Gottes Hilfe habe ich erfahren bis zum heutigen Tag und stehe nun hier und bin sein Zeuge bei Klein und Groß.
(Apostelgeschichte 26,22a)
(Hinweis der Redaktion: Der Autor wählt für seinen Beitrag die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache, in der der Vers so wiedergegeben wird: Weil ich nun bis zum heutigen Tag bei Gott Hilfe fand, stehe ich für Klein und Groß als Zeuge da und sage nichts außer dem, was in den prophetischen Büchern und bei Mose geredet worden ist, dass es geschehen werde.)
Das ist ein Satz aus der Verteidigungsrede, die Paulus vor dem König Agrippa hielt. Schließlich wurde er nach Rom überführt, damit der Kaiser selbst über sein Schicksal entscheiden sollte.
Eine Rede um Kopf und Kragen also, von überlebenswichtiger Bedeutung.
Vergleichbare Situationen kennen wir heute wohl kaum. Wir sind verwöhnt mit Freiheit, verwöhnt zumeist mit gutem Auskommen. Darum hat auch der Ausdruck „stehe ich als Zeuge da“ kaum noch dieselbe Gewalt wie damals zu Paulus’ Zeiten. Vielleicht noch bei Luther vor dem Reichstag in Worms, von dem ja auch der Ausspruch „Hier stehe ich und kann nicht anders“ überliefert ist.
„Für Groß und Klein“, das klingt nach fröhlich lustigem Familiengottesdienst bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher.
Also steckt kaum noch Relevanz für unseren Alltag in diesem Satz aus der Apostelgeschichte?
Der Eindruck ändert sich mit einer geringfügig anderen Übersetzung:
In der Neuen Genfer Übersetzung heißt es, Paulus ist „Zeuge vor den Menschen, den einfachen ebenso wie den hoch gestellten“.
Da bekommt der Satz Brisanz. Zeuge sein vor allen Menschen, Chefin wie Angestellter, Mann wie Frau, Zugereister oder Einheimischer, das bedeutet nichts anderes, als in jeder Lebenssituation das eigene Christsein zu bezeugen. Paulus hat das gemacht. In Briefen, auf Reisen, bei Freundinnen und Freunden und hier vor Gericht.
Und das ist zutiefst lebensrelevant für uns heute. Wir erleben gerade aufgeregte und aufregende Zeiten. Denn noch immer stehen nichts weniger als unsere Demokratie und Frieden auf dem Spiel! Hierzulande, wie in vielen anderen Staaten auch. Reiche Oligarchen maßen sich mehr oder minder unverblümt an, die Entscheidungsgewalt an sich zu reißen oder zu zementieren.
Einer, der eine ähnliche, furchtbar endende Situation erlebt hat, war Pastor Martin Niemöller. In einer Radio Reportage von 1985 wird berichtet, wie er von einem Besuch des Konzentrationslagers Dachau, in dem er selbst interniert war, erzählt. Und das tut er mitreißend. Zwei Zahlen einer Gedenktafel in Dachau haben ihn tief beeindruckt: Die Zahl der knapp 250000 in Dachau Ermordeten und die Jahreszahlen 1933–1945.
Pastor Niemöller war 1937 von den Nazis verhaftet worden und erkennt nun an den Jahreszahlen 1933–1945, dass sein Alibi damit zunichte gemacht ist. 1933 bis 1937 war er ein freier Mann, sagt er, doch er hat geschwiegen zu der Vernichtung demokratischer Strukturen, zur Deportation von Mitmenschen und Nachbarn.
Er formuliert den klaren Satz „Ich habe mich meiner Freiheit begeben, weil ich mich meiner Verantwortung begeben habe.“ Er war nicht mehr „Zeuge vor den Menschen, den einfachen ebenso wie den hoch gestellten“ gewesen. So klagt er sich an.
Und genau da liegt die Bedeutung des Satzes der Monatslosung: Habe ich meine Verantwortung wirklich immer wahrgenommen, die Verantwortung, zu sagen, dass das so nicht geht, zu sagen, Verantwortung zu tragen oder aber die Freiheit aufzugeben?
Zu bezeugen, dass Gott in unserer Welt ist, und zu sagen: Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind – „das habt ihr für mich getan“ (Matthäus 25,40).
Darin liegt die Verantwortung als Christin und Christ – als Mensch!
Genau das bedeutet, Gott zu ehren und zu bezeugen in dieser Welt, nichts anderes. Noch haben wir die Chance, etwas zu sagen, vor Groß und Klein, das meint Paulus, der „bis zum heutigen Tag“ bei Gott Hilfe fand. Das zu tun, ist die Verantwortung, die Niemöller meinte.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen verantwortungsvolle Zeug:innenschaft unter Gottes Segen!