Donald Trump sieht sich in vielen Rollen: Geschäftsmann, großer Staatenlenker, Friedensnobelpreisträger – und scheinbar auch: Papst. Wenige Tage nach dem Tod von Franziskus verbreiteten Social-Media-Accounts des Weißen Hauses ein KI-generiertes Bild des Präsidenten im päpstlichen Habit. Welche Botschaft mit dem Bild gesendet werden sollte und wer es zu verantworten hat – diese Fragen sind bislang unbeantwortet geblieben. In jedem Fall erinnert es daran: In der Regierung Trump II sind – beginnend bei dem Vize-Präsidenten JD Vance – Katholiken stark vertreten, für die sich mit ihrem Glauben ein "postliberales" politisches Programm verbindet. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates ist darin grundsätzlich infrage gestellt.
Wer wissen will, wie die "postliberale" Welt aussehen könnte, kann das bei ihren Vordenkern nachlesen. Ein Österreicher ist darunter: der Zisterzienserpater und Theologe Edmund Waldstein. Akademisch und publizistisch arbeitet er an der Wiederbelebung der integralistischen Tradition, in der die indirekte Weisungsgebundenheit des Staates durch die Katholische Kirche gelehrt wird. Zu Waldsteins Lesern gehören Adrian Vermeule (der zuletzt zu einer Art "Hofjurist" der Trump-Regierung avanciert ist), der Vance-Vertraute Patrick Deneen oder Gladden Pappin, Präsident des ungarischen Institute of International Affairs.
Die Causa Waldstein ist symptomatisch für die Auseinandersetzung mit dem "Postliberalismus" im deutschsprachigen Raum: raunend, personenzentriert und mit dem Verdikt des "Faschismus" rasch bei der Hand.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Waldstein erst jüngst bekannt: In einer Reihe von deutschsprachigen Medienartikeln wird er als Strippenzieher eines "austrofaschistischen", "rechts-christlichen" Netzwerkes identifiziert. Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Innsbruck, an der Waldstein eine Habilitation anstrebt, distanzierte sich daraufhin öffentlich von ihm.
Die Causa Waldstein ist symptomatisch für die Auseinandersetzung mit dem "Postliberalismus" im deutschsprachigen Raum: raunend, personenzentriert und mit dem Verdikt des "Faschismus" rasch bei der Hand. Für diesen Alarmismus aber ist die Lage des Liberalismus dies- und jenseits des Atlantiks zu ernst.
"All the Kingdoms in the World" ist das Buch der Stunde
Auch insofern ein Buch der Stunde ist Kevin Valliers "All the Kingdoms of the World: On Radical Religious Alternatives to Liberalism", erschienen 2023 bei Oxford University Press. Der politische Theoretiker Vallier legt damit eine ausführliche systematische Auseinandersetzung mit dem neo-integralistischen Arm des "Postliberalismus" vor – und zugleich, sina ira et studio, eine kleine Geschichte der jungen Bewegung.
Vallier ist nach eigener Aussage zugleich Liberaler und Christ. Er ist außerdem Philosoph und Feldforscher: Er beschäftigt sich mit dem Integralismus-Revival seit dessen Anfängen in der 2010er-Blog-Landschaft. Er kennt die Protagonisten und ihre Sprache; er hat mit ihnen auf Tagungen und Podien diskutiert und sich mit dem Substack "The Liberal Tortoise" zeitweise selbst als liberale Stimme an der Online-Debatte um die Zukunft des Liberalismus beteiligt. Diese praktische Diskurserfahrung prägt sein Buch: "All the Kingdoms in the World" trägt ein wissenschaftliches Gütesiegel, aber es ist auch eine (oft humorvolle) Argumentationshilfe für Liberale. Vallier schreibt, um die Debatte um die Zukunft der freiheitlichen Welt besser zu machen: klüger, neugieriger, wohlwollender,informierter.
Entsprechend wenig Hintergrundwissen setzt er bei seinen Lesern voraus: Er nimmt sich Zeit, um die kirchengeschichtlichen und theologischen Bezüge zu erläutern, die der Sprache der Neo-Integralisten und der "Postliberalen" zentral sind, und leistet so geduldig Übersetzungs- und Verständnisarbeit. Das erste Drittel seines Buches ist ein Versuch, die Kritik der Neo-Integralisten am Liberalismus und an der Entwicklung der katholischen Kirche, vor allem aber ihre zentralen Argumente für eine integralistische Ordnung nachzuvollziehen.
Vallier nennt sie das "Geschichtsargument" und das "Symmetrieargument": Das erste weist dem Integralismus auf Basis der Ansehung der historischen Praxis der Katholischen Kirche einerseits und der Kirchenlehre andererseits dogmatisch verbindlichen Status zu. Das zweite Argument rechtfertigt die integralistische Kernthese systematisch, indem es unter Bezug auf die katholische Naturrechtslehre die (politische) Untrennbarkeit des weltlich Guten und des göttlichen Heils behauptet.
Weder hat der Neo-Integralismus Antworten darauf, wie sich der Umbau von einer liberalen zu einer integralistischen Ordnung ohne Verletzung dogmatischer Gebote gestalten ließe – noch kann er seine Behauptung plausibel machen, dass in neo-integralistischen Ordnungen Stabilität und Gerechtigkeit gesichert seien.
In einem zweiten Schritt tritt Vallier die Wiederlegung des Neo-Integralismus an. Er sucht dabei den Dialog mit prominenten Figuren der Bewegung – mit Adrian Vermeule, mit Thomas Pink und auch mit dem erwähnten Edmund Waldstein. Gegen sie macht Vallier drei Argumente stark, die unter der Überschrift "Transition", "Stabilität" und "Gerechtigkeit" stehen. Mit der ganzen schematischen Rigorosität, die der analytischen philosophischen Tradition eigen ist, zeigt er auf: Weder hat der Neo-Integralismus Antworten darauf, wie sich der Umbau von einer liberalen zu einer integralistischen Ordnung ohne Verletzung dogmatischer Gebote gestalten ließe – noch kann er seine Behauptung plausibel machen, dass in neo-integralistischen Ordnungen Stabilität und Gerechtigkeit gesichert seien. Anders formuliert: Vallier zeigt, dass der Neo-Integralismus konstitutiv in Widersprüche verwickelt ist und seine eigenen Maßstäbe untergräbt.
Auch die säkularen konservativen Mitstreiter des Neo-Integralismus, die an dessen Versprechen von Stabilität und Ordnung Geschmack finden, dürften hier ins Grübeln kommen: Vallier findet Argument um Argument für seine These, dass integralistische Ordnungen liberalen Ordnungen unterlegen sind, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Frieden zu sichern.
Wie weiter mit dem Integralismus? Ein Kompromissversuch
Vallier bleibt bei der Wiederlegung nicht stehen. Er erkennt das Bedürfnis auf ein Leben in religiösen Gemeinschaften an – und genauso die zweifache "postliberale" Kritik, dass der gelebte Liberalismus seinem Toleranzversprechen zum Trotz disruptiv auf religiöse Gemeinschaften einwirkt und dass die etablierte liberale Theorie mit ihrer Privatisierung von Religion und ihrem säkularen Begriff öffentlicher Vernunft den Boden bereitet hat für die Marginalisierung von Gläubigen. Vallier benennt die Entfremdung des Liberalismus im Allgemeinen und des Links-Liberalismus im Besonderen von der Religion als veritables Problem für den Liberalismus, das es zu lösen gelte.
In Reaktion darauf unterbreitet er den Vorschlag eines "Integralismus im Kleinen" respektive eines "radikal-förderalistischen" Liberalismus. Eine Blaupause dafür findet er in der autonomen Mönchsrepublik Athos: Dort, auf der griechischen Halbinsel Chalkidike, leben rund 2000 orthodoxe Mönche in Selbstverwaltung. Sie unterstehen gleichermaßen einem staatlichen Gouverneur, der durch das griechische Außenministerium weisungsgebunden ist, und dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel. Eine Versammlung der Äbte nimmt legislative und judikative Funktionen wahr. Frauen ist der Zutritt zur Insel verboten.
Valliers Vermittlungsversuch funktioniert mutmaßlich nur gegenüber dem Neo-Integralisten, der gleichermaßen akademisch gesittet und in seinem politischen Treiben genuin durch religiöse Überzeugungen geleitet ist.
Vallier bettet seinen Vermittlungsvorschlag in eine kurze Ideengeschichte des Liberalismus ein. Der erscheint darin als pragmatisch-integrative Kraft. Praktisch wie theoretisch versieht Vallier so eine einflussreiche "postliberale" These mit Fragezeichen: die These von der fanatischen Natur, der konstitutiven Intoleranz des Liberalismus. Vallier entzieht sich dem antagonistischen Modus der Auseinandersetzung, der die Postliberalen belebt – und lässt so systematisch die Luft aus dem Zerrbild, zu dem der Liberalismus durch die Zuschreibungen seiner Gegner geworden ist.
Allerdings: Valliers Vermittlungsversuch funktioniert mutmaßlich nur gegenüber dem Neo-Integralisten, der gleichermaßen akademisch gesittet und in seinem politischen Treiben genuin durch religiöse Überzeugungen geleitet ist. Vallier konstruiert diesen Idealtypus selbst, indem er die methodische Vorentscheidung trifft, die Social-Media-Rhetorik des "postliberalen" Milieus aus seiner Studie auszuklammern. Diese Entscheidung hat ihre Berechtigung und ihren Wert: Es ist eine Entscheidung gegen die polemische Eigenlogik des Social-Media-Diskurses.
Aber: Social Media ist in wachsendem Maße eine zentrale Plattform "postliberaler" Diskursbildung. Hier lässt sich der Puls der Bewegung fühlen. Und seit dem Erscheinen von Valliers Buch 2023 – inzwischen ist ein selbsterklärter "Postliberaler" Vizepräsident der Vereinigten Staaten – schlägt dieser Puls spürbar schneller.
Wer Vance, Deneen, Vermeule oder Pappin im letzten Jahr zugehört hat, muss sich fragen: Hat Valliers Idealtypus im "postliberalen" Milieu überhaupt (noch) Bindungskraft? Oder haben wir es womöglich längst mit einer strategischen Projektion dieses Milieus zu tun: eine Behauptung über die eigene Religiosität, Tugendhaftigkeit, Belesenheit, die von der Wirklichkeit gar nicht gedeckt ist?
Postliberale Radikalisierung
Bei vielen "postliberalen" Vertretern, die zuletzt einflussreich geworden sind, scheint der Bezug auf die katholische Kirche und auf neo-integralistische Argumente primär instrumentell und funktional: Analog zum "Abendland" fungiert die "katholische Kirche" dann als Symbol einer ästhetisch-habituellen Gegenwelt zur Moderne. Über die katholische Kirche haben diese vielfach erst frisch konvertierten "Postliberalen" bei Carl Schmitt gelernt, der sie entsprechend stilisiert hat: als letzte Institution des genuin Politischen (im Schmitt‘schen Sinne), des Autoritätsprinzips, der "Repräsentation von oben".
Bei vielen "postliberalen" Vertretern, die zuletzt einflussreich geworden sind, scheint der Bezug auf die katholische Kirche und auf neo-integralistische Argumente primär instrumentell und funktional: Analog zum "Abendland" fungiert die "katholische Kirche" dann als Symbol einer ästhetisch-habituellen Gegenwelt zur Moderne.
Wer wiederum mit Carl Schmitt den liberalen Gestus der Vermittlung und des Kompromisses immer schon grundsätzlich ablehnt – der wird Valliers ausgestreckte Hand gar nicht erst ergreifen. Damit freilich würde die "postliberale" Gemeinwohl-und-Friedens-Rhetorik sich als bloße Rhetorik entlarven – als strategischer Schachzug, um den liberalen Gegner zu besiegen. Auch das lehrt Carl Schmitt: Es gibt eine "Kontinuität von katholischer Kirche und römischem Imperium". Würde sich der "Postliberalismus", wie er sich derzeit darstellt, mit mönchischen Enklaven abfinden, oder will er das Imperium?
Den liberalen Leser immerhin erinnert Valliers Buch daran: Der Liberalismus ist weder notwendig so intolerant-scheinheilig noch so erschöpft, wie es "Postliberale" beständig behaupten. Praxeologisch betrachtet konkretisiert sich in Valliers prinzipiell wahrhaftig-wohlwollender Auseinandersetzung mit den "postliberalen" Kritikern vielleicht sogar etwas von der verlorenen liberalen Utopie.