In welchen Lebensphasen stellen Menschen sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens?
Oster: Es kommt darauf an, ob man einen weiten Begriff von „Sinn“ versteht, oder ob man ihn enger fasst. Im weiten Begriff ist die Sinnfrage im Grunde immer relevant. Jeder Mensch will etwas tun, was „Sinn macht“. Die Erfüllung leiblicher, seelischer oder geistiger Bedürfnisse macht Sinn. Wir sind Wesen, die immer auf irgendetwas aus sind. Und selbst wenn wir einmal wirklich unsere Ruhe haben wollen und vermeintlich auf gar nichts aus sind, sind wir eben auf Ruhe aus oder auf Nichtstun. In diesem weiten Begriff ist Sinn also alles, was ein Mensch je für sinnvoll halten könnte.
In einem engeren Begriff geht es wohl darum zu verstehen, was meinem eigenen Leben in einem tieferen Sinn entspricht. Menschen fragen dann: „Wofür bin ich wirklich da?“ Oder: „Ich habe viel erreicht, aber war das jetzt alles?“ Oder sie erleben, dass Genuss, Besitz, Macht, Anerkennung und Sicherheit doch nicht die Erfüllung bringen, die sie erhofft hatten und fragen: „Was erfüllt mich denn dann?“ So ein Fragen zielt eher auf eine objektive Dimension von Sinn. Also auf einen Sinn, der mir voraus ist, der mir aber zugleich gegeben und womöglich auch aufgegeben ist. Ein Sinn, der mein eigenes Leben insgesamt in größere Integration bringt. Das Finden eines Weges, eines Zustandes, einer Tätigkeit, die zugleich mich findet und mir entspricht.
Solche Fragen können bei Menschen in jeder Lebensphase entstehen, aber vermutlich sind Krisenzeiten immer wieder besonders geeignet für das Aufkommen der tieferen Sinnfragen.
Wo begegnen Ihnen junge Menschen, die sich die Sinnfrage stellen?
Oster: Das ist aus meiner Erfahrung kaum zu generalisieren. Aber was ich oft erlebt habe: Junge Menschen, die tiefer fragen, die sich ernsthafter und ehrlicher mit solchen Fragen beschäftigen, sind tatsächlich oft solche, die auch etwas zu tragen haben oder hatten. Krankheit etwa oder Verlust eines geliebten Menschen, oder eine tiefe Erfahrung von Scheitern oder Verlassenwerden. Da bricht oft schon in ganz jungen Jahren das tiefe Fragen nach dem Lebenssinn durch. Natürlich bin ich auch jungen Menschen begegnet, die eine fast natürliche Begabung haben, philosophische oder religiöse Fragen zu stellen. Oder jungen künstlerischen Begabungen, in deren Werken die Sinnfrage aufscheint.
Wie drückt sich die (vielleicht noch gar nicht von ihnen verbalisierte) Sinnsuche bei jungen Menschen aus?
Oster: Ich denke, dass es vor allem die Identitätsfrage ist, die junge Menschen umtreibt: Wer bin ich eigentlich? Und wozu bin ich hier? Diese Fragen sind oft verbunden mit Unsicherheiten und dem Drang zum Vergleichen: Gehöre ich dazu? Bin ich cool genug? Oder hübsch genug? Oder gescheit genug? Hab ich’s drauf? Genüge ich all den Anforderungen? Solche Fragen sind wie von selbst da, aber sie sind natürlich auch gefährlich. Denn sie führen junge Menschen dazu, sich ständig zu vergleichen – und wenn solches Sich-Vergleichen die Hauptquelle für die Antwort auf die Frage wird „Wer bin ich und wozu bin ich?“ – dann wird es gefährlich. Denn dann gibt es zwei Haupttendenzen: „Ich will sein wie die anderen, damit ich dazugehöre.“ Und das geht zu Lasten der je eigenen Einzigartigkeit. Oder aber: „Ich will immer besser sein als die anderen“ – und das kann zu einem eingebildeten, vermessenen Bewusstsein über die eigene Einzigartigkeit führen – und verfehlt dabei geradezu das, was wir in unserem Menschenbild mit Einzigartigkeit meinen.
Welche Antworten kann eine säkulare Gesellschaft jungen Menschen auf die Sinnfrage anbieten?
Oster: Zunächst will ich sagen, dass es gar nicht klar ist, was „säkulare Gesellschaft“ oder „Säkularität“ eigentlich bedeutet. Der Begriff selbst ist umstritten. Aber wenn wir von einem eher vordergründigen Verständnis ausgehen, würde ich sagen: Eine säkulare Gesellschaft befördert die Wahlmöglichkeiten bei der Sinnsuche – und damit zugleich die Eigenverantwortung. Ich kenne junge Menschen, die mitten in einem sehr säkularen Familienumfeld dann auch durch andere von außen den Glauben entdeckt und genau diese Option für sich gezogen haben. Sie sind dann als einzige in ihrer Familie gläubig, haben aber ein gutes Glaubensumfeld gefunden und gehen nun mit einigem Selbstbewusstsein und in tiefer Sinn- und Freiheitserfahrung diesen Weg. Umgekehrt kann ein von vornherein religiös geprägtes Umfeld, das aber nicht mehr in der Lage ist, Antworten auf die großen Fragen junger Menschen zu geben, eher abschrecken – und junge Menschen in alle möglichen Suchbewegungen führen – ohne dass sie dann auch beim Glauben ankommen würden, weil dieser von Grund auf verdächtig erscheint.
Welche Antworten bietet das Evangelium an?
Oster: Wenn ich es stark formulieren darf: Das Evangelium hat in Christus selbst einen Absolutheitsanspruch. Es gibt niemanden sonst, der von sich gesagt hat, dass er Weg, Wahrheit und Leben sei, dass er Licht der Welt sei, dass er die Auferstehung und das Leben sei und größer als der Tempel oder Ähnliches. Es ist dieselbe Person, die die Bereitschaft von ihren Jüngern einfordert, für sie das Leben zu geben oder sie mehr zu lieben als Vater, Mutter, Kinder oder irgendetwas sonst auf der Welt. Jesus ist einzigartig – und zugleich ist er, wenn wir ihn nahe an uns heranlassen, ein Erdbeben, eine Erschütterung, die buchstäblich alles auf den Kopf stellt oder neu ins Herz stellt. Was aber, wenn wir dies tatsächlich erkennen und dann auch annehmen? Dann ist die Erfahrung der Christen durch die Jahrtausende: Ich finde in größeren Frieden, in tieferen Sinn, in mehr Liebesfähigkeit, in stärkeres Vertrauen, in echte Hoffnung. Christus schenkt schon in diesem Leben: den Anfang von Erlösung. Und das gilt für Menschen jeden Alters und auch zu jeder Zeit.
Wann haben Sie selbst sich persönlich am stärksten mit der Sinnfrage auseinandergesetzt?
Oster: Eigentlich seit meiner Jugendzeit. Ich glaube, ich habe etwa als 15-Jähriger angefangen, die ganz großen Fragen zu stellen. Freiheit war immer ein Riesenthema, dann Liebe natürlich und schließlich Wahrheit – verbunden mit Wahrhaftigkeit. Ich glaube, man kann sagen, diese drei Begriffe kulminieren dann in der Sinnfrage. Und für mich ist es natürlich kein Zufall, dass Christus selbst nach dem Johannesevangelium der Logos ist. Wir übersetzen das normalerweise mit „Wort“. Das stimmt natürlich auch, aber die Übersetzung mit „Sinn“ reicht weiter und tiefer. Und natürlich muss ich sagen, dass ich mit diesen großen Fragen nie fertig bin.
Inwiefern haben das Evangelium und die Kirche Sie selbst bei der Sinnsuche unterstützt?
Oster: Ich hatte als Kind und Jugendlicher in der Kirche, vor allem in einer großen Ministrantengruppe, sehr gute Erfahrungen gemacht. Wunderbare Menschen kennengelernt, Gemeinschaft gelernt und erlebt, Glauben tiefer verstanden. Später, nach dem Abitur, waren die Antworten, die ich auf meine Fragen bekam, nicht mehr wirklich befriedigend. Womöglich auch, weil ich ziemlich hedonistisch geworden bin, außerdem ein junger Journalist, der irgendwie wichtig sein wollte, was am Ende aber vor allem aufgeblasene Eitelkeit war. Dann, mit etwa 22 Jahren, habe ich das in mir selbst durchschaut – und mich zunächst von der Medienwelt verabschiedet, weil ich mich darin selbst nicht mehr recht leiden konnte. Ich habe aber meine großen Fragen vertieft wieder aufgegriffen und begonnen, Philosophie zu studieren. Dort habe ich dann einen besonderen Lehrer finden dürfen, der mir später bis zu seinem Tod auch ein väterlicher Freund geworden ist – und vor allem durch ihn habe ich gelernt, den Glauben neu für mich zu buchstabieren und auch existenziell zu vertiefen: Ferdinand Ulrich. Die Erkenntnis, dass Christus selbst der freieste, wahrhaftigste und liebesfähigste Mensch gewesen ist, der je über die Erde gelaufen ist, das habe ich durch die Begegnung mit ihm persönlich und durch seine Philosophie lernen dürfen. Tatsächlich habe ich erlebt, was „Bekehrung“ heißt – und tatsächlich war der Weg des philosophischen Denkens ein sehr wichtiger Aspekt bei dieser Bekehrung.
An welchen Anknüpfungspunkten im Leben junger Menschen kann die Kirche mit ihnen auf Sinnsuche gehen?
Oster: Ich würde wie selbstverständlich die folgenden Fragen anbieten: Was macht dir wirklich Freude? Und zwar Freude, die tiefer liegt, als das, was wir sonst „Spaß“ nennen. Was mache ich gerne einfach um der Sache selbst willen? Wofür würde ich mich wirklich verausgaben? Wofür lohnt es sich, sich wirklich mit ganzem Herzen einzusetzen. Dann kommen natürlich die Beziehungsfragen, die alle Jugendlichen haben: Was ist eigentlich Liebe? Wie kann ich lernen, dem anderen wirklich gut zu sein, ohne ihn einfach nur für mich „haben“ zu wollen? Auch die Frage nach der Freiheit ist eine Frage der Jugend: Was macht wirklich frei? Und wie gehen Freiheit, Bindung und Verantwortung ineinander? Wie hängen sie zusammen? Schließlich die Ästhetik: Was ist wirklich schön? Was zieht mich an? In der Natur, in der Musik, in der Kultur? Welches Menschenherz ist im tiefen Sinn „schön“, eine schöne Seele?
Welche Kompetenzen helfen Christen, junge Menschen bei der Sinnsuche zu begleiten?
Oster: Das aus meiner Sicht Wesentlichste und zugleich Schwierigste ist die recht verstandene „Absichtslosigkeit“ im Umgang mit ihnen. Meine ich wirklich den Jugendlichen um seinetwillen? Oder will ich ihn nicht doch primär „für mich“, für meine Anerkennung, für die Rekrutierung meiner Sache? Ist mein Dienst am Jugendlichen wirklich ein Dienst, der sein Gutes will – und nicht hintergründig nochmal mein eigenes Gut? Das zu fragen und in diese Haltung zu finden, halte ich für überaus wesentlich, aber zugleich ist es überaus herausfordernd! In diesem Sinne brauchen Jugendliche Menschen, die ihnen ehrlich eine freundschaftliche Wegbegleitung anbieten.
Was wäre Ihnen bei der pastoralen Begleitung junger Menschen bei deren Sinnsuche besonders wichtig?
Oster: Im Sinne der letzten Antwort: Sie freizugeben in ihr Eigenes. Kann ich sie so hören, annehmen lernen, dass sie auch mir wirklich Gabe oder Überraschung sein können? Habe ich Freude an ihnen, einfach weil sie Kinder Gottes sind? Und dann aus dieser Haltung heraus: Räume öffnen in Geselligkeit, Gespräch, Feier, Liturgie, in denen sie in sich und in Gemeinschaft wirklich Christus begegnen können. Dazu braucht es für die Begleiter natürlich auch Deutungskompetenz, die Fähigkeit zu unterscheiden und hinzuweisen, wo der Herr in ihrem Leben sich zeigen könnte oder gezeigt hat. Und ihnen dann helfen, in dieser Beziehung zu Christus reifer zu werden.
Was müsste aus Ihrer Sicht bei der pastoralen Begleitung junger Menschen (bei deren Sinnsuche) vermieden werden?
Oster: Der Wunsch zu rekrutieren, der Wunsch, den Jugendlichen an mich zu binden, die Suche und Sucht nach Anerkennung durch die Jugendlichen. All das ist ja in uns auch immer da – aber es darf nie die Oberhand gewinnen und muss in uns immer neu gut angeschaut werden. Unbedingt zu vermeiden ist ein geschlossenes „spirituelles“ oder „psychologisches“ Setting, aus dem junge Menschen dann kaum mehr entkommen können und Opfer von Manipulation werden. Und man hüte sich als Begleiter allzu schnell zu glauben, diesen genannten Gefahren unterliege man nicht. Es braucht immer neu Reflexion, Gebet, Einübung in wirkliche Frei-Gabe, vor allem braucht es Demut.