen wurde zum Thema der katholischen Theologie – und zum Gegenstand erbitterter Streitigkeiten. Diese entzündeten sich vor allem an den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils, das vor 60 Jahren zu Ende ging.

Eine wichtige Rolle in diesen Debatten spielte die Lehre der katholischen Kirche über die Religionsfreiheit.

Am 7. Dezember 1965 verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung Dignitatis humanae. Sie bekennt sich zur Religionsfreiheit als Recht, das aus der Würde des Menschen hervorgeht. Diese Lehre steht jedoch in deutlichem Spannungsverhältnis zu früheren Aussagen des päpstlichen Lehramts, etwa in Mirari vos (Gregor XVI.), Quanta Cura (Pius IX.) und Immortale Dei (Leo XIII.), in denen die Idee einer allgemeinen Religionsfreiheit ausdrücklich als Irrtum verurteilt wurde.

Die Position der Piusbruderschaft

Daraus zog die Bewegung von Erzbischof Marcel Lefebvre die Schlussfolgerung, die Lehre des Konzils sei falsch und abzulehnen – und entschied sich für den Weg des Schismas. Für die von Lefebvre gegründete Piusbruderschaft ist die Lehre des Konzils über die Religionsfreiheit ein Bruch mit der katholischen Tradition und darum unvereinbar mit dem katholischen Glauben, was bis heute zu den zentralen Hindernissen einer Überwindung der Spaltung zählt.

Die Piusbruderschaft beruft sich auf die vorkonziliaren Lehrschreiben, die den Grundsatz vertreten würden, "dass der Irrtum keine Rechte" habe.

Ihr Gegenmodell ist die "Toleranzdoktrin": Niemand dürfe zum Glauben gezwungen werden, doch religiöse Toleranz bedeute keine Gleichbehandlung aller Religionen. Der katholischen Kirche komme eine privilegierte Stellung zu, während andere Religionsgemeinschaften – je nach ihrer Nähe oder Ferne zur katholischen Wahrheit – abgestufte Rechte hätten. Die Piusbruderschaft beruft sich damit auf die vorkonziliaren Lehrschreiben, die den Grundsatz vertreten würden, "dass der Irrtum keine Rechte" habe. Eine faktische Religionsfreiheit könne allenfalls aus Gründen des Gemeinwohls zeitweise gewährt werden, ohne dass damit ein prinzipielles Recht auf Religionsfreiheit anerkannt würde.

Kontinuität und Bruch

Demgegenüber betonen die Verteidiger von Dignitatis humanae die Kontinuität in wesentlichen Aspekten. Wenn das Konzil staatlichen Zwang in Glaubensdingen ablehne, dann entspreche das der Würde der menschlichen Person und der Willensfreiheit. Schon Kirchenväter wie Ambrosius, Augustinus und Gregor der Große hätten den Akt des Glaubens als Akt der Freiheit verstanden. Daran habe das Konzil anknüpfen können. 

Stimmen, die das Konzil und seine Lehre von der Religionsfreiheit als Paradigmenwechsel, als tiefgreifende Transformation und als epochalen Bruch mit dem Bisherigen interpretieren, gibt es aber nicht nur auf der Seite der Traditionalisten, sondern auch auf der Seite progressiver Reformer.

Benedikt XVI. wollte extreme Interpretationen vermeiden und die Lehren des Konzils im Sinne einer "Erneuerung des einen Subjekts Kirche" interpretieren.

Papst Benedikt XVI. hat in diese Debatten um das Konzil eingegriffen, indem er von einer "Hermeneutik der Kontinuität" bzw. einer "Hermeneutik der Reform" sprach. Er wollte extreme Interpretationen vermeiden und die Lehren des Konzils im Sinne einer "Erneuerung des einen Subjekts Kirche" interpretieren. Nicht zuletzt mit Blick auf die Lehre von der Religionsfreiheit sagte Benedikt in seiner Weihnachtsansprache 2005: "So können die grundsätzlichen Entscheidungen ihre Gültigkeit behalten, während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann."

Neue Deutungen

Doch die Diskussion war damit nicht beendet. Vor allem im englischen Sprachraum wurden in letzter Zeit durch Denker aus dem "postliberalen" Spektrum Versuche einer Neuinterpretation von Dignitatis humanae unternommen, die sehr stark das Moment der Kontinuität betonen.

Diese Positionen implizieren oftmals eine Kritik am liberalen Staat, die für europäische Ohren befremdlich wirkt, die man aber dennoch zur Kenntnis nehmen sollte, weil sie vor allem in den Vereinigten Staaten im Umfeld einflussreicher politischer Akteure geäußert werden. Für zukünftige religionspolitische Weichenstellungen könnten diese Ansätze darum durchaus von Bedeutung sein.

Schauen wir uns das genauer an.

Der amerikanische Philosoph Thomas Storck argumentiert, dass das Konzil zwar das individuelle Recht auf Religionsfreiheit bekräftigt, zugleich aber in Abschnitt 7 von Dignitatis Humanae die Pflicht des Staates betont, die öffentliche Ordnung zu schützen. Diese Regulierungspflicht könne in religiös homogenen Gesellschaften, wie sie im 19. Jahrhundert häufig bestanden, sehr weitreichend verstanden werden – in Übereinstimmung mit den älteren päpstlichen Lehrschreiben.

Der englische Philosoph Thomas Pink geht noch einen Schritt weiter: Nach seiner Interpretation bezieht sich Dignitatis humanae ausschließlich auf das Verhältnis des Menschen zum Staat, nicht aber auf sein Verhältnis zur Kirche. Der Staat dürfe also keinen religiösen Zwang ausüben, die Kirche hingegen könne – auch über den Staat als ihr Werkzeug – durchaus in Glaubensfragen verbindlich handeln. Dieses Recht werde, so Pink, seit dem Konzil aus, wenn man so will, "pastoralen Gründen" nicht mehr ausgeübt, aber es sei durch Dignitatis humanae auch nicht aufgehoben worden.

Zwei Freiheitsbegriffe

Eine deutlich andere Deutungsrichtung verfolgen der amerikanische Theologe David L. Schindler und sein Sohn David C. Schindler, die den inneren Zusammenhang zwischen Freiheit, Wahrheit und Anthropologie in den Mittelpunkt stellen.

David L. Schindler unterscheidet zwei Begriffe von Religionsfreiheit:

  • eine liberale, juristisch geprägte Religionsfreiheit,
  • und eine ontologische, die sich aus einer spezifisch naturrechtlichen Sicht des Menschen ergibt.

Die älteren lehramtlichen Verurteilungen würden sich demnach, so könnte man folgern, auf das liberale Konzept beziehen, während Dignitatis humanae das ontologische affirmiere. Der scheinbare Widerspruch im Lehramt beruhe daher auf einer begrifflichen Mehrdeutigkeit: Zwei unterschiedliche Freiheitskonzepte seien mit demselben Wort bezeichnet worden.

Das liberale Konzept der Religionsfreiheit basiert auf der Idee des autonomen Individuums, das sich in religiösen Dingen selbst bestimmt. Der Staat verhält sich dabei neutral gegenüber den verschiedenen Religionen. Doch diese Neutralität, so Schindler, sei trügerisch: Indem der Staat sich gegenüber den verschiedenen religiösen Überzeugungen indifferent verhält, zwinge er seine Bürger implizit, ihre Glaubensüberzeugungen im öffentlichen Raum mit derselben Indifferenz zu begegnen und das heißt, als ultimativ beliebig zu behandeln.

Der vermeintlich weltanschaulich neutrale Staat ist für David L. Schindler in Wahrheit ein weltanschaulich liberaler Staat, der sein eigenes Menschenbild – individualistisch und relativistisch – als universell ausgibt.

Religion erscheine dabei als ein weiterer Teilbereich der Gesellschaft unter anderen, den die Angehörigen der Gesellschaft nach Belieben betreten oder verlassen könnten. Die Religionen würden dabei gerade nicht in ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch ernst genommen, sondern als rein subjektive Optionen neu erfunden und damit in letzter Konsequenz ganz aus dem öffentlichen Raum verdrängt. In der Logik dieses Konzeptes ist es nur folgerichtig, dass der Staat schon Kinder vor religiöser Fremdbestimmung durch ihre Eltern schützen muss. Religiöse Erziehung wird so von einem Bestandteil des Rechts auf Religionsfreiheit zu einem Verstoß gegen dieses Recht. Der vermeintlich weltanschaulich neutrale Staat ist für David L. Schindler in Wahrheit ein weltanschaulich liberaler Staat, der sein eigenes Menschenbild – individualistisch und relativistisch – als universell ausgibt. Religionsfreiheit werde so letztlich zur Freiheit von Religion.

Demgegenüber versteht Schindler die von Dignitatis humanae bejahte Religionsfreiheit als Ausdruck der inneren Ausrichtung des Menschen auf die Wahrheit. Der Mensch sei als geistiges Wesen immer schon, wenn auch oft nur implizit, auf Gott hingeordnet. Freiheit und Wahrheit stehen daher nicht äußerlich nebeneinander, sondern bedingen einander wechselseitig: Freiheit findet ihre Erfüllung in der Wahrheit.

Das Recht auf Religionsfreiheit gründe somit nicht im Irrtum, sondern in der moralischen Pflicht des Menschen, die Wahrheit zu suchen. Der Staat habe diese Suche zu achten und zu fördern – nicht, weil er religiös indifferent sei, sondern weil er die religiöse Dimension des Menschen als Teil des Gemeinwohls anerkennt (Dignitatis humanae, Nr. 3). Religion sei kein gesellschaftlicher Teilbereich neben anderen, sondern transzendiere den Staat, da sie auf die letzte Wahrheit und damit auf Gott verweise.

Schindlers Deutung ist dabei für sehr unterschiedliche Konsequenzen offen. So könnte man auf dieser Grundlage argumentieren, dass das laizistische System Frankreichs nicht mit dem Verständnis von Religionsfreiheit in Dignitatis humanae übereinstimmt, das deutsche Modell aber schon.

Die liberale Trennung von Staat und Religion sei nicht neutral, sondern selbst Ausdruck eines religiösen (nämlich säkularen) Bekenntnisses.

Radikalere Konsequenzen zieht dagegen David C. Schindler aus den Überlegungen seines Vaters (vgl. The Politics of the Real. The Church between Liberalism and Integralism, Steubenville 2021). Jeder Staat, so seine These, setze notwendig ein bestimmtes Menschenbild voraus – und bekenne sich damit, ob ausdrücklich oder implizit, zu einer bestimmten Religionsauffassung. Ein Staat, der keine religiöse Autorität über sich selbst anerkennt, erhebe damit sich implizit selbst zur obersten religiösen Instanz. Die liberale Trennung von Staat und Religion sei daher nicht neutral, sondern selbst Ausdruck eines religiösen (nämlich säkularen) Bekenntnisses. Paradoxerweise könne ein Staat, der die Wahrheit einer bestimmten Religion anerkennt – etwa die der katholischen Kirche –, eine tiefere Form von Religionsfreiheit ermöglichen, weil er dadurch fähig sei, den Wahrheitsanspruch auch anderer Religionen ernst zu nehmen, ohne ihn zu übernehmen.

Theologie und Politik

Diese theoretischen Auseinandersetzungen sind keineswegs bloß von historischem Interesse. Die unterschiedlichen Freiheitsverständnisse – das liberale und das ontologische – prägen auch gegenwärtige innerkirchliche Diskussionen, etwa im Umfeld des Synodalen Wegs, in dem ähnliche anthropologische Grundfragen berührt werden.

In den Vereinigten Staaten, deren Theologen während des Zweiten Vatikanischen Konzils maßgeblich zur Formulierung von Dignitatis humanae beitrugen, werden heute Stimmen laut, die ein stärker metaphysisch fundiertes, "ontologisches" Verständnis der Religionsfreiheit vertreten.

Darüber hinaus haben die dargestellten Überlegungen auch politische Relevanz. In den Vereinigten Staaten, deren Theologen während des Zweiten Vatikanischen Konzils maßgeblich zur Formulierung von Dignitatis humanae beitrugen, werden heute Stimmen laut, die ein stärker metaphysisch fundiertes, "ontologisches" Verständnis der Religionsfreiheit vertreten.

Sechzig Jahre nach Dignitatis humanae hat die Debatte um die Religionsfreiheit darum eine ganz neue Brisanz gewonnen.

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