Wie weit reicht das Selbstverteidigungsrecht? Diese Frage, die seit langem Gegenstand differenzierter ethischer und rechtswissenschaftlicher Reflexionen ist, stellt sich gegenwärtig mit besonderer Dringlichkeit von Neuem. Dabei sind jedoch die unterschiedlichen Kontexte aktueller Konfliktlagen zu beachten. Während kaum jemand ernsthaft das Recht der Ukraine bestreitet, sich gegen den brutalen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands mit Waffengewalt zu verteidigen, fragen sich dieser Tage nicht wenige Zeitgenossen, ob das jüngste Vorgehen der israelischen Regierung einerseits gegenüber der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen und andererseits bezüglich des militärischen Angriffs auf den Iran noch als Akt legitimer Selbstverteidigung gelten kann.
Auch wenn sich historische Positionierungen zu dieser Problematik aufgrund der inzwischen veränderten politischen, rechtlichen und militärtechnischen Rahmenbedingungen nur mit größter Vorsicht auf die aktuelle Situation übertragen lassen, sind der moraltheologischen Tradition doch bestimmte Kriterien zu entnehmen, die auch heute noch bedenkenswert erscheinen.
Wann Tötung zur Selbstverteidigung zulässig ist
Die scholastischen Theologen haben die Frage der Selbstverteidigung vor allem mit Blick auf Einzelpersonen diskutiert, die Opfer eines unprovozierten Angriffs geworden sind, und sich fragen, welche Gegenwehr in welchem Umfang moralisch zulässig ist. Ungeachtet der notwendigen Differenzierung zwischen verschiedenen Personengruppen – wie Privatpersonen, Klerikern und Trägern besonderer staatlicher Hoheitsrechte (z.B. Soldaten und Justizbeamte) – hat etwa Thomas von Aquin die Legitimität einer Tötung zur Selbstverteidigung, die auf den ersten Blick in deutlichem Widerspruch zur gewaltkritischen Einstellung des Christentums steht, in seiner Summa theologiae (II II q. 64 a.7) an zwei wichtige Kriterien gebunden: erstens an die rechte Absicht, die ausschließlich auf den Schutz des eigenen Lebens ausgerichtet sein muss, und zweitens an die Verhältnismäßigkeit der dabei eingesetzten Mittel.
Thomas geht davon aus, dass eine Handlung zwei, kausal gleichursprünglich aus ihr hervorgehende Wirkungen (duplex effectus) haben kann, von denen die eine als "moralisch gut" und die andere als "moralisch schlecht" zu qualifizieren ist. Solange die Absicht des Akteurs allein auf die gute Folge ausgerichtet sei, dürfe die schlechte Folge in Kauf genommen werden. Wer sich selbst daher mit der Absicht verteidige, das eigene Leben zu bewahren, der tue nichts Unerlaubtes, weil es für jeden Menschen natürlich sei, sich nach Kräften in seiner Existenz zu erhalten (cum hoc sit cuilibet naturale quod se conservet in esse quantum potest). Daher könne von einer Heilsnotwendigkeit zum Verzicht auf Gegenwehr, um den Tod des Angreifers zu vermeiden, keine Rede sein.
Thomas zufolge ist es "moralisch unerlaubt, bei der Verteidigung des eigenen Lebens mehr Gewalt einzusetzen als nötig".
Die rechte Absicht ist zwar ein notwendiges, aber für sich allein noch kein hinreichendes Kriterium zur Rechtfertigung der jeweiligen Gewaltmaßnahmen. Diese müssen nämlich im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zusätzlich daraufhin befragt werden, ob sie ein unbedingt erforderliches Minimum zum Erreichen des beabsichtigten Ziels nicht überschreiten. Thomas zufolge ist es "moralisch unerlaubt, bei der Verteidigung des eigenen Lebens mehr Gewalt einzusetzen als nötig" (si aliquis ad defendum propriam vitam utatur maiori violentia quam oporteat, erit illicitum).
Wendet man diese beiden Kriterien auf das gegenwärtige Vorgehen der israelischen Regierung im Gaza-Streifen an, dann zeigt sich, dass Israel zwar jedes Recht hat, sich gegen die Terroristen der Hamas, die nicht nur das Existenzrecht des Staates Israel grundsätzlich infrage stellen, sondern beim Massaker am 7. Oktober 2023 auch mehr als 1100 Menschen brutal ermordet und ca. 250 Personen als Geiseln verschleppt haben, mit Waffengewalt zu verteidigen. Doch bleibt die Regierung dabei prinzipiell an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts gebunden.
Die extrem hohe Zahl ziviler Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung verweist hier auf eine Problematik, die nicht allein mit der perfiden Strategie der Hamas-Kämpfer zu erklären ist, ihre militärischen Operationsbasen in der Nähe von Schulen und Krankenhäusern einzurichten und damit Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Auch das israelische Militär muss sich fragen lassen, ob es wirklich alles dafür tut, durch die Wahl der eingesetzten Mittel die sogenannten Kollateralschäden zu minimieren. Auch die wochenlange Blockade der Lieferung dringend benötigter Hilfsgüter zur Versorgung der palästinensischen Bevölkerung lässt sich nicht allein damit rechtfertigen, dass diese Güter durch dysfunktionale Verteilungszentren in die Hände von Hamas-Aktivisten fallen könnten. Der von Teilen der Regierung unverhohlen geäußerte Wunsch, die Palästinenser durch eine provozierte Hungerkatastrophe zur Auswanderung und damit letztlich zur Aufgabe ihrer Gebietsansprüche zu bewegen, verweist darauf, dass schon die Ziele der Kriegsführung weit über die legitime Selbstverteidigung hinausgehen.
Eine ganz ähnliche Problematik zeigt sich bei dem am 13. Juni begonnenen Angriff Israels auf den Iran, der offiziell damit begründet wurde, dass das gegen den Atomwaffensperrvertrag gerichtete iranische Atomprogramm bereits so weit fortgeschritten war, dass nur ein Präventivschlag das Existenzrecht Israels noch garantieren könne. Warf schon die jahrelange israelische Praxis der gezielten Tötung iranischer Atomwissenschaftler zur Verlangsamung der Fortschritte des iranischen Regimes, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen, gravierende ethische und völkerrechtliche Probleme auf, so stellen sich nun – ganz abgesehen von der noch umfangreicheren Kriteriologie der klassischen Lehre vom gerechten Krieg – erneut Fragen nach dem genauen Ziel der Operation "Rising Lion" und der Verhältnismäßigkeit der dafür eingesetzten Mittel.
Welches Ziel verfolgt Israels Regierung überhaupt?
Geht es der israelischen Regierung "nur" um eine Zerstörung von rechtswidrig genutzten Atomanlagen? Strebt sie einen Regimewechsel in Teheran an? Oder verfolgt dieser offenbar auch mit den amerikanischen Verbündeten nicht abgesprochene Angriff zum gegenwärtigen Zeitpunkt womöglich vor allem das innenpolitische Ziel einer Stabilisierung der Regierung Netanjahu?
Im ersten Fall wäre – unabhängig davon, dass das israelische Militär offenbar gar nicht über die notwendigen technischen Kapazitäten zur Zerstörung aller relevanten iranischen Anlagen verfügt – zu klären, ob der Staat Israel durch das iranische Atomprogramm wirklich aktuell direkt in seiner Existenz bedroht ist. Gewiss wird man dabei neben der besonderen geostrategischen Lage Israels und den unterschiedlichen Größenverhältnissen der beiden sich aktuell bekämpfenden Länder auch die historischen Erfahrungen Israels etwa im Kontext des Yom-Kippur-Krieges 1973 gebührend zu berücksichtigen haben, die aufseiten der israelischen Bevölkerung ein besonderes Bedrohungsgefühl entstehen lassen können. Gleichwohl ist aber daran zu erinnern, dass die Sorge für die Einhaltung des auch vom Iran im Februar 1970 ratifizierten Atomwaffensperrvertrags primär eine internationale Aufgabe darstellt und bei der Analyse und Einschätzung von Bedrohungsszenarien sorgfältig zwischen der Entwicklung, dem Besitz und dem möglichen Einsatz von Atomwaffen zu unterscheiden ist.
Ist eine latente Gefahrenlage wirklich schon ausreichend dafür, einen militärischen Präventivschlag zu legitimieren?
Auch das zweite Szenario eines beabsichtigten Regimewechsels wirft gravierende Fragen auf. Die gegenwärtige iranische Regierung stellt aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt durch ihre Unterstützung der terroristischen Hamas und der Hisbollah, durchaus eine indirekte Gefahr für Israel dar. Doch wäre aus ethischer Sicht – und zwar ganz unabhängig davon, wie realistisch das Vorhaben ist – zu fragen, ob eine latente Gefahrenlage wirklich schon ausreichend dafür ist, einen militärischen Präventivschlag zu legitimieren. Dies gilt umso mehr, als gegenwärtig wenig darauf hindeutet, dass sich die iranische Bevölkerung gegen das Mullah-Regime erhebt, und es auch historisch nur sehr wenige gelungene Beispiele dafür gibt, von außen ein verbrecherisches Regime zu beenden und durch eine bessere Regierung zu ersetzen.
Noch problematischer wäre aus ethischer Sicht allerdings das dritte Szenario, in dem eine national und international zunehmend unter Druck stehende Regierung versucht, durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg die politischen Reihen im Innern zu schließen. Es versteht sich von selbst, dass im Falle einer solchen Strategie beide Kriterien – das der rechten Absicht und der Verhältnismäßigkeit – aufs Gröbste verletzt wären.
Die Lage ist momentan vor allem deswegen so unklar, weil viel davon abhängt, ob und in welchem Umfang die amerikanische Regierung bereit ist, sich militärisch in den Konflikt mit dem Iran zu engagieren. Wie auch immer diese Entscheidungen ausfallen, es wäre wünschenswert, dass die genannten Kriterien dabei in angemessener Weise berücksichtigt werden.
Auch wenn es gerade Deutschland aus historischen Gründen nicht ansteht, in der Öffentlichkeit allzu sehr als Kritiker Israels aufzutreten, muss es unter Freunden möglich bleiben, kritische Fragen zu stellen und auf die Einhaltung bewährter Standards hinzuarbeiten, von deren Schutz mittel- und langfristig auch das Wohl des Staates Israel abhängen dürfte.