Es ist mittlerweile zu einer verbreiteten akademischen Praxis geworden, Wissenschaftler, die gegen einen ungeschriebenen Deutungs- oder Verhaltenskodex verstoßen, aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen. Meistens ist der Grund eine Nicht-Beachtung oder sogar Infragestellung "woker" Dogmen. Diese sind zwar nicht wissenschaftlich begründet, aber überaus durchsetzungsstark und prägen das Meinungsklima in der Academia erheblich.
Katholiken und die Meinungsfreiheit
Nun ist auch eine jesuitische Hochschule, nämlich die Hochschule für Philosophie in München, diesem Muster gefolgt und hat den Philosophen Sebastian Ostritsch, den ein Professor der Hochschule zu einem Vortrag eingeladen hatte, wieder ausgeladen. Das liefert auch denen, die sich sonst an der Cancel Culture nicht besonders stören, willkommene Munition für den Angriff auf kirchennahe Einrichtungen. Meinungsfreiheit wurde in der Katholischen Kirche doch noch nie großgeschrieben! – so zum Beispiel der Duktus eines Artikels in der ZEIT über diesen Fall, ein Artikel, der passenderweise mit dem Titel "Wenn Katholiken canceln" überschrieben ist.
Sebastian Ostritsch ist ein habilitierter Philosoph, der sich zu seinem Katholisch-Sein bekennt und Auffassungen vertritt, die mit dem katholischen Lehramt zweifellos vereinbar sind, aber nicht jedermann gefallen. Es sind sehr konservative Positionen, etwa zur Frage der Abtreibung, des Rechts auf Suizid oder der Sinnhaftigkeit von Regenbogenflaggen an Kirchen. Ostritsch ist Privatdozent an der Universität Heidelberg und unter anderem Autor einer prämierten Dissertation über Hegels Rechtsphilosophie, einer Habilitationsschrift zu dem Thema "Ewigkeit und das Leiden an der Zeit" und einer viel beachteten Hegel-Biografie.
Wissenschaft und Publizistik
Da man als Privatdozent zwar lehren darf (und zur Erhaltung des Titels auch lehren muss), dafür aber nicht entlohnt wird, muss man seinen Lebensunterhalt anderweitig bestreiten. Dies tut Ostritsch, indem er als Redakteur bei der konservativen katholischen Zeitschrift "Tagespost" arbeitet. Hier und in anderen Publikationsorganen wie der NZZ, der WELT und in Internet-Blogs äußert er die genannten Ansichten. Das wissenschaftliche Œuvre und die publizistische Tätigkeit sind also durchaus voneinander getrennt. Alles in eins nehmen allerdings seine Kritiker, wie das bei der Cancel Culture so üblich ist. Sie zensiert Gesinnungen und versucht Wissenschaftlern, die ihre Gesinnungsprüfung nicht bestehen, auch wissenschaftlich das Wasser abzugraben.
Im Fall Ostritsch waren es Studenten der Hochschule für Philosophie, die sich zur Zensur des Eingeladenen berufen fühlten, indem sie ihn als "rechtsextremistischen Fundamentalisten" qualifizierten. Durch ihren hartnäckigen Widerstand gegen den geplanten Vortrag setzten sie die Hochschulleitung offenbar so unter Druck, dass diese scheibchenweise nachgab.
Natürlich ist es nie die gesamte Studentenschaft, die hinter solchen Aktionen steht. Aber immerhin wehren sich die anderen auch nicht gegen die intellektuelle Bevormundung und wissenschaftliche Ignoranz ihrer Kommilitonen?
Zunächst wurde die Ankündigung des Vortrags weniger prominent platziert, dann der Vortrag gänzlich abgesagt. In ihm sollte es um die Gottesbeweise des Thomas von Aquin gehen – ein Thema, das Studenten einer katholischen Hochschule anscheinend weniger wichtig ist als ihr politischer Aktivismus. Natürlich ist es nie die gesamte Studentenschaft, die hinter solchen Aktionen steht. Aber immerhin wehren sich die anderen auch nicht gegen die intellektuelle Bevormundung und wissenschaftliche Ignoranz ihrer Kommilitonen. Doch warum gibt auch die Hochschulleitung dieser im Kern wissenschaftsfeindlichen Haltung nach?
Erwartet wird eine "engagierte" Wissenschaft
Letztlich ist es immer dasselbe Argument: Man könne angesichts der Umstände für eine offene Diskussion nicht garantieren. Mit anderen Worten: Weil man Ungemach befürchtet, weil die Studenten Rabatz machen könnten, geht man der Konfrontation lieber aus dem Weg und beschneidet die akademische Freiheit. Das trifft nicht nur Personen, sondern auch Themen. Denn natürlich geraten Wissenschaftler nicht nur wegen ihrer privaten politischen Haltung, sondern auch wegen ihrer Forschungsthemen ins Visier der Aktivisten. Vertreter einer ergebnisoffenen Migrations-, Transgender- oder Islamforschung zum Beispiel sehen sich oft genug einer geschlossenen Front von Studenten und Kollegen gegenüber, die eine "engagierte", sprich: politisierte Wissenschaft fordern und die Wahrheit nicht mehr suchen, sondern schon zu haben beanspruchen. Wer diese Wahrheit nicht teilt, hat sich moralisch disqualifiziert und wird akademisch exkommuniziert.
Der offene Dialog wird durch Gewalt verhindert.
Wenn man sich den Mechanismus, nach dem im Fall Ostritsch vorgegangen wurde, noch einmal anschaut, sieht man, was auf dem Spiel steht: Der offene Dialog wird durch Gewalt verhindert. Es sind keine Argumente, mit denen man Wissenschaftlern, deren politische oder wissenschaftliche Position einem nicht passt, entgegentritt. Es sind persönliche Diffamierungen und moralische Abwertungen in Kombination mit dem gar nicht so subtilen Hinweis, dass ein Auftritt des Verfemten massive Auseinandersetzungen zur Folge haben würde.
Freiheit in Gefahr
Die Angst davor hat inzwischen dazu geführt, dass jüdische Studenten und Dozenten an deutschen Universitäten keinen sicheren Ort mehr haben – Hochschulleitungen lassen sich von Hamas-Anhängern terrorisieren. Diese beschämende Situation zeigt, wie die Freiheit Stück für Stück erodieren kann, wenn niemand mehr mutig genug ist, sie zu verteidigen. Dass man in einer freiheitlichen Gesellschaft, in einem freiheitlichen Diskurs auch Positionen aushalten muss, die man weder schätzt noch teilt, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch auch solche Selbstverständlichkeiten verlieren sich, sobald man die Freiheit nur noch genießt und nicht mehr als etwas Fragiles und deshalb immer wieder aufs Neue zu Erringendes erkennt.