Engelke, Ernst / Reinhard, Lea / Reinhard, Michael: Sterben ungeschminkt. Ein Gespräch ohne Tabus über Abschied, Tod und Trauer.
Freiburg: Herder 2025. 176 S. Gb. 22,–.
Medial werden Themen zum assistierten Suizid diskutiert, in der Forschungscommunity Projekte zu Pflegerobotern eingeworben, persönlich erreicht mich die Nachricht eines an Leukämie erkrankten Kindes. Sterben ist komplex.
Dies zeigt sich ebenfalls im offenen, pointierten und ehrlichen Blick, den die Lesenden in diesem Buch auf das Sterben erhalten. Auffallend häufig wird mit Missverständnissen der Gesellschaft aufgeräumt und die nackte Wahrheit – eben ungeschminkt – dargestellt. Engelkes Ausspruch „Ich beschreibe erst einmal eine Situation, um dann meine Antwort davon abzuleiten“ (75) zieht sich wie eine Methode durchs gesamte Werk. Sein über fünf Jahrzehnte gesammeltes Wissen in der Sterbebegleitung bedient Informationslücken tiefgehend. Hinter manchen Kapitelüberschriften verbirgt sich sodann mehr, als zunächst vermutet.
Direkte, nicht ausweichende Antworten und ein ausgewogenes Verhältnis von Verständlichkeit und fachlicher Präzision eröffnen eine breite Leserschaft. Das Interviewformat mit den Journalist:innen Lea und Michael Reinhard bringt eine abwechslungsreiche Lebendigkeit. An einzelnen Stellen wirken die Fragen etwas zu pointiert in ihrer Gegenposition.
Zentral thematisiert werden Kommunikationsformen, gelingende Gesprächsführung, wie z. B. das Fokussierungsmodell, und perspektivreiche Verständigung am Brettspiel des Lebens. Die Sprache der Sterbenden in Metaphern (da bricht der Vulkan aus) ist tiefgründig und oft anders als uns geläufig.
Immer wieder kommen Ambivalenzen zur Sprache. Die Welt „schrumpft auf das Schlafzimmer zusammen“ (31). Gleichzeitig muss Intimität offengelegt werden. Angst ringt mit Hoffnung. Ein „schalldichter Raum der Klage“ wird gefordert, denn Sterben ist selten still und friedlich – entgegen der Erwartungen. Sterbende sind von Einsamkeit betroffen. Engelke plädiert eindringlich dafür, Sterben nicht an professionelle Fachkräfte auszulagern, sondern Verantwortung und tragfähige Beziehungsnetzwerke zu stärken. Der Blick aufs Umfeld ist scharf konturiert: Angehörige, die Co-Patient:innen sind, Ärzt:innen, die um Work-Life-Balance und gute Kommunikationsformen („Sie haben leider Krebs und Sie hoffen, dass ich mich irre“, 126) ringen. Professionelle, die in der Palliativmedizin, als einer „Wissenschaft von der persönlichen Grenze des Menschen“ (127) agieren.
Das Buch entfaltet Sterben nicht reduktionistisch, sondern in seinen vielen Facetten: Trauerphasen, Trauerriten, Suizidprävention und strukturelle Bedingungen gehören ebenso dazu wie die Forderung nach einer grundlegenden Haltungsänderung im Umgang mit Sterben. Die Autor:innen erheben ihren Anspruch: Sie wollen im „Dreigenerationen-Gespräch [ …] Mut fördern, mit anderen Menschen ganz persönlich über Sterben und Trauern zu sprechen“ (171). Dieser Mut wird durch die Fülle an fundierten und konkret formulierten Informationen gestärkt. Durch Konkretion wird das Gesagte verdichtet: der Brief, wenn ein Abschied ausblieb; das Wahrnehmen von Vorboten im eigenen Leben.
Aktuell und diskussionswürdig ist die Frage nach der Rolle von Pflegerobotern. Es bleibt die Hoffnung, dass sie nicht „das Ende einer humanen Pflege und [den] Sieg der Technisierung“ (145) bedeuten, sondern die Menschen ihrer ethischen Verantwortung gerecht werden.
Sterben ungeschminkt ist ein eindrückliches, tiefes Werk, das fachliche Expertise, praktische Weisheit und gesellschaftliche Verantwortung verbindet. Für alle, die beruflich oder persönlich mit Sterben und Trauer befasst sind – und für jene, die darüber ins Gespräch kommen möchten – ist dieses Buch eine bereichernde und ermutigende Lektüre.
Maria Purkarthofer
Lienau, Detlef: Geerdet glauben. Christliche Naturspiritualität.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2025. 232 S. Kt. 25.–.
Mehr als achtzig Prozent der Deutschen geben in Befragungen des Bundesamtes für Naturschutz an, so oft wie möglich in der Natur zu sein und sich dabei glücklich zu fühlen. Gleichzeitig spielt weniger als die Hälfte der sechs- bis dreizehnjährigen Kinder „fast täglich“ draußen, nimmt die Häufigkeit des Wanderns und der Gartenarbeit im Zeitverlauf ab und schreitet die Umweltzerstörung voran. Natur wird zum Idyll stilisiert, während die praktische Entfremdung von ihr zunimmt – auch weil infolge der ökologischen Sensibilisierung die Natur als Pflegefall gilt und man sie deshalb tunlichst nicht betreten solle (16 f.).
Angesichts dieses ambivalenten Naturverhältnisses unternimmt Pfarrer Detlef Lienau, als Forscher, Lehrbeauftragter und Erwachsenenbildner mit Pilgern und Naturspiritualität in Theorie und Praxis langjährig vertraut, den innovativen und, man darf sagen, geglückten Versuch, eine „Praxistheorie christlicher Naturspiritualität“ (12) zu entwickeln. Sie zielt darauf ab, eine christlich inspirierte spirituelle Praxis der Naturwahrnehmung und -begegnung zu erweitern, zu fördern und zu intensivieren und sie aus Einsichten unterschiedlicher Wissenschaften zu orientieren (ebd.).
Dazu geht Lienau in vier Schritten vor: Einführend skizziert er Problemzusammenhänge um Natur, Spiritualität und Religion und den Ertrag von Naturspiritualität (14-46). Dann beantwortet er aus Grundeinsichten zeitgenössischer Schöpfungstheologie Fragen des Gott-Welt-Verhältnisses, die für eine christliche Naturspiritualität von Belang sind (47-102): Wie sind „Schöpfung“, die Rolle des Menschen und die Vollendung der Welt zu verstehen? Ist Gott eins mit, in oder jenseits der Welt? In einem dritten Schritt entfaltet er anhand der Beiträge namhafter Philosophen, Soziologen und Theologinnen (Charles Taylor, Hartmut Rosa, Martin Seel, Gernot Böhme, Angelika Krebs, Albert Schweitzer, Christina aus der Au) geistesgeschichtliche Hintergründe des herrschenden Naturverhältnisses sowie Bedingungen und Spielarten guter Naturbegegnung (103-143).
Der Praxisteil (144-218) enthält zunächst strukturierende Phasenmodelle zum Umgang mit der Natur (z. B. die Scala divini amoris), Orientierungen aus der franziskanischen und benediktinischen Spiritualität und der Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Hilfen zur Einordnung der Vielfalt von Naturerfahrungen, bevor ein reichhaltiges Repertoire umsichtig eingeführter und gut nachvollziehbarer Übungen vorgestellt wird. Sie möchten tiefgreifende Erfahrungen in und mit dem „spirituellen Erfahrungsraum Natur“ (166) ermöglichen, aus denen sich im Zusammenspiel mit Reflexion neue Haltungen ausprägen. Genau dies erachtet Lienau als Beitrag christlicher Naturspiritualität zum „kulturellen Großprojekt“ eines „neuen Mensch-Natur-Verhältnisses“ (13). Eine solche Spiritualität zielt darauf ab, den pfleglichen Umgang mit der Natur, die „Erschließung geerdeter erfahrungsstarker Räume der Gottesbegegnung“ und ein gesundes Selbstverhältnis des Menschen wirksam zu fördern (172). Dafür stellt Lienaus breit aufgestelltes, gründlich reflektiertes und erfahrungsgesättigtes Werk eine gediegene Lernplattform dar.
Michael Hainz SJ
Straßenberger, Grit: Die Denkerin. Hannah Arendt und ihr Jahrhundert.
München: C.H. Beck 2025. 528 S. Gb. 34,–.
Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 mit 69 Jahren in New York an den Folgen eines Herzinfarktes. Aus Anlass ihres 50. Todestages erscheinen in diesem Jahr, wie es Brauch ist im Buchhandel, zahlreiche Bücher über die deutsch-jüdische Philosophin, die gar keine Philosophin, sondern politische Denkerin sein wollte. Sogar der amtierende Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat sich die Zeit für ein Buch über Hannah Arendt genommen, doch nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von dem umfassenden Portrait der Philosophin und ihrer Zeit, das die in Bonn lehrende Politikwissenschafterin Grit Straßenberger vorgelegt hat.
Straßenberger stellt uns Arendt als engagierte Zeitgenossin vor, als streitbare Denkerin und brillante Theoretikerin, als informierte Historikerin und debattenfreudige Polemikerin, die nicht davor zurückschreckt, sich die Hände schmutzig und das Herz schwer zu machen inmitten der dramatischen Turbulenzen ihrer Zeit.
So streitlustig sie mitunter war, so war sie doch, wie Straßenberger auf immer wieder eindrückliche Weise zu zeigen weiß, vor allem ein Mensch in Beziehung, eine Virtuosin der Freundschaft. Nur die denkt, die allein (nicht einsam, sondern für sich) ist, aber nur die lebt, die mit Anderen in der Welt ist: „Freundschaften waren ihr Lebenselixier“, schreibt Straßenberger.
Nichts ist demnach befremdlicher als das, was diese Freundschaftswelt von innen wie von außen bedroht: „das Böse“. Was verführt Menschen, die doch eigentlich zur Freiheit in Freundschaft berufen sind, dazu, Böses zu tun? Denken und Handeln verschränken sich hier, je nachdem auf heil- oder aber auf unheilvolle Weise: Bereitet die Gedankenlosigkeit dem Bösen den Weg? Und ist im Umkehrschluss das Denken ein Mittel, vielleicht das einzige, um dem anschwellenden Bösen zu widerstehen?
Diese offene Frage steht am Ausgang des Lebens und Wirkens der jüdischen Widerständlerin, politischen Intellektuellen (die sie ebenfalls nicht sein wollte), leidenschaftlichen Anwältin freier Selbstbestimmung und Freundin der Menschen, denen wir in Sympathie, Solidarität und Liebe zugetan sind: „Könnte vielleicht das Denken als solches … zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten …, Böses zu tun?“, fragt Straßenberger mit Arendt.
Mir scheint, dass es diese Frage ist, die auch am offenbaren Ausgang unserer Zeit der fraglos gegebenen Demokratie in unserem Land, in Europa und der freien Welt steht: Was hilft gegen das allüberall grassierende Böse und den Verlust der Standards bisher vertrauter Humanität? Was hilft gegen die Erosion der Demokratie und die Bedrohung der offenen Gesellschaft? Was hilft gegen den abnehmenden Glauben an den Menschen, der – so Arendt – doch vor allem geboren ist, auf dass ein Anfang sei: ein immer wieder sich ereignender Anfang in den dunklen Momenten großer Sorge?
Straßenberger gebührt das Verdienst, uns in unserem Stolpern durch die Steinbrüche unserer Zeit eine Denkerin so lebendig an die Seite zu stellen, dass wir auf dem Weg durch ihr Buch und noch dann, wenn wir es zur Seite legen, gewiss sein können: Wir sind nicht allein. Hannah Arendt, die Freundin, lässt uns nicht im Stich – unter einer Voraussetzung allerdings: Wir müssen uns die Zeit zu denken nehmen. Denn ohne eine solche Zeit, die das Unheilskontinuum unterbricht (im Mittel- und Althochdeutschen lautet das Wort für Zeit „zit“ / „zid“, Schnitt), wird es nicht gehen. Wenig deutet darauf hin, dass wir uns diese Zeit nehmen. Und so steht zu befürchten, dass das Unglück seinen Lauf nimmt. Walter Benjamin, der vielleicht vertrauteste aller Freunde Hannah Arendts, schrieb: „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.“
Straßenbergers Portrait, immerhin 528 Seiten stark, ist eine wertvolle Einladung, uns inmitten des rasenden Stillstands unserer Zeit die Zeit zu nehmen, um scheinbar gar nichts zu tun. Nur zu denken.
Peter Neuhaus
Tietz, Christiane: Nietzsche. Leben und Denken im Bann des Christentums.
München: C.H. Beck 2025. 249 S. Gb. 28,–.
Friedrich Nietzsche zählt zu den meistverkauften und wohl auch meistgelesenen Klassikern der Philosophie. An Büchern über Nietzsche herrscht wahrlich kein Mangel. Die Monografie von Christiane Tietz kreist um Nietzsches lebenslange Auseinandersetzung mit dem Christentum. Die Autorin hat bereits eine viel beachtete Biografie Karl Barths vorgelegt. Seit Anfang 2025 wirkt sie als Präsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
In zwölf Kapiteln folgt Tietz den Phasen von Nietzsches Leben und Schaffen. Er kam als Sohn eines protestantischen Pastors zur Welt und wuchs schon früh ohne Vater auf. Nietzsche besuchte das berühmte Internat in Pforta nahe Naumburg an der Saale. Er studierte klassische Philologie in Bonn und Leipzig. Mit gerade einmal 25 Jahren erhielt Nietzsche eine Professur in Basel. Seine ersten Schriften stehen unter dem Einfluss Richard Wagners. Nietzsches Zarathustra erinnert an den Wanderprediger Jesus von Nazareth. In seinen späteren Werken rechnet Nietzsche mit der Moral und dem Sündenbewusstsein des Christentums ab. Während er der Person Jesu durchaus etwas abgewinnen kann, verkündet er den Tod des christlichen Gottes und die Ankunft des Übermenschen. Nietzsche starb umnachtet. Seine letzten Briefe unterzeichnete er wahlweise mit ‚Dionysos‘ und ‚Der Gekreuzigte‘.
Das flüssig geschriebene Buch wartet mit einer Fülle von Zitaten aus Nietzsches Werken und Briefwechseln auf. Der Alternative zwischen Nietzsche als Gottsucher oder Antichrist (so ein Buchtitel Eugen Bisers) entgeht die Autorin dank ihrer salomonischen These, dass „Nietzsche das Christentum als Thema nicht loswurde“ (9). Aus einigen Texten der Kindheit und Schulzeit spricht noch die gängige pietistische Frömmigkeit. Spätestens an der Universität überwiegen die Zweifel gegenüber den Glaubenslehren der Kirche. An die Stelle des ‚Du sollst‘ der christlichen Gebote tritt eine von Schopenhauer beeinflusste Metaphysik des Willens. Nietzsches Interesse an der Philologie zeigt sich in der Beschäftigung des Studenten mit der historischen Bibelkritik und seiner profunden Vertrautheit mit der Bibelübersetzung Martin Luthers, dessen Sprache Nietzsche in Also sprach Zarathustra nachahmt. Berühmt wurden Nietzsches Ausfälle gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe, gegen die Moral des Mitleids und gegen jede Art von Schuldgefühl. Während Jesus in einem beinahe kindlichen Einvernehmen mit sich selbst und mit Gott lebte, machten seine Anhänger daraus die theologischen Lehren von Sünde und Erlösung. Dass die Autorin als Fachtheologin schreibt, merkt man vielleicht am deutlichsten, wenn sie eine Verbindung zwischen dem Verschwinden Gottes aus der modernen Lebenswelt und dem Tod Jesu am Kreuz herstellt (151 f.).
Bei Nietzsche wird aus der göttlichen Vorsehung die Liebe des Menschen zum eigenen Schicksal (amor fati). In seinen letzten Werken, so Tietz, verarbeite Nietzsche das Leiden an der eigenen Erkrankung und Einsamkeit. „Wer am tiefsten leiden kann, ist beinahe der höchste Mensch“ (172). Die Lebenserfahrung des Philosophen steht in eigentümlichem Kontrast zu seiner Lehre vom Übermenschen, der sich mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen abgefunden hat. Ob dahinter einfach die widersprüchliche Persönlichkeit Friedrich Nietzsches steht oder ob die Negativität in Nietzsches Weltanschauung eine wichtigere Rolle spielt, als vielfach angenommen wird, lässt die Autorin offen.
Georg Sans SJ