Nicht nur die deutsche Politik tut sich noch immer schwer damit, überzeugende Antworten auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu finden, die der am 27.2.2022 vollmundig ausgerufenen "Zeitenwende" tatsächlich entsprechen. Auch die christlichen Kirchen haben allen Grund, ihre jüngeren friedensethischen Einlassungen selbstkritisch auf ihren Orientierungswert für die Lösung drängender sicherheitspolitischer Probleme zu befragen.
Dies gilt in besonderem Maße für die Position der evangelischen Kirche, deren stark pazifistische Ausrichtung trotz mancher auch innerprotestantischer Kritik in den letzten beiden Jahrzehnten markant hervortrat.
Dass die EKD unter dem Druck der Ereignisse endlich den Mut gefunden hat, einige ihrer allzu idealistischen früheren Forderungen zu korrigieren, ist ausdrücklich zu begrüßen. Obwohl das bischöfliche Vorwort von Kirsten Fehrs beschönigend erklärt, in der jetzt vorgelegten Denkschrift werde das seit 2007 propagierte "Leitbild des Gerechten Friedens" lediglich "aktualisiert und konkretisiert", sind die inhaltlichen Brüche mit vormals vertretenen Positionen kaum zu übersehen. Vier konkrete Themenbereiche seien exemplarisch herausgegriffen, um sowohl die Stärken als auch die Grenzen dieser Kurskorrektur zu verdeutlichen.
Ambivalenzen
So stellt gleich die erste von insgesamt zehn Kernaussagen programmatisch fest, dass "angesichts der Grausamkeit von Tod, Vergewaltigung, Verletzung und Traumatisierung durch bewaffnete Konflikte … der Schutz vor Gewalt im Zentrum der Bemühungen von Politik, Zivilgesellschaft und Kirche stehen" müsse (S. 13). Zwar wird durchaus zugestanden, dass in Verteidigung investiert werden müsse, wobei es einerseits "des richtigen Augenmaßes beim Ausbau der militärischen Kapazitäten" bedürfe, andererseits aber auch effiziente "Rüstungskontrolle, Abrüstungsperspektiven und größtmögliche Transparenz" (ebd.) erforderlich seien. Nähere Angaben zur Finanzierung der steigenden Verteidigungsausgaben sowie den Umschichtungen im Bundeshaushalt, die nötig sind, um die erforderliche Verteidigungsfähigkeit zu erreichen, sucht man jedoch vergeblich. Auch das parasitäre Verhalten Deutschlands in der Vergangenheit, in der vor allem amerikanische Steuerzahlen für den militärischen Schutz Westeuropas aufzukommen hatten, wird nicht eingestanden.
Im Text heißt es, dass es zwar eine "ethisch richtige Option [sei], einseitig auf Atomwaffen zu verzichten", doch könne auch "die nukleare Teilhabe oder der Besitz von Nuklearwaffen … vor diesem konkreten Hintergrund eine ethisch begründbare Entscheidung sein". Wenn letzteres der Fall ist, bleibt es jedoch rätselhaft, wieso die Verantwortlichen dann "Schuld" auf sich laden, "egal welche Option sie wählen".
Das zweite Beispiel betrifft die Politik der nuklearen Abschreckung. Im Kernsatz 6 heißt es zunächst kategorisch, dass der "Besitz und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen … dem Geist des Gerechten Friedens" widersprechen. Dennoch könne ihr Besitz "angesichts der weltpolitischen Verteilung dieser Waffen (…) politisch notwendig sein, weil der Verzicht eine schwerwiegende Bedrohungslage für einzelne Staaten bedeuten könnte" (S. 15). Während man zunächst den Eindruck gewinnt, der Text arbeite mit einer Diastase zwischen Ethik und Politik, die einander letztlich unversöhnlich gegenüberstünden, heißt es später im Text, dass es zwar eine "ethisch richtige Option [sei], einseitig auf Atomwaffen zu verzichten" (Nr. 145), doch könne auch "die nukleare Teilhabe oder der Besitz von Nuklearwaffen … vor diesem konkreten Hintergrund eine ethisch begründbare Entscheidung sein". Wenn letzteres der Fall ist, bleibt es jedoch rätselhaft, wieso die Verantwortlichen dann "Schuld" auf sich laden, "egal welche Option sie wählen" (ebd.).
Höchst ambivalent fallen auch die Aussagen des Textes zum Problem zur "Schutzverantwortung" aus, die hier unglücklicherweise mit der Problematik der "Rüstungsexporte" verbunden wird. Einerseits wird zugestanden, dass sich die "Frage der Pflicht zur Nothilfe bei Opfern von Gewalt und kriegerischen Aggressionen … angesichts der aktuellen Kriege neu" stelle (Nr. 151), da "auch aus theologisch-ethischer Perspektive … von einem Recht des Staates zur Selbstverteidigung zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gesprochen werden" könne (ebd.). Andererseits sei aber aus "friedensethischer Perspektive … festzuhalten, dass es keine unbedingte Verpflichtung zum Beistand oder auch Rüstungsexport geben kann" (Nr. 152). Vielmehr sei die ethische Beurteilung "abhängig von der Abwägung im Einzelfall vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Situation" (ebd.).
Man fragt sich, was hier "unbedingt" heißen soll. Selbstverständlich gelten Pflichten nicht voraussetzungslos, sondern nur dann, wenn bestimmte Bedingungen für deren Realisierbarkeit erfüllt sind. So ist nur derjenige zur Hilfe verpflichtet, der auch helfen kann. Doch schmälert dies keineswegs den Grad der jeweils spezifischen Verpflichtung zur Nothilfe für den, der die Voraussetzungen erfüllt. Eine stärkere Orientierung am traditionellen Lehrstück vom ordo amoris hätte hier zu mehr Klarheit führen können.
Zu begrüßen sind schließlich viertens die vorsichtig abwägenden Ausführungen zur "Wehrpflicht, Wehrdienstverweigerung und allgemeinen Dienstpflicht". Aufgrund wachsender sicherheitspolitischer Ungewissheiten gelte es, "eigene Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung substanziell auszubauen" (Nr. 162), wofür ein "allgemein verpflichtender Wehrdienst" durchaus ein probates Mittel sein könnte. Doch sei angesichts der grundgesetzlich verankerten Gleichberechtigung der Geschlechter auch die Einführung einer allgemeinen "Dienst- oder Wehrpflicht wünschenswert" (Nr. 168), da sie den Individuen Entscheidungsoptionen zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern eröffne.
Liest man den Text vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen innerhalb der protestantischen Friedensethik, dann fallen zwei Aspekte besonders ins Auge: erstens die längst überfällige Abkehr von einem allzu utopischen Pazifismus und zweitens eine auffällige Traditionsvergessenheit, die eine der Ursachen für den starken Revisionsbedarf sein dürfte.
Abkehr vom Pazifismus
Im Blick auf die stark pazifistische Grundtönung des Vorgängertextes von 2007 ist zunächst zu betonen, dass sich weder aus den verschiedenen Textschichten der christlichen Bibel noch aus der theologischen Tradition eine Verpflichtung zu einem generellen Pazifismus ableiten lässt. Die verbreitete Vorstellung, der Beitrag der christlichen Religion zu Fragen der Sicherheitspolitik erschöpfe sich in einer pazifistischen Utopie, die zwar gesinnungsethisch achtenswert erscheine, sich für die Bewältigung realer politischer Probleme aber als wenig tauglich erweise, wird weder der Differenziertheit des biblischen Textbefundes noch der Vielschichtigkeit der theologischen Traditionsbestände gerecht.
So lässt bereits die Einstellung der unterschiedlichen Textschichten des Alten Testamentes zu Krieg und Frieden je nach den sich stark verändernden Bedingungen der politischen Verfasstheit des alten Israel eine erstaunliche Variabilität möglicher Positionierungen erkennen.
Im Neuen Testament gibt es zwar durch die jesuanischen Aussagen zum Gewaltverzicht und zur Feindesliebe im Rahmen der Bergpredigt eine eindeutig gewaltkritische Spur, die alle Christen zu einer Haltung der Vergebungsbereitschaft und der Überwindung der alltäglichen Gewaltspirale zum glaubwürdigen Zeugnis für den Anbruch des Reiches Gottes verpflichtet, doch dürften diese Weisungen primär auf den persönlichen Bereich im Umgang mit individuellen Gegnern abzielen.
Indem die Denkschrift das Leitbild des Gerechten Friedens stärker in einem eschatologischen Horizont rückt, gewinnt es nicht nur an Realismus, sondern auch an biblisch-theologischer Tiefenschärfe.
Eine direkte Übertragung auf den politischen Bereich – insbesondere auf das Handeln eines modernen säkularen, religiös-weltanschaulich neutralen Staates – dürfte außerhalb des Horizontes dieser Texte liegen. Dies schwächt die Pflicht der einzelnen Christen, sich über ihr privates Umfeld hinaus auch für ein friedliches Zusammenleben der Völker einzusetzen, keineswegs ab.
Indem die Denkschrift das Leitbild des Gerechten Friedens stärker in einem eschatologischen Horizont rückt, gewinnt es jedenfalls nicht nur an Realismus, sondern auch an biblisch-theologischer Tiefenschärfe.
Traditionsvergessenheit
Eine Grenze des neuen Textes liegt daran, dass er zur Begründung der gegenüber 2007 veränderten Positionierung kaum Anleihen bei der großen friedensethischen Tradition macht. So findet weder eine konstruktive Auseinandersetzung mit der klassischen Lehre vom ius ad bellum und ihrer differenzierten Kriteriologie moralisch gerechtfertigter Gewaltanwendung noch eine Würdigung der umfangreichen Reflexionsbestände zur Notwehr, zur Nothilfe oder zur Mitwirkungslehre statt. Die jetzt vertretenen Einzelaussagen hätten damit gut argumentativ abgestützt werden können. Außerdem hätte man so dem Eindruck entgegenwirken können, die kirchliche Positionierung sei schwankend oder allein vom jeweiligen Zeitgeist oder politischen Erfordernissen motiviert.
Auch wenn es ein völliges Missverständnis der Entwicklung der christlichen Friedensethik wäre, sie als einen Kanon unveränderlicher Prinzipien zu konzipieren und damit die historische Dimension der Einsicht in viele thematische und normative Zuwächse ihrer Lehrgehalte auszublenden, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass es überhaupt keine Kontinuitätslinien gibt.
Kirchliche Äußerungen zu Krieg und Frieden sollten daher schon aus Gründen der Kohärenz generell stärker darauf achten, dass grundlegende Einsichten der eigenen Tradition angemessen zur Geltung gebracht werden.
Auch wenn es ein völliges Missverständnis der Entwicklung der christlichen Friedensethik wäre, sie als einen Kanon unveränderlicher Prinzipien zu konzipieren und damit die historische Dimension der Einsicht in viele thematische und normative Zuwächse ihrer Lehrgehalte auszublenden, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass es überhaupt keine Kontinuitätslinien gibt.
Ganz im Gegenteil bildet die starke natur- und vernunftrechtliche Imprägnierung vieler friedensethischer Denkfiguren nicht nur die Voraussetzung ihrer Rezeption aus vorchristlichen Grundlagen, sondern auch ihrer weiteren Systematisierung im Raum theologischer Theoriebildung. Zu solchen Inkulturationsprozessen gehören vielfältige Ergänzungen, Begriffstransformationen und Rekontextualisierungen – aber auch das Bemühen um Bewahrung und Kontinuität der wichtigsten Sinngehalte.
So wichtig es daher ist, mit hoher Sensibilität die jeweiligen zeitgeschichtlichen Veränderungsprozesse im Umfeld des eigenen historischen Standortes nicht nur wahrzunehmen, sondern auch angemessen zu deuten, so verfehlt wäre ein Denken, das meinte, sich von grundlegenden normativen Orientierungen allein deswegen distanzieren zu können, weil sich bestimmte Bedrohungsparameter zeitweilig oder dauerhaft verschoben haben.
Da dieser Traditionsverlust letztlich aber ein gemeinsames Problem beider christlichen Kirchen in Deutschland ist, wäre es zukünftig wünschenswert, dass die entsprechenden Gremien ihre diesbezüglichen Denkschriften und Orientierungen möglichst gemeinsam erarbeiten, um der christlichen Stimme in einer zunehmend säkularen Öffentlichkeit wieder besseres Gehör zu verschaffen.