André Lorenz: Etty Hillesum hat Sie nun intensiv seit mehreren Jahren beschäftigt. Ihr Buch "Herzschlag. Etty Hillesum - Eine Begegnung" ist seit drei Monaten in der Welt. Sie haben seitdem mit vielen Menschen darüber gesprochen. Welche Rolle spielt Etty Hillesum heute, ganz aktuell, in Ihrem Leben?
Heiner Wilmer: Etty Hillesum ist für mich weiterhin ungemein präsent. Sie ist für mich tatsächlich eine Lehrmeisterin des Lebens. Und mein Lernen über sie ist überhaupt nicht abgeschlossen. Ich bilde mir nicht ein, etwas wirklich Substantielles über sie sagen zu können. Mich beschäftigen bis heute zwei Punkte besonders. Einmal die Frage: Wie geht Mensch sein? Das Zweite ist Resilienz. Je länger ich mich mit Etty Hillesum beschäftige, umso mehr merke ich, welch hochkomplexe, reiche, unorthodoxe Persönlichkeit sie ist. Das Leben ist groß und schön, sagt sie immer. Nichts kann das Große und das Schöne zerstören, auch nicht Gewalt und Terror. Etty Hillesum hat einen Sinn für Literatur. Das finde ich faszinierend. Das Lesen guter Bücher, sagt sie, kann uns helfen, Dunkles, Widerwärtiges, auch Hass zu überstehen, damit zu leben. Sie hat einen Blick für das Schöne. In Amsterdam erfreut sie sich an kleinen, alltäglichen Dingen. Sie sagt zum Beispiel solche Sätze: Ich finde es wunderbar, ich habe heute Morgen wieder ein frisches Hemd angezogen. Ich habe meinen Körper gespürt beim Waschen. Ich habe heute Morgen Gymnastik gemacht. Ich sehe den Jasmin draußen auf dem schneebedeckten Dach vor meinem Fenster. Sie erfreut sich an dem seltenen Geruch von Bohnenkaffee. Sie erfreut sich an Sprache, an Worten, und ringt damit.
Lorenz: Und sie ringt mit Gott …
Wilmer: … ja, ich finde schon erschütternd, dass sie in einem Gebet an einem Sonntagmorgen im Juli 1942 sagt: Gott kann uns nicht helfen, wir müssen ihm helfen. Wir müssen ihm helfen, damit er in den leidenden Menschen aufersteht. Sie spricht von einem schwachen Gott, der Schmerz empfindet, und stellt sich umgekehrt als starke Person dar. Das ist das Gegenteil von dem, wie wir uns sehen: Ich bin schwach, du starker Gott, hilf mir. Etty Hillesum redet ständig mit ihm. Sie redet mit ihm und klagt ihn auch an. Sie schreibt ihm und hat viele, viele Fragen an Gott. Gott ist also für Etty ein innerer Sparringspartner. Das Gespräch mit dem aus ihrer Sicht schwachen Gott, das intensiver wird, macht sie von Woche zu Woche stärker. So entwickelt sie ihre Resilienz. Übrigens finde ich die sogenannte negative Theologie von Etty Hillesum zunehmend sympathisch, dass wir eher sagen können, was Gott nicht ist, als was er ist. Unsere Bilder, unsere Reden, unsere Zuschreibungen von Gott sind an sich nur Gestammel, völlig unzureichend. Wir brauchen das zwar, aber gleichzeitig müssen wir uns vor Augen halten: Gott ist ganz anders.
"Etty Hillesum sollte Pflichtlektüre in deutschen Schulen werden."
Lorenz: So wie Sie Etty Hillesum beschreiben, kommt einem auch Anne Frank in den Sinn. Aber Anne Frank kennt jeder, nahezu jeder Schüler ist mit ihr aufgewachsen. Etty Hillesum dagegen kennen nicht so viele Menschen. Woran liegt das und wie könnte man das ändern?
Wilmer: Es gibt dafür wohl einen ganz nüchternen Grund. Das Tagebuch der Anne Frank wurde bereits kurz nach dem Krieg auf Initiative ihres Vaters, der als einziger der Familie den Holocaust überlebt hatte, veröffentlicht und schnell in über 70 Sprachen übersetzt. Für die Tagebücher von Etty Hillesum dagegen konnte erst 1980 ein Verleger gefunden werden. 1983 erschienen die Tagebücher dann in vielen Ländern Europas und auch in den USA. Anne Frank und Etty Hillesum sind zwei Frauen, die tatsächlich ähnlich sind, aber dann doch ganz anders. Beide sind Niederländerinnen und Jüdinnen. Aber Anne Frank war 15 Jahre alt, als sie ermordet wurde, Etty Hillesum 29 Jahre alt. Vielleicht ist das Tagebuch von Anne Frank allein aufgrund ihres jugendlichen Alters etwas ungewöhnlicher. Es ist auch nicht immer leicht, das Tagebuch von Etty Hillesum zu lesen. Zum einen ist sie eine erwachsene Frau mit natürlich noch viel mehr Erfahrungen und einer größeren Gedankenwelt. Zum anderen scheint in ihrem Tagebuch stärker das Grauen auf. Bei Etty Hillesum geht es zum Teil auch um sehr persönliche, auch intime Einträge. Aber klar: Es gibt viele Parallelen zwischen den Tagebüchern. Der klare und unverstellte Blick auf die grausame Situation der Jüdinnen und Juden der damaligen Zeit, beeindruckende Intelligenz und tiefe Herzenswärme. Beide Tagebücher leben von einer ungeheuren Wortkraft und Stärke der Autorinnen. Beide wollen ihre Tagebücher veröffentlichen. Beide wollen, dass die Welt erfährt, was in dieser Zeit geschehen ist. Beide wollen Schriftstellerinnen werden. Und beide sind es auch geworden. Deshalb finde ich, dass Etty Hillesum ebenfalls Pflichtlektüre in deutschen Schulen werden sollte.
Kommen schwere Zeiten?
Lorenz: Am Ende Ihres Buches bilanzieren Sie: "Unter anderem habe ich von dir gelernt, wie die Macht des Humors wirkt, wie ich mit Hass umgehe, wie komplex Versöhnung ist, wie ich Halt finde in schwerer Zeit und mit meinen Ängsten umgehe, welcher Reichtum in meinem Innern lebt, wie ich mich innerlich abhärte, ohne mich zu verhärten, mich auf eine mögliche schwere Zeit vorbereite …" Inwiefern haben Sie das Gefühl, sich auf eine schwere Zeit vorbereiten zu müssen?
Wilmer: Das ist eine heikle Frage. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Aber ich rechne damit, dass es Zeiten und Herausforderungen geben könnte, die mir schwer vorkommen. Bei Etty Hillesum habe ich gelernt, wirklich in alle Richtungen zu schauen, ohne etwas auszublenden. Etty Hillesum sieht auch das Leid, die Katastrophe anderer Menschen, nicht nur ihre eigenen Sorgen. Gleichzeitig sieht sie immer auch die hellen und schönen Seiten des Lebens und das ganz bewusst. Letztlich stellt sich mir die Frage, wo ich hinschaue: Fixiere ich mich nur auf das, was schwierig ist, oder wage ich auch einen Blick auf das, was mir an Schönem begegnet, auch dann, wenn es dunkel ist?
"Es kann nicht sein, dass jene, die intelligenter sind, gesünder, jünger, durchsetzungsfähiger, mehr Wert haben und mehr Rechte."
Lorenz: Die dunkelste Zeit, der dunkelste Ort der Menschheitsgeschichte war vermutlich Auschwitz, wo rund eine Million Jüdinnen und Juden von den Nazis ermordet wurden. Eine Million von insgesamt sechs Millionen. Am 27. Januar gedenken wir zum 80. Mal der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Wie denken Sie über diesen Tag, vor allem nach Ihrer intensiven Beschäftigung mit Etty Hillesum, die ebenfalls in Auschwitz getötet wurde?
Wilmer: Auschwitz ist ein schmerzhafter Ort, ein Ort des Gedenkens. Auschwitz ist kein bloßer Name, keine bloße Erinnerung an vergangenes Leid. Auschwitz ist ein Symbol für die tiefste Dunkelheit, die die Welt je gesehen hat. Die Tora erinnert uns: Kein Mensch kann die göttliche Seele in uns auslöschen, auch kein Feind. Das sagt auch Etty Hillesum: Niemand wird mir das Herz, die Seele stehlen können. Die jüdische Tradition kennt das Konzept des Chillul HaShem, das bedeutet die Schändung des göttlichen Namens. Auschwitz steht nicht nur für die Schändung der Menschen, sondern auch für die Schändung Gottes. Heute, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, ist die Welt erneut an einem Scheideweg. Hass und Intoleranz sind wieder auf dem Vormarsch. Die Lehren von Auschwitz dürfen nicht verblassen. Unsere Aufgabe ist es, uns an den Bund zu erinnern, den Gott am Sinai mit seinem Volk geschlossen hat. Einen Bund, der sein Volk dazu verpflichtet, für Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden einzutreten. Die nackten Zahlen des Holocaust sind erschütternd. Mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet, darunter eine Million allein in Auschwitz. Hinzu kommen Hunderttausende weiterer Opfer. Wir dürfen Roma und Sinti nicht vergessen, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen. Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Mensch, ein Leben voller Hoffnungen, Träume und Beziehungen. Die Herausforderung besteht darin, diese menschliche Dimension nicht zu vergessen. Und wir brauchen die Erinnerung in Auschwitz, gerade auch weil diese Erinnerung immer schmerzhaft ist.
Komplexe Welt, einfache Antworten
Lorenz: Diese richtigen und erschütternden Gedanken begleiten uns bei jeder Erinnerung an Auschwitz. Und trotzdem leben wir jetzt in einer gesellschaftlichen Zeit der Spaltung und Polarisierung bis hin zu einem neu aufflammenden Antisemitismus. Wie bekommt man diese Gedanken so zu den Menschen, dass sie sie ernst nehmen, dass sie fruchten?
Wilmer: Die Welt ist so komplex geworden, so unüberschaubar, dass wir wieder empfänglicher werden für einfache Muster. Für simple Erklärungen, für Schwarz-Weiß-Malerei: Hier die Guten, da die Bösen. Hier die Inländer, da die Ausländer. Und manche reden über Begriffe wie Remigration, die eigentlich Deportation meint. Was wir brauchen, ist ein erneutes Bewusstsein, eine Warnung: Die Welt ist komplex. Einfache Lösungen greifen hier meistens zu kurz. Einfache Lösungen werden dem Menschen und der Komplexität auch nur eines Menschenlebens nicht gerecht. Wir brauchen eine kritische Distanz zur Schwarz-Weiß-Malerei, eine kritische Distanz zu einfachen Antworten. Wenn es um einfache Antworten in der Öffentlichkeit geht, dann sollten bei den Menschen die Warnsignale aufleuchten. Sie können nicht die Lösung sein.
Lorenz: Aber oft genug scheinen sie es zu sein. Da atmen die Menschen auf und sagen: Endlich mal jemand, der mir sagt, wo es langgeht, der mir sagt, wie es ist, wie es richtig ist. Ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, ist ja anstrengend.
Wilmer: Die Menschen sehnen sich zunehmend nach Orientierung. Sie sind nicht mehr in der Lage, die Orientierung aus sich selbst heraus zu finden. Die Frage ist: Woher kommt sie? Kommt sie aus der Religion, kommt sie von politisch Verantwortlichen, die eine Werteskala haben und auf Fundamenten ruhen? Oder kommt sie über die Mehrheitsmeinung? Die kann heute so sein, morgen aber auch ganz anders. Inwieweit gibt es stabile Größen, die unantastbar sind, unhinterfragbar? Hier gibt eine Lehre der Bibel, die sich auch bei Etty Hillesum findet, Genesis 1, 27: Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes. Jede und jeder. Ohne Ausnahmen. Egal ob Inländer oder Ausländer, ungeboren oder beeinträchtigt. Es kann nicht sein, dass jene, die intelligenter sind, gesünder, jünger, durchsetzungsfähiger, mehr Wert haben und mehr Rechte. Es kann nicht sein, dass wir Menschen von der Wertigkeit und von der Würde her in Gruppen aufteilen. Alleine dieser Gedanke ist Sünde.
"Antisemitismus ist Sünde. Antisemitismus ist ein Anschlag auf die Würde des Menschen. Antisemitismus zerstört unsere Demokratie."
Lorenz: Vor allem seit den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 und der bis heute andauernden israelischen Antwort darauf wird der Antisemitismus in unserem Land immer weiter angefacht. Und zwar nicht nur von rechts, sondern neuerdings auch von links. Wir erleben Dinge bei uns, die man so nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Wilmer: Was sich im Moment verschiebt, ist die Grenze zwischen Aktivismus und politischer Debatte. Wir brauchen eine politische Debatte, ja. Wir müssen offen und kritisch über alle Themen reden können. Diese Debatten gibt es auch in Israel und in Gaza. Ich war vor gut einem Jahr im Nahen Osten und habe wieder festgestellt, dass die Situation in Israel selbst hochkomplex ist. Mir haben dort Menschen gesagt: Wir sind nicht alle Netanjahu. Und Palästinenser haben mir gesagt, sie seien nicht alle Hamas. Wir brauchen einen Diskurs, um über die Grenzen nachzudenken zwischen einem ideologischen Aktivismus und einer dringend nötigen politischen Debatte. Es kann nicht sein, dass das Licht der politischen Debatte ausgeht und wir nur noch aktivistisch unterwegs ist. Es geht darum, dass wir die Opfer im Blick haben: die Opfer in Israel, die Opfer in Gaza. Es geht darum, dass wir den Menschen im Blick haben. Und nicht eine Ideologie. Ich möchte ganz klar sagen: Antisemitismus ist Sünde. Antisemitismus ist ein Anschlag auf die Würde des Menschen. Antisemitismus zerstört unsere Demokratie.
Lorenz: Unsere Zeit ist auch geprägt von Diffusität, von Fake News, von Provokationen, von einer nebligen Atmosphäre, in der es uns immer schwerer fällt, zu unterscheiden zwischen wahr und falsch, richtig und unrichtig, gut und böse, wesentlich und unwesentlich. Was kann uns helfen bei der buchstäblichen "Unterscheidung der Geister"?
Wilmer: Meine Wahrnehmung ist, dass Menschen angesichts der Komplexität zunehmend verwirrter sind. In dieser unübersichtlichen Welt wissen wir kaum noch, was richtig ist. Wir können als normale Bürger, und dazu gehöre ich auch, Fake News von echten Nachrichten nicht mehr unterscheiden. Ganz schwierig. Was stimmt, was ist falsch, was ist konstruiert? Es gibt den schönen Satz des Jesuiten Karl Rahner, der einmal gesagt hat: Man soll nicht zu früh aufhören zu denken. Mir gefällt der Satz sehr! Wenn ich mir das Wirrwarr anschaue, in dem wir leben, könnte uns mehr Distanz guttun, damit wir vor lauter Bäumen den Wald noch erkennen. Dazu sollten wir uns ein wenig mehr Zeit geben, damit Nachrichten und Argumente überhaupt ankommen können. Ich glaube, das gilt übrigens auch für die Kirche, dass es gut wäre, mehr Fragen zu stellen, als zu schnell mit Antworten zu kommen. Die eigentliche Kunst liegt in der Frage und nicht im Antworten.
Nicht vorschnell urteilen
Lorenz: Man bekommt ja sehr eindrücklich mit, wie sehr Etty Hillesum Sie persönlich nicht nur beschäftigt, sondern auch geprägt hat. Sie sind aber nicht nur die Person Heiner Wilmer, sondern als Bischof von Hildesheim, der in der Deutschen Bischofskonferenz zuständig ist für Gesellschaft und Soziales, auch bedeutender Repräsentant der deutschen katholischen Kirche. Welche Lehren von Etty Hillesum nehmen Sie mit in Ihre Ämter und Funktionen?
Wilmer: In unserer Gesellschaft und in unserer Kirche haben wir es meines Erachtens immer häufiger mit einem Gegeneinander zu tun, mit ausgeprägteren Lagerbildungen als früher. Oft gehen wir sehr schnell davon aus, dass das eine mit dem anderen unvereinbar wäre. Dazu kommt Cancel Culture. Wir schließen uns gegenseitig aus. Das halte ich für einen völlig falschen Weg. Etty Hillesum gelingt es, sogar im unverschämten Gestapo-Mann, von dem sie weiß, wie gefährlich er ihr werden könnte, einen Menschen zu sehen. Sie fragt sich, was diesen Mann wohl dazu getrieben hat, so unbarmherzig aufzutreten. Das finde ich wegweisend, mich beeindruckt das. Wir sollten sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche tiefer schauen, gerade dann, wenn uns eine andere Position abwegig und völlig falsch vorkommt. Manchmal hilft der tiefere Blick auf den anderen Menschen, ein echtes Gespräch zu führen um Positionen nachvollziehen zu können. Was mich bei Etty Hillesum persönlich beeindruckt und stimuliert: bei Urteilen vorsichtig zu sein. Erst einmal stehen lassen, warum Menschen zu bestimmten Haltungen, Einschätzungen, Lebensweisen kommen. Anderen mit mehr Respekt zu begegnen, statt ihnen erstens die Welt zu erklären und ihnen zweitens zu sagen, wie genau sie leben sollen. Wir bräuchten öfter mehr wertschätzende Distanz.
Lorenz: Sie sind Herz-Jesu-Priester. Ihr Ordensgründer Leo Dehon ist bekannt für den Satz "Geht zu den Menschen". Wenn ein Großteil der aktuellen Debatten in Social Media, auf X oder TikTok, stattfinden, müssten dann nicht mehr Bischöfe genau dort zu den Menschen gehen und ihre Stimme erheben?
Wilmer: Ich sage als Antwort ein Ja und ein Aber. Ja, wir Bischöfe sollten uns mehr in den Social-Media-Kanälen bewegen. Ich selbst denke darüber schon länger nach. Jetzt kommt mein Aber: Die Kommunikation, wo auch immer sie stattfindet, muss echt und authentisch sein. Das Medium, das ich nutze, muss zu mir passen. Ich muss es bedienen können, auch zeitlich. Hier gibt es bei Social Media hohe Anforderungen, es braucht eine hohe Frequenz. Und da muss ich entscheiden, was ich hier investieren will und kann, damit die Kommunikation echt ist.
"Im Zentrum des Evangeliums stehen nicht Ethik und Moral, sondern steht Befreiung."
Lorenz: Man hatte ja spätestens mit der Corona-Pandemie das Gefühl, dass die Kirche sich nicht hinreichend zu Wort meldet. Müssten die Kirchen zu aktuellen Themen generell mehr sagen oder müssten sie nur ihre Kanäle anders auswählen?
Wilmer: Zwei Gedanken vorab. Ich bin erstens der Meinung, dass Kirche nicht zu allem etwas sagen muss. Zweitens gibt es inzwischen so viele Organisationen und Global Player, dass die Kirche nur noch eine Anbieterin unter vielen ist, um Sinn zu stiften und Orientierung zu geben. Das war vor einigen Jahrzehnten nicht so. Nur weil Kirche etwas sagt, wird sie deshalb nicht auch gleich gehört. Die Zeiten sind vorbei, in denen zum Beispiel ständig Bischöfe in Talkshows eingeladen wurden. Es ist nicht so, dass sie sich weigern, aber sie werden nicht mehr eingeladen. Grundsätzlich bin ich sehr dafür, dass wir als Kirche klar Position beziehen, dass wir uns als Deutsche Bischofskonferenz mit ernsten Themen befassen, wie zum Beispiel dem Paragraph 218 und dem Schutz des ungeborenen Lebens, dass wir eine klare Position beziehen zum Thema des assistierten Suizids und auch hier die Unverfügbarkeit des Lebens hochhalten, die unantastbare Würde des Menschen und damit das Ebenbild Gottes. Dass wir klar etwas sagen zu Migration, zur Frage von Krieg und Frieden und natürlich wie im letzten Jahr, dass völkischer Nationalismus und Christentum unvereinbar sind. Ich wiederhole noch einmal: Es kann nicht sein, dass öffentlich ein Diskurs geführt wird, in dem gesagt wird: "Deutscher Boden für deutsches Blut" oder "Deutsches Blut auf deutschem Boden". Es kann nicht sein, dass öffentlich darüber nachgedacht wird, dass wir auf 20 bis 30 Prozent der Menschen in Deutschland verzichten könnten und über eine große Deportation nachdenken.
Lorenz: Viele Menschen möchten diese Stimmen und Positionen der Kirche auch hören, vor allem in dieser Zeit der Unsicherheit, in der sie ihren Kompass neu justieren müssen. Was ist denn aktuell die Aufgabenstellung an jeden einzelnen Christen? Inwiefern haben Christen eine besondere Verantwortung: der Achtsamkeit, der Wachsamkeit, des Engagements, des Mutes?
Wilmer: Der Schlüssel für uns Christen liegt darin, die zentrale Botschaft des Evangeliums hochzuhalten. Der Schlüssel liegt darin, in der Spur Jesu zu gehen und immer daran zu denken: Unsere christliche Religion ist eine Religion der Erlösung, nicht der Moral. Im Zentrum des Evangeliums stehen nicht Ethik und Moral, sondern steht Befreiung. Im fünften Kapitel des Matthäus-Evangeliums gibt es diese wunderbare Stelle, die ich liebe und die ich für zentral halte, als Jesus die Jünger versammelt. Das sind ganz unterschiedliche Typen, die zum Teil schrullig daherkommen, irgendwie schwierig und kantig sind, ihn auch verraten werden. Ihnen sagt er keine Wenn-dann-Sätze. Er sagt ihnen nicht, wenn ihr eure Marotten abstellt, wenn ihr weniger über die Stränge schlagt, wenn ihr ein moralisch besseres Leben führt, dann seid ihr wunderbare Menschen und Licht der Welt. Nein, das sagt er ihnen nicht. Er sagt: So wie ihr seid, seid ihr jetzt schon Salz der Erde, ihr seid jetzt schon Licht der Welt.
"Erst über Gott komme ich zu meiner eigentlichen Identität."
Lorenz: Etty Hillesum war ein durch und durch spiritueller Mensch, in inniger Beziehung zu Gott und hat auf die konkreten Schrecken ihrer Zeit, auf den Hass, der ihr entgegengeschlagen ist, mit sehr konkreter Menschenfreundlichkeit und Zugewandtheit geantwortet. Kann es nicht auch sein, dass sie die Menschen heute überfordert?
Wilmer: Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht. Mich fordert Etty Hillesum sehr. Ihr Anspruch an sich selbst, an das Leben ist herausfordernd, vielleicht manchmal auch überfordernd. In ihrem Tagebuch wird aber auch deutlich, dass sie selbst mit sich hadert, dass sie auch hin und wieder ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden scheint. Es kann nicht schaden, sich anspruchsvolle und gleichzeitig realistische Ziele zu setzen und sich wirklich um Menschenfreundlichkeit zu bemühen. Dann gehört aber auch dazu, sich selbst mit Warmherzigkeit zu begegnen, für den Fall, dass man es mal nicht schafft, zugewandt zu sein. Es wird neue Gelegenheiten geben, jeden Tag.
Krieg und Frieden
Lorenz: Eine der aktuell größten Herausforderungen für uns ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der nun seit fast drei Jahren tobt und auch unsere Gesellschaft auseinanderzureißen droht. Wie blicken Sie auf Russland, das vom Gegner erst zum Partner und dann zum Feind geworden ist?
Wilmer: Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine ist Russland zurzeit sehr weit weg. Aber wir haben natürlich historisch eine enge Verbindung und sind immer sehr verzahnt gewesen mit Russland. Russland ist nicht nur dieser Krieg! Ich denke da an meine eigene Familie. Meine Onkel waren während des Zweiten Weltkriegs zum Teil auch in Russland. Später sagten sie oft: Wir lassen nichts auf das russische Volk kommen. Die Menschen waren gut zu uns, so warmherzig, sie haben uns versteckt und zu essen gegeben. Brutal und herzlos war das System, der Apparat. Bei dieser Betrachtung hilft mir wieder Etty Hillesum. Sie schreibt sehr warmherzig über Russland. Sie entwickelt eine große Liebe für dieses wunderbare Land, das sie eines Tages besuchen möchte. In ihren Bildern über Russland geht es um diese Weite, die Größe, die Schönheit, die slawische Wärme. Es ist wohl dem Einfluss ihrer russischen Mutter zu verdanken, dass Etty Hillesum nicht nur Jura studierte, sondern auch Slawistik mit dem Schwerpunkt Russisch. Bis zu ihrer Deportation lernte und lehrte sie Russisch, sie konnte Tolstoi, Dostojewski und Tschechow, im Original lesen. Diese großen Schriftsteller haben Etty Hillesum direkt geprägt. Tolstoi zum Beispiel präsentiert in seinem Klassiker Krieg und Frieden eine völlig andere Geschichtsschreibung. Das ist nicht mehr die Geschichtsschreibung der führenden Köpfe und der Jahreszahlen, sondern persönliche Schicksale werden in den Lauf der Geschichte eingebettet. Tolstoi hinterfragt die gängigen Narrative. Er zeichnet die russischen Generäle nicht als Helden, sondern als Menschen, die sich oft von Zufällen und Irrtümern leiten lassen. Der Fokus liegt auf den normalen Leuten, den Bauern, den Angestellten, den Hausmädchen, den Soldaten. So entzaubert Tolstoi den Mythos der großen Männer.
Lorenz: Unsere aktuellen gesellschaftlichen Konflikte und Krisen entfalten sich auch in einer Zeit der zunehmenden Gottesferne. Gerade in westlichen, säkularen Gesellschaften glauben immer weniger Menschen an Gott und sind überzeugt davon, dass sie Gott nicht bräuchten. Inwiefern besteht hier ein Zusammenhang: Weniger Gott, mehr Spaltung? Weniger Gott, mehr Hass? Weniger Gott, mehr Selbstbezogenheit und Abgrenzung?
Wilmer: Diese Rechnung würde ich nicht aufmachen, denn man kann ja nicht sagen, dass es in Gebieten, die sehr säkular sind, zum Beispiel im Osten Deutschlands oder in den Niederlanden, mehr Hass und Selbstbezogenheit gäbe. Mir ist es wichtig, nicht darauf zu schauen, was den Menschen vielleicht fehlen könnte, sondern darauf, wie wir die gute Botschaft, die uns anvertraut ist, mit den Menschen teilen, weil wir wissen, dass diese Botschaft das Licht im Dunkeln ist. Dies in mehrfacher Hinsicht: Licht als Wärme, Licht als Unterscheidung der Geister und Licht auch als Erkenntnis. Ein Beispiel: Als kurz vor Weihnachten dieser schreckliche Terrorakt auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg geschah, war für die Kirchen sofort klar, am nächsten Tag zu einem Gedenkgottesdienst einzuladen. Als glaubende Menschen können wir in dieser Ohnmacht etwas tun. Wir können da sein, beieinander bleiben, miteinander weinen, trösten. Und wir brauchen die Kirchen auch als Gebäude. Kirchen sind die einzigen Schutzräume, wo wir öffentlich weinen dürfen. Sie sind Schutzräume auch für Wörter, die woanders verpönt sind, wie Barmherzigkeit, Gnade, Güte, Milde. Wir brauchen den herben Geruch der Kirche, das Hereinbrechen des Ewigen, um das Leben als Mensch schöner gestalten zu können.
Lorenz: In der Bilanz am Ende Ihres Buches über Etty Hillesum sagen Sie auch, dass Ihr Blick geschärft wurde für die Frage: Wie geht Gott? Also dann: Wie geht Gott?
Wilmer: Mit Etty Hillesum würde ich sagen: Gott ist da. Gott bleibt bei uns. Gott bleibt bei mir, auch wenn ich ihn nicht sehe. Gott trägt mich, auch wenn er es anders tut, als ich denke. Und Gott ist meine Zukunft oder anders gesagt: Gott ist im Kommen. Zur Unterscheidung helfen die romanischen Sprachen weiter: Gott ist nicht einfach le futur oder il futuro, die Aneinanderreihung von Daten, sondern l’avenir oder l’avvenire. Gott ist "im Kommen", und das ist nicht berechenbar, sondern überraschend. Gott ist die Überraschung des Kommens, die mich größer werden, die mich wachsen, die mich zu mir selbst kommen lässt. Erst über Gott komme ich zu meiner eigentlichen Identität.