Im Umgang mit den großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen zeigen die maßgeblichen Akteure in Deutschland seit langem dieselben defizitären Verhaltensmuster: Man reagiert zu spät, zu zögerlich und zu halbherzig. Dadurch wird nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit verspielt, sondern auch die Handlungsfähigkeit nachfolgender Generationen immer weiter eingeschränkt.
Die Gründe für das notorische Versagen der politischen Klasse sind vielfältig. Sie reichen von der fatalen Ausrichtung des Handels auf die Sicherung eigenen Machterhalts angesichts einer vermeintlich veränderungsunwilligen Gesellschaft über eine primär an Partikularinteressen orientierte Klientelpolitik und die Missachtung wissenschaftlicher Expertise bis hin zur völligen Fehleinschätzung langfristiger Trends und neuer geopolitischer Entwicklungen.
Drei Beispiele können dies verdeutlichen.
Deutschland ist wehrlos
Im Fall der russischen Angriffe auf die Ukraine, die bereits mit der Annexion der Krim 2014 einen ersten Höhepunkt erreichten, besteht das wohl größte Versagen der damaligen Bundesregierung darin, dass sie die tatsächlichen Absichten Putins völlig falsch eingeschätzt und die Abhängigkeiten von russischen Energielieferungen nicht nur nicht reduziert, sondern noch weiter gesteigert hat. Dass gravierende Sanktionen damals ausblieben, konnte die russische Führung als untrügliches Zeichen dafür interpretieren, dass ernsthafter Widerstand gegen ihre imperialen Pläne kaum zu befürchten war.
Auch die Ankündigung einer "Zeitenwende" deutscher Sicherheitspolitik als Reaktion auf den russischen Überfall auf die gesamte Ukraine am 24.2.2022 blieb bislang weitgehend rhetorischer Natur: Trotz großzügiger humanitärer und finanzieller Hilfen konnte man sich in der Frühphase des Krieges nicht dazu entschließen, die Ukraine ausreichend militärisch zu unterstützen. Aufgrund dessen war Russland in der Lage, seine anfänglichen taktischen Fehler zu korrigieren und sich eine solide militärische Basis sowohl für die dauerhafte Annexion der begehrten Territorien im Donbass als auch für die Destabilisierung der "Restukraine" zu verschaffen.
Völkerrechtliche Regeln zum Schutz souveräner Staaten bedürfen nicht nur der rhetorischen Beschwörung, sondern müssen im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln verteidigt und durchgesetzt werden.
Nicht nur Deutschland, das sich in den letzten Jahrzehnten im Vertrauen auf den militärischen Schutz der USA praktisch wehrlos gemacht hat, auch die anderen europäischen Staaten haben zögerlich und halbherzig auf die russische Aggression reagiert. Alle tragen Mitverantwortung dafür, dass sich die sicherheitspolitische Lage in Europa derart verschlechtern konnte. Völkerrechtliche Regeln zum Schutz souveräner Staaten bedürfen nicht nur der rhetorischen Beschwörung, sondern müssen im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln verteidigt und durchgesetzt werden, wozu Deutschland derzeit weder willens noch imstande ist.
Zukünftige Generationen werden belastet
Auch in der Innenpolitik häufen sich die Krisen als Folge lange Zeit verdrängter und daher weithin ungelöster Probleme. Das wohl gravierendste Versagen betrifft die durch den demografischen Wandel bewirkte Schieflage der deutschen Rentenversicherung. Schon heute muss sie mit circa 120 Milliarden Euro jährlich aus Steuermitteln stabilisiert werden. Mit ihrer Verständigung auf die ökonomisch fragwürdigen Projekte von Mütterrente und Ausgestaltung der sogenannten Haltelinie belastet die aktuelle Regierungskoalition künftige Generationen zusätzlich schwer.
Der dreiste Versuch, Entscheidungen weiter zu verzögern, indem man die eigene Verantwortung an eine Expertenkommission auslagert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir seit längerem kein Erkenntnisproblem, sondern vielmehr ein politisches Vollzugsproblem haben.
Das ist jedoch noch nicht einmal der eigentliche Skandal. Viel problematischer ist der Umstand, dass die Verantwortlichen sich weigern, die unvermeidlichen Strukturreformen endlich in Angriff zu nehmen – vor allem in Gestalt einer Anhebung des Renteneintrittsalters, einer Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Care-Arbeit sowie einer besseren Integration Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt. Der dreiste Versuch, Entscheidungen weiter zu verzögern, indem man die eigene Verantwortung an eine Expertenkommission auslagert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir seit längerem kein Erkenntnisproblem, sondern vielmehr ein politisches Vollzugsproblem haben.
So hat bereits im Jahr 2011 die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz grundlegende "Reformen des Sozialstaats" angemahnt, da "die finanziellen Spielräume beispielsweise aufgrund der enormen Staatsdefizite, des demografischen Wandels und des Klimawandels immer enger werden" (14). Im Blick auf die Alterssicherung wurde schon damals betont, dass die "Rente mit 67" allein jedoch nicht ausreichen wird, "um nachfolgende Generationen wirksam vor finanzieller Überforderung zu schützen" (33). Neben einer Ausweitung der Erwerbsquote und der Beschäftigungsdauer sowie einer weiteren schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters sei es aus Gerechtigkeitsgründen vielmehr auch "erforderlich, die Rentenansprüche stärker als bisher nach der Kinderzahl zu differenzieren", um sowohl "Gerechtigkeit zwischen den Generationen wie innerhalb einer Generation" (ebd.) herzustellen.
Angesichts des derzeitigen Trauerspiels eines wider besseres Wissen agierenden Bundeskanzlers und einer reformunwilligen SPD kann man der Jungen Gruppe innerhalb der Unions-Fraktion und den ökonomisch Sachverständigen nur dafür danken, dass sie mutig auf das allzu Offensichtliche verweisen und die politischen Entscheidungsträger an ihre Pflichten erinnern.
Das Gesundheitssystem ist ineffizient
Ein letztes Beispiel für den allzu lange verschleppten Reformbedarf unserer sozialen Sicherungssysteme betrifft das Gesundheitswesen, das besonders stark von partikularen Interessen, ineffizienten Strukturen und einer horrenden Verschwendung von Ressourcen geprägt wird.
Zur Effizienzsteigerung bedürfte es nicht nur einer erheblichen Komplexitätsreduktion der Versorgungsebenen, sondern auch einer Rückgewinnung des Kostenbewusstseins bei den Versicherten sowie einer stärkeren Ausrichtung auf die Prävention.
Deutschland hat eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, rangiert aber im Blick auf wichtige Kriterien wie Lebenserwartung und Behandlungsqualität lediglich im Mittelfeld. Zur dringend erforderlichen Effizienzsteigerung bedürfte es nicht nur einer erheblichen Komplexitätsreduktion der Versorgungsebenen (etwa durch Stärkung der primärärztlichen Ebene sowie den Abbau teurer Doppelstrukturen im ambulanten und klinischen Bereich), sondern auch einer Rückgewinnung des Kostenbewusstseins bei den Versicherten sowie einer stärkeren Ausrichtung auf die Prävention.
Dringend geboten ist zudem eine durchgreifende Pflegereform, die den tatsächlichen Bedarfen einer alternden Gesellschaft entspricht und die Lobbyinteressen der einzelnen Gesundheitsberufe gemeinwohlorientiert zurückschneidet. Statt in einem weithin dysfunktionalen System immer neue Geldmittel zu versenken, sollte man von unseren europäischen Nachbarn (z. B. Niederlande, Norwegen, Schweden) lernen, wo anzusetzen wäre, um endlich strukturelle Reformen in Angriff zu nehmen, die diesen Namen auch verdienen.
Vor diesem Hintergrund gleicht es einem schlechten Witz, dass sich die Fantasie der Grünen auf ihrem jüngsten Bundeskongress in Hannover darin zu erschöpfen scheint, auf diesem wichtigen Handlungsfeld über die Streichung der Homöopathie aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen nachzudenken.
Verweigerte Reformbereitschaft
Da sich die Liste verweigerter Reformbereitschaft auf zentralen Politikfeldern nahezu beliebig verlängern ließe, bleibt am Ende nur zweierlei: Zum einen die Erinnerung an die Einsicht, dass sich die Realität von Problemen auf Dauer nicht verdrängen lässt, weil das Leben bekanntlich diejenigen bestraft, die zu spät kommen. Und zum anderen die Hoffnung, dass sich die Kirche nach Jahren der weithin unproduktiven institutionellen Selbstbespiegelung zukünftig wieder verstärkt jenen drängenden gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zuwenden möge, die für die Sicherung des Gemeinwohls von größter Bedeutung sind.