Erschrecken und Versöhnung

Die Freundschaft zwischen der Kleinen Schwester Geneviève-Josephe, einer Ordensfrau aus der Gemeinschaft der Kleinen Schwestern Jesu, und Papst Franziskus war in kirchlichen Kreisen allgemein bekannt. Die kirchlichen Medien berichteten in den letzten Jahren öfters über die Französin. Papst Franziskus erwähnt sie in seiner Autobiografie. Geneviève lebte zusammen mit einer anderen Kleinen Schwester in einem Wohnwagen in einer Siedlung von Schaustellern in Ostia Lido am Stadtrand von Rom. „Wer ist die Frau, die hier um Franziskus weint?“ (RTL 25.4.2025), fragten nun erstaunt auch die säkularen Medien. Nach dem Tod des Papstes stand die Ordensfrau gegen jedes Protokoll neben dem Sarg und weinte. Niemand vertrieb sie.

Nun hat Kleine Schwester Geneviève-Josephe auf die Frage geantwortet und erzählt, wie es zu der Freundschaft kam (vgl. <petitessoeursdejesus.org/une-amitie-nee-d’une-blessure>). Ihr Bericht weist in die dunkle Zeit der argentinischen Militärjunta zurück. Im Jahr 2005, 22 Jahre nach dem Ende der Diktatur, reiste sie nach Buenos Aires zur Beerdigung ihrer Tante Léonie Duquet, einer französischen Ordensfrau; zusammen mit ihrer Mitschwester war Léonie in den 1960er-Jahren nach Argentinien gegangen, um dort in den Elendsvierteln der Stadt das Leben mit den Armen zu teilen. Die beiden Frauen unterstützten 1977 aktiv die „Mütter der Verschwundenen“, die auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires gegen das Verschwinden Tausender von Zivilisten protestierten. Doch bald waren sie selbst verschwunden. Zum letzten Mal wurden sie in der Hochschule für Mechanik der Marine (ESMA) gesehen, dem wichtigsten Haft- und Folterzentrum der argentinischen Diktatur.

Im Jahre 2005 nun waren die sterblichen Überreste der Tante von Geneviève in der Nähe des Strandes des Rio de la Plata gefunden worden. Ihr Körper war, zu Tode gefoltert, aus einem Flugzeug über dem Atlantik abgeworfen worden. Die Beisetzung von Léonie Duquet fand am 25. September 2005 in der Kirche in Santa Cruz statt. Geneviève war erschüttert von der Trauer und dem Leiden so vieler anwesender Angehöriger von Verschwundenen. Aber besonders schmerzte sie zu begreifen, dass ein Teil der Kirche in Argentinien auf der Seite der Diktatur gestanden hatte. Protest stieg in ihr auf, und ihr fiel auf, dass Vertreter der kirchlichen Hierarchie bei der Begräbnisfeier durch Abwesenheit glänzten. Nicht einmal Kardinal Bergoglio nahm daran teil, nur einige wenige Priester, die mit den Armen lebten.

Als im Oktober 2005 in Rom eine Bischofssynode stattfand, ergriff Geneviève die Gelegenheit, um auf den Skandal der Abwesenheit zu reagieren. Sie schrieb einen Brief an Kardinal Bergoglio und brachte ihn eigenhändig in den Vatikan. Noch am selben Abend rief Bergoglio sie an. Er bedankte sich für das Schreiben und erklärte zu seiner Verteidigung, er habe immerhin die Erlaubnis erteilt, die Toten rund um die Kirchen zu beerdigen. Die Kleine Schwester war nicht zufrieden: „Das reicht doch nicht! Ihre Präsenz hat gefehlt!“

Als Geneviève acht Jahre später, am 13. März 2013 auf dem Petersplatz stand, erschrak sie, als sie Bergoglio auf der Loggia stehen sah. Doch dann passierte etwas Unverhofftes: Bei der Lektüre eines Buches über Léonie Duquet, zu dem Geneviève das Vorwort geschrieben hatte, erinnerte sich Bergoglio, nun Papst Franziskus, an ihren Brief und an das Telefonat. Er lud die Kleinen Schwestern am 20. April 2013 zur Eucharistiefeier in die Casa Santa Marta ein. Es wurde eine herzliche Begegnung. Geneviève beschreibt die Begegnung als Versöhnung. Sie konnte ihm verzeihen. Sie hörte die Ansprachen des neuen Papstes. Seine Worte, dass er sich eine „arme Kirche für die Armen“ wünsche, berührten sie: „Dann ist meine Tante also nicht umsonst gestorben“. Franziskus stattete ihr und der Gemeinschaft der Kleinen Schwestern in Ostia Lido zwei Überraschungsbesuche ab, Geneviève besuchte ihrerseits jeden Mittwoch die Audienz, meist zusammen mit Menschen aus ihrem Lebensumfeld: Schausteller, Prostituierte, Homosexuelle, Transpersonen, Obdachlose. Mehrfach äußerte Franziskus seine Freude und seinen Dank über diese Kontakte.

Der Bericht von Geneviève berührt nicht zuletzt deswegen, weil er mit einer Wunde aus der Zeit der Militärdiktatur beginnt. Er kann vielleicht auch andere Menschen trösten. Schließlich war sie nicht die einzige Person, der es in Hinblick auf die Verstrickungen, Spaltungen und unauflösbaren Missverständnisse in der ganzen Kirche aus der Zeit der Militärdiktatur so ähnlich erging, als Kardinal Bergoglio nach seiner Wahl zum Papst die Loggia betrat. Rückblickend darf man vermuten und hoffen: Mit dieser Wahl begannen vielleicht auch weitere Versöhnungsprozesse für andere, die bis dahin unversöhnt waren mit den Wunden aus dieser Zeit. Und was noch zu versöhnen bleibt, darf man nun der Barmherzigkeit Gottes überlassen.

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