Aufbruch

„Anglikanische Kirche bekommt mit Sarah Mullally erstmals eine Frau als Oberhaupt“ – diese Eil-Meldung ploppte in der App „DLF Nachrichten“ am 3.10.2025 auf. Dass nicht etwa die erfolgreiche Chefsuche oder die Frage nach der besonderen Qualifikation der Person die eigentliche Botschaft der Nachricht war, sondern das Geschlecht Mullallys, steht außer Frage. Was lässt sich daran ablesen? Ein Zeichen des Niedergangs? Ein Neuaufbruch? Es mag dem liberalen Zeitgeist (auch in dessen kirchlicher Spielart) nicht naheliegen, darin überhaupt einen Niedergang zu vermuten. Warum auch? Ist der Zugang von Frauen zu Spitzenposten in Kirche und Staat, Universitäten und börsennotierten Unternehmen nicht selbstverständlich und in Folge von gleichstellungspolitischen Maßnahmen auf allen Ebenen und in allen Bereichen seit mindestens einem Jahrzehnt längst etabliert? Dazu kurz und knapp: Träfe dies zu, dürfte das Geschlecht eines Amtsträgers als Amtsträgerin schlichtweg keine Meldung mehr wert sein.

Als um die Jahrtausendwende die Forderung nach stärkerer Berücksichtigung von Frauen auf Professuren und Ordinariaten an den Universitäten erste verhaltene Früchte trug – im Jahr 2000 lag der Frauenanteil bei den C4-Professoren immerhin schon (oder doch immer noch nur) bei sieben Prozent, wohingegen die Gruppe der Hochschulabsolventen bereits zu 45 Prozent weiblich war –, waberte allenthalben der polemische Ruf der in all diesen Fällen durchgehend männlichen Unken durch die Institutsgänge dieser Republik, wer als habilitierte Frau ‚bei drei nicht rechtzeitig auf den Bäumen sei‘, könne sicher mit einem Ruf auf eine Professur rechnen. Zugleich werde gerade ein Fach wie die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (ein Fach also, das noch bis in die 1980er-Jahre den intellektuellen Kurs Nachkriegsdeutschlands in Ost und West nicht unmaßgeblich mitbestimmt hatte) für Männer immer unattraktiver, sobald Frauen in die Führungsriegen einzögen. Keine Normalität also, nirgends? ‚Die Frau‘ scherte sich nicht darum; ‚sie‘ ging ihren Weg weiter hinein in die Welt der Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft. Und dennoch zeigen neuere Zahlen, dass selbst den auf Verdrängungsangst beruhenden Unkenrufen nur eine eingeschränkt prognostische Qualität eigen war: ‚Der Professor‘ an bundesdeutschen Universitäten etwa ist nach wie vor (zu mehr als zwei Drittel) eher männlich als weiblich.

In der Kirche sehen die Rahmenbedingungen für ‚Gleichstellung‘ oder ‚Gleichbehandlung‘ bekanntlich anders aus. Gesellschaftliche Bewegungen (und seien sie noch so behäbig) kann, muss und darf sie nicht so ohne Weiteres und schon gar nicht ungefragt übernehmen, auch wenn ihr in vielen Bereichen durchaus mehr Mut und größere Beweglichkeit zu wünschen wäre. Denn gerade die Kirche steht aktuell massiv unter Druck: Einerseits scheint Gott – anders als Martin Walser dies noch 2012 in Eine Rechtfertigung vermutete – hierzulande nicht einmal mehr zu ‚fehlen‘. Andererseits bedroht der zunehmende Mangel an geweihtem Personal mittlerweile sogar ihren eigentlichen Kern, ihr Heiligstes: Raum zu schaffen für die sakramentale Intimität mit dem sonst Unverfügbaren in der Eucharistie. Viel weniger bedeutsame, aber je eigens altehrwürdige kirchliche Institutionen sind ebenfalls betroffen, wenngleich sich auf diesen Ebenen sehr viel leichter Lösungen finden lassen, etwa durch die Berufung von (auch weiblichen) Laien in die mittlere und obere Leitungsebene der deutschen Diözesen. Bei den seit 1865 erscheinenden Stimmen der Zeit stand der Jesuitenorden vor der Frage, wie es angesichts der aktuellen personellen Entwicklungen auch im Orden gelingen kann, die altehrwürdige ‚Marke‘ längerfristig zu sichern, und so entschied man sich dafür, die Stimmen-Redaktion breiter aufzustellen und zu erweitern. Dass also seit März 2025 mit mir, einer Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, die erste Frau ehrenamtlich in der Redaktion mitarbeitet, ist eine Folge der hier nur angedeuteten, nur grob skizzierten Veränderungsprozesse. ‚Das erste Editorial einer Frau‘ – lassen Sie uns gerade das (und zwar unabhängig von meiner Person) mit Freude und Zuversicht als positives Zeichen des Aufbruchs deuten.

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